Götterdämmerung
Cornelius Meister | ||||||
Chor und Orchester der Bayreuther Festspiele | ||||||
Date/Location
Recording Type
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Siegfried | Clay Hilley |
Brünnhilde | Iréne Theorin |
Gunther | Michael Kupfer-Radecky |
Gutrune | Elisabeth Teige |
Alberich | Ólafur Kjartan Sigurðarson |
Hagen | Albert Dohmen |
Waltraute | Christa Mayer |
Woglinde | Lea-Ann Dunbar |
Wellgunde | Stephanie Houtzeel |
Floßhilde | Katie Stevenson |
1. Norn | Okka von der Damerau |
2. Norn | Stéphanie Müther |
3. Norn | Kelly God |
Die Zukunft fällt aus
“Götterdämmerung” unter Regie von Valentin Schwarz: In Bayreuth paarte sich das Wetterleuchten über dem Grünen Hügel mit Buh-Gewittern im Saal. Eindrücke vom letzten “Ring”-Abend.
Sogar das Kind überlebt die „Ring“-Serie nicht. Keine Hoffnung, keine Zukunft, keine brennende Götterburg, kein Rhein, der über die Ufer tritt, nur ein leeres Schwimmbad-Bassin mit einer traurigen Pfütze darin. War ja irgendwie zu erwarten, nachdem schon beim „Rheingold“-Auftakt schnell klar wurde, dass auch die Kinder nichts Neues schaffen, sondern nur die Traumata der Erwachsenen in die nächste Generation weitertragen.
Brünnhilde erwägt angesichts ihres toten Siegfried zwar kurz ein klassisches „Götterdämmerungs“-Autodafé, wuchtet einen Benzinkanister hoch, lässt aber doch davon ab. Bekommt sie ihn nicht aufgeschraubt? Nachdem sie dann auch noch den abgeschlagenen Kopf ihres geliebten Grane – bei Wagner das Walküren-Pferd, bei Regisseur Valentin Schwarz Brünnhildes Hausfreund – aus einer Plastiktüte gezerrt hat, bettet sie sich neben Siegfried auf den Bassinboden. Generalpause, Liebeserlösungsmotiv – und Schluss.
Der Grane-Kopf, mutmaßt ein Kollege beim Verlassen des Festspielhauses, könnte ein Zitat aus dem „Paten“ sein, die Stelle mit dem blutigen Pferdekopf im Bett eines Filmproduzenten, damit dieser den Mafiosi gehorcht. Mafia-Clan-Anspielungen gab’s ja genug in diesem „Ring“.
Währenddessen gehen auf dem Grünen Hügel gleich zwei Unwetter nieder. Draußen blitzt und starkregnet es nach einem besonders schwülen letzten „Ring“-Tag, drinnen im Saal dauert das Buh-Gewitter für das Regieteam noch an. Bald 20 Minuten tobt das Publikum, pfeift, schreit, trampelt, bedenkt nicht nur Regisseur Schwarz, Ausstatter Andrea Cozzi, Kostümbildner Andy Besuch, Dramaturg Konrad Kuhn und noch einige mehr mit (wie so oft in Bayreuth) erschreckend unflätigem Furor, sondern buht auch einzelne Sänger aus, etwa Iréne Theorin als Brünnhilde.
Dirigent Cornelius Meister erntet gemischte Reaktionen, während die Bravo-Rufe vor allem den Nebenrollen gelten, Christa Mayer als Waltraute (sie war schon als Fricka fabelhaft), Albert Dohmen als Hagen und Elisabeth Teige als Gutrune.
Dabei hatte der 33-jährige Valentin Schwarz die eigene Glücklosigkeit als Bayreuth-Debütant womöglich sogar auf der Bühne thematisiert. Das Kind fällt nämlich tot um, nachdem ihm eine der blutroten Wotans-Masken gereicht worden war, eben jene flügelhelm-bewehrte Göttermaske, die das Programmbuchcover ziert und aus der Uraufführungszeit stammen soll, wie mein freundlicher Sitznachbar weiß. “Zurück vom Ring”: Hagens letzter Warnruf vor dem Weltuntergang, ein Menetekel auch für Schwarz?
Stephen Gould fiel aus, den Siegfried sang Clay Hilley
Apropos glücklos: Nachdem Cornelius Meister zwei Wochen vor dem „Ring“-Start für den erkrankten Pietari Inkinen eingesprungen war, nachdem mehrere Wotan-Sänger abgesagt hatten und Tomasz Konieczny im letzten Akt der „Walküre“ nach einem Sesselsturz von Michael Kupfer-Radecky ersetzt werden musste (der am Freitag einen kurzweiligen Gunther auf Koks gab), fiel heuer auch noch der als Konditionswunder gefeierte Stephen Gould als „Götterdämmerungs“-Siegfried aus. Krankheitsbedingt. Noch vor gut einer Woche hatte er den „Tristan“ gesungen, war am Mittwoch auf dem Hügel open air aufgetreten und steht für Montag als „Tannhäuser“ auf dem Bayreuth-Spielplan.
Für Gould übernahm der amerikanische Tenor Clay Hilley, der zuletzt in Stephan Herheims „Ring“-Version an der Deutschen Oper Berlin zu hören war. Man habe ihn einen Tag zuvor im Urlaub auf Bari erreicht, teilt Pressesprecher Hubertus Herrmann vor Beginn der Vorstellung mit, es sei noch intensiv mit ihm geprobt worden.
CHRISTIANE PEITZ | 06.08.2022
Achtung: Betreten auf eigene Gefahr! – In Bayreuth schließt sich der neue Nibelungen Ring mit der „Götterdämmerung“
Es war ziemlich klar, dass die Zuschauer im Festspielhaus an die eh schon lange „Götterdämmerung“ am Ende des neuen Rings noch einen vierten Aufzug dranhängen würden. Das hat hier Tradition. Höflicher Applaus wäre ein Fehlschlag. Ein Unisono-Bravo wahrscheinlich auch. Eigentlich ist Pro und Contra das Angemessene, wenn ein Ring als Herausforderung funktioniert soll. Da der Vierteiler immer nur komplett vergeben wird, kommt man in den Pausen zwischen den 16 Stunden Wagner auch ins Gespräch. Über weite Teile von Valentin Schwarz’ Interpretation als Familiensaga im Kurzserienformat ließ sich also trefflich streiten, vor allem rätseln.
Wer mit wem wie blutsverwandt ist zum Beispiel. Bei den hinzugefügten (gar nicht so) lieben Kleinen, kommt man da noch am ehesten voran. Wer kein eigenes Kind hat, entführt eins – so wie Alberich einen Jungen einfach vor den Augen der Kindermädchen (Rheingold) vom Pool weg entführte und zu Klein-Hagen machte. Weil der als Person zugleich auch den Ring selbst vertrat, landet er als Heranwachsender am Krankenlager von Alt-Fafner (Siegfried). Und schließlich alt und grimmig, in Gestalt von Albert Dohmen solide singend aber eher beiläufig als diabolisch spielend, in der „Götterdämmerung“.
Dass die Kinder der Anspruch oder die Hoffnung auf Macht und Zukunft sind, ist eine der Ideen von Schwarz. Die trägt über weite Strecken. Dass Siegfried etwa nicht wie sonst in der Pause zwischen „Walküre“ und „Siegfried“ geboren wird, sondern Brünnhilde den Kleinen schon in eine Decke gehüllt vor ihrem (hier möglicherweise sogar seinem) Vater Wotan in Sicherheit gebracht wurde, daran erinnert diese Decke, von der sich Brünnhilde offenbar nicht trennen konnte. Sie hat sie noch, als sie längst mit Siegfried eine Kleinfamilie mit Kind (!) hat. Nostalgisch, wie sie ist, hat sie auch Wotans Hut an der Garderobe hängen. Ist das daneben nicht auch Fafners Schal? Brünnhilde ist im ersten Aufzug der „Götterdämmerung“ ganz eine treusorgende Hausfrau und Mutter. Da sie und Siegfried in den alten Jugendzimmern von Siegmund und Sieglinde hausen, scheint die Walhall-Pyramide immer noch nicht fertig zu sein, ansonsten hätten sie wohl einen Seitenflügel bekommen.
So jedenfalls verabschiedet sich Siegfried mit gepackten Koffern, mit dem guten, sichtlich gealterten Geist des Hauses, Herrn Grane (Igor Schwab) an seiner Seite, von seiner etwas pikierten Gattin auf Dienstreise. Oder so etwas in der Art. Brünnhilde bleibt im wallenden rosa Gewand zurück und bis zum Schluss bei dieser Kleiderordnung. Der Trick mit Siegfrieds und Brünnhildes Sprößling (Vererbungstechnisch ist es nochmal gut gegangen, der Junge ist prächtig und helle) erlaubt es, die lange Nornenszene als Alptraum des Sohnemannes an den Kleinen zu adressieren. Okka von der Damerau, Stéphanie Müther und Kelly God sind zwar in ihrer silberglitzernden Kostümphantastik nicht zu erkennen, aber gut und vernehmlich zu hören.
Der Besuch ihrer besorgten Schwester Waltraute (das kommt davon, wenn man das Fenster offen lässt) endet im Fiasko. Christa Meyer ist das Entsetzen über das Kind ins Gesicht geschrieben – als Walküre war man hier zwar selbst mal im Kindergarten, man hat aber keine, da man mit sich selbst genug hat, wie spätestens seit der Episode in der Schönheitsklinik „Walkürenritt“ jeder weiß. Die sorgenvollen Berichte Waltrautes aus der Chefetage erreichen Brünnhilde nicht, da kann die Schwester erzählen, was sie will, Brünnhilde deckt lieber den Jungen zu. Sie hat ihre eigenen Prioritäten und schmeißt die nörgelnde Schwester am Ende achtkantig raus. Da Schwarz und Ausstatter Andrea Cozzi ihr ganz eigenes Leitmotivsystem entwickelt haben, findet sich auch das dazu benutzte Spießgerät Nothung an der Garderobe unter Wotanshut und Fafners Schal.
Wenn die Wohnung von Siegfried und Brünnhilde gen Schnürboden entschwebt, landen wir im Schick-micky-Luxus von Gunther und Gutrune. Die beziehen offenbar gerade eins der besseren Appartements im imaginären Anwesen. Elisabeth Teige ist eine aufregend verpackte, potentielle Heldenbraut und vokal eine leuchtend verführerische Gutrune. Ihr Bruder Gunther ist ein langhaariger, aufgedrehter, feminin angehauchter Schnösel mit einem T-Shirt mit der Aufschrift „Who the fuck is Grane“. Michael Kupfer-Radecky liefert auch als Gunther, was er schon als Einspringer-Wotan im dritten Akt der „Walküre“ in Aussicht stellte: einen mustergültige Textverständlichkeit, wie sie leider nicht die Norm in diesem Ring ist. Wenn Siegfried und Gunther ins Appartement von Brünnhilde und Siegfried zurückkehren (bzw. das noch einmal einschwebt) wird es, wie zu erwarten, zum Ort einer Vergewaltigung in Anwesenheit des Sohnes.
Im zweiten Aufzug trifft Alberich (wieder präzise: Olafur Sigurdarson) Hagen beim ziemlich müden Boxtraining in einer leeren Halle. Der Auftritt seiner herbeigerufenen Mannen macht zwar nicht nur in der vokalen Wucht, sondern auch optisch einiges her (Chor: Eberhard Friedrich). Aus dem Nebel mit roten Masken tauchen sie auf wie einer schwarzen Messe. Aber es ist ein Bruch in der Ästhetik. Wenn die angeschleppte Brünnhilde bemerkt, was los ist, und Hagen mit seinem Racheschwur kommt, läuft das Ganze recht konventionell ab. Iréne Theorin gelingen dabei einige beachtliche Brünnhilde-Ausbrüche, sie bleibt aber vor allem bei einem vokalisierenden Gleiten auf dem Ton und ist nur selten mal wortfetzenverständlich. Die massiven Buhs für sie darf man trotzdem übertrieben finden.
Der dritte Aufzug – nun ja. Der Pool ist doch viel tiefer, als man im Rheingold dachte. Ohne Wasser nimmt er jetzt einen Großteil der Bühne ein. Eine Öffnung an der Seite ist so groß, dass die leicht angetrunkenen Rheintöchter (Lea-ann Dunbar, Stephanie Houtzeel und Katie Stevenson) locker dadurch entkommen können. Siegfried und sein Sohn angeln hier, als säßen sie nicht am Boden des Beckens, sondern an einem Ufer. Sie haben eine Kühlbock für Getränke dabei. Eine Leiter führt hinab – Gunther schmeißt seine Plastiktüte ab und verschwindet wieder nach oben an der Bauzaun. Dass Granes Kopf in der Tüte war, ahnte man. Grane abzuschlachten, war eine sadistische Grausamkeit Hagens nebenbei, wirkt aber dennoch belanglos in Szene gesetzt. So wie der Mord an Siegfried und auch Brünnhildes finaler Auftritt. Sie singt in der Schlussszene tatsächlich den Kopf an als wäre sie Salome und ihr Pferd der Prophet. Das begründet zwar, dass sie sich – offenbar im Wahn – mit dem Kopf neben den toten Siegfried legt und ihm irgendwas erklärt was sie am Himmel sieht. Aber als Staffelfinale ist das dann doch – auf für die Fans der Serie – nicht wirklich überzeugend. Auch nicht das Versinken des Rundhorizonts vor den Neonröhren und die Einblendung der Embryos aus dem Rheingold-Vorspiel, die jetzt aber nicht aufeinander losgehen, sondern sich umarmen. Soll das heißen, dass alles eine Sache des Erbgutes, also vorbestimmt ist?
Das alles passt nicht wirklich zu einer über weite Strecken gelungenen Story über einen ziemlich verkorksten Familienclan. Zur Auflösung – ob nun mit oder ohne Feuer in der Pyramide – hätte man sich schon noch mal einen Blick auf Wotan gewünscht. Bei seinem beherzten Umgang mit dem Personaltableau (und dessen möglichen oder alternativen Entwicklungen) hätte Schwarz die Chance gehabt, für einen letzten Blick in das Walhall, das wir nur in Waltrautes Version kennen. Wenn schon die Geburt Siegfrieds auf die Szene geholt wird, warum nicht auch das Ende des Clanchefs und seines (hier) Bruders Alberich? Dass Siegfrieds erfundener Sohn am Pool tot zusammenbricht, während vom realen Wotan und seiner Sippschaft nichts zu sehen ist, wenn sie (musikalisch) in Flammen aufgehen, wirkt da ein wenig wie Angst vor der eigenen Erfindungscourage …
Schade, dass nun ausgerechnet dem Schluß sozusagen auf dem Trockenen eines abgelassenen Pools die Luft ausgegangen ist. Über weite Strecken hat es gleichwohl funktioniert. Das Ringpersonal und den Ring selbst so anders, zwischen rätselhaft und nachvollziehbar, zu sehen, wie Schwarz und sein Team es versucht haben, war dennoch spannend.
Den so entschlossenen Buh-Enthusiasten muss man ihr Recht lassen (zumal sie während der Vorstellung ruhig geblieben sind), aber ihnen doch auch die Entstehungs- und Rahmenbedingungen eines Rings im dritten Coronajahr in Erinnerung rufen. Besonders die Unmutsbekundungen für Cornelius Meister, der kurzfristig am Pult eingesprungen ist, darf man schon als ungerecht empfinden. Er hatte die besondere Akustik des Hauses im Griff und die Sänger im Blick, bot gerade in den reinen Orchesterpassagen packendes, steuerte hochrespektabel durch die vier Teile. Dass nicht nur Stephen Gould, sondern auch der als Cover vorgesehene Anderes Schager als Siegfried ausfielen ist wirklich Pech – der Vorteil von Bayreuth ist aber, dass der in Berlin im Herheim-Ring gefeierte junge Amerikaner Clay Hilley in seinem Urlaubsort in Italien kurzfristig erreichbar war und quasi im Schlusssprung eingesprungen ist. Da sind die leichten Abstimmungsirritationen mit dem Graben am Anfang geschenkt. Er nutzte seine Chance, seine metallisch helle, kraftvoll strahlende Stimme in den Dienst der Sache zu stellen. Bewundernswert war diese professionelle Flexibilität allemal. Und zum Glück sah das auch das kritische Publikum so und honorierte seinen Mut angemessen.
In der Haut von Valentin Schwarz und seiner tapfer vor den Vorhang ziehenden Mitstreiter mochte man nicht gesteckt haben.
Joachim Lange | 06.08.2022
Das Ende, nüchtern betrachtet
Man hat sich auseinandergelebt. Wenn Siegfried im Vorspiel zur Götterdämmerung “zu neuen Taten” aufbrechen möchte, dann wohl in erster Linie, um dem öden Eheleben zu entfliehen. Brünnhilde und er sind offenbar in trauter Zweisamkeit häuslich geworden, leben in den aus der Walküre noch vertrauten Kinderzimmern von Siegmund und Sieglinde, haben ein Kind bekommen und ins schulpflichtige Alter gebracht. Jetzt geht man sich auf die Nerven, und da ist eine Trennung auf Zeit vielleicht ein probates Mittel in der Beziehungskrise. Wagnerianer wissen natürlich, dass das kein gutes Ende finden wird. Siegfried wirft sich prompt der erstbesten Frau an den Hals, der er begegnet – der mondänen Gutrune – und verhökert Brünnhilde an den feschen Gunther. Dessen Begleiter Hagen müsste Siegfried eigentlich noch aus dem vorigen Opernabend kennen, schließlich haben sich die beiden jungen Männer dort im Hause Fafners kennengelernt und gemeinsam Mime gemeuchelt, was eigentlich verbinden sollte. Tut es nicht, jedenfalls deutet nichts in der Regie darauf hin, dass man sich erinnert. Dabei ist Hagen doch auf Rache aus (hat der Dramaturg im Einführungsvortrag erklärt), weil er bei der Eroberung Brünnhildes nicht mitmachen durfte. Es bleibt in der Regie von Valentin Schwarz allzu vieles unklar und unbestimmt.
Symbole (gerade solche, die durch Requisiten vergegenständlicht werden wie Ring, Speer oder Tarnhelm), ändern im Ring ja häufig ihre Bedeutung (oder sind gar nicht konkret übersetzbar), darauf hat Dramaturg Konrad Kuhn wieder und wieder hingewiesen, weil es entscheidende Auswirkung auf die Inszenierung hat. Vor allem der Ring, um den sich alles dreht, ist ein seltsames Objekt: Obwohl er die Weltherrschaft verspricht, kann er seine wechselnden Besitzer nicht schützen. Schwarz hat ihn im Rheingold umgedeutet in ein Kind, den Jungen im gelben T-Shirt, der sich später als Hagen entpuppte. Ein Kind, das wegen seiner besonderen Fähigkeiten gefürchtet war, dachten wir (schon Fasolt und Fafner erbaten sich im Rheingold genau dieses Kind und kein anderes), aber das ging schon am Ende des Siegfried nicht wirklich auf. Die Regie transformiert hier den Symbolgehalt: Die Idee “Ring gleich Kind” bleibt zwar erhalten, geht jetzt aber auf Siegfrieds und Brünnhildes gemeinsames Kind über. Der floskelhaft (in den Einführungsvorträgen natürlich) vorgetragene Gedanke “wir nehmen unsere Kinder in Geiselhaft” zieht sich als roter Faden durch diesen Ring, allerdings nicht allzu prägnant – gleichwohl wird dem zunehmend genervten Publikum erhebliche Flexibilität im Symboldeuten abgefordert. Wenn jetzt, warum auch immer, alle hinter Siegfrieds Nachwuchs her sind, wird immerhin klar, warum sich Brünnhilde gegenüber Schwester Waltraute (einmal mehr großartig: Christa Mayer) so entschlossen der Herausgabe des “Rings” widersetzt – eine Mutter wird nicht so schnell ihr Kind höheren Ideen opfern. (Überleben wird es den Abend trotzdem nicht.)
Die nicht allzu homogen singenden Nornen (satt im Klang: Okka von der Damerau; angestrengt: Stéphanie Müther und Kelly God) sind Spukgestalten, die dem Kind wie ein Albtraum erscheinen, was die (inhaltlich eigentlich überflüssige Szene) ganz gelungen ausdeutet. Siegfried reist ja bekanntlich mit Brünnhildes Ross Grane, und das ist in diesem Ring ein Mann, Brünnhildes Beschützer. Der wird bei den Gibichungen mit dem angeblichen Vergessenstrank ausgeschaltet und erfährt ein unschönes Ende unter dem Schlachtermesser. Michael Kupfer-Radecky ist ein toll singender, irrsinnig aufgedrehter Gunther, Elisabeth Teige eine etwas ungenau fokussierende, großformatige Gutrune im giftgrünen Hosenanzug, und Albert Dohmen ein stimmlich nicht “schwarzer”, aber ungemein zupackender Hagen – offenbar ein Großwildjäger-Trio, dessen bislang spektakulärster Jagderfolg, glaubt man dem stolz präsentierten Gemälde, ein Zebra war. Der zweite Aufzug im wohltuend entrümpelten Ambiente gerät dem Regisseur geradezu konventionell, dabei ein wenig langweilig. Die Masken, die die Mannen vor sich hertragen, sollen wohl die Hauptfiguren im Gewand der Uraufführung 1876 zeigen, erfährt man: richtig, in der Einführung. Da rät Dramaturg Konrad Kuhn auch, sich die Fernsehaufzeichnung anzuschauen, in den Großaufnahmen sehe man das besser. Ein Ratschlag, der vielleicht manchen, der einen vierstelligen Betrag für Ring-Tickets gezahlt hat, irritiert zurücklässt.
Im letzten Akt schließt sich der Ring zumindest optisch, denn wir kehren zurück zu dem Swimming Pool des Rheingolds, wo das Drama seinen Anfang nahm, nur sieht man das inzwischen leere und überraschend tiefe Becken nun im Querschnitt. Vertrocknete Landschaft in der Ferne. Siegfried und Kind angeln in einer Pfütze am Beckengrund und lassen sich von den im Stile der Walküren-Riege gealterten, aber immer noch sehr schön singenden Rheintöchtern (Lea-ann Dunbar, Stephanie Houtzeel, Katie Stevenson) nicht weiter stören. Aus nicht weiter ersichtlichen Gründen liegt ein gefüllter Benzinkanister herum, mit dem Brünnhilde den Weltenbrand andeuten kann, der dann aber ausbleibt. Stattdessen gibt es eine nüchterne Installation aus weißen Neonröhren im Hintergrund. Und ganz zum Schluss ein Video, das Gegenstück zum Video am Beginn des Rheingolds, wo man zwei sich bekämpfende Föten sah, Alberich und Wotan. Jetzt umschlingen die beiden sich brüderlich-friedlich. Und so lautet die große Botschaft dieses neuen, lang erwarteten Ring des Nibelungen: Habt euch lieb. So schlicht kann ein mehrtägiges Bühnenfestspiel enden.
Das Festspielorchester blieb mit ein paar holprigen Einsätzen eine Spur unter dem eigentlichen Leistungsvermögen, und die musikalische Ausgestaltung unter dem Dirigat von Cornelius Meister erreicht nicht die im Siegfried gehörte Intensität und Stringenz. Meister achtet wie in allen Ring-Teilen sorgfältig darauf, den Sängern den Vortritt zu lassen (und “rettet” umsichtig bei Irrtümern). Er verzichtet auf das große Pathos, dirigiert beweglich und fließend, arbeitet mit schnell wechselnden Klangfarben. Die ganz große Spannung etwa am Ende des ersten Aufzugs oder in den Chören und der “Speereid”-Szene” des zweiten Aufzugs wollte sich nicht einstellen, wie auch dem szenisch nüchternen Weltuntergang ein eher solides als wirklich berührendes akustisches Panorama entgegengestellt wird. Alles in allem keine schlechte, aber auch keine ganz große Interpretation. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass Meister diese von vielen Ausfällen und Umbesetzungen überschattete Produktion ja extrem kurzfristig und daher mit geringer Probenzeit von Pietari Inkinen übernommen und ein unter schwierigen Umständen mehr als achtbares, ja: in der Summe beeindruckendes Resultat erzielt hat. Musikalisch ist dieser Ring trotz aller Widrigkeiten ein Erfolg.
Schwieriger ist das Urteil über die (nach der Götterdämmerung geradezu gehässig niedergebrüllte) szenische Seite. Das Regieteam um Valentin Schwarz erzählt die Geschichte neu, mit einigen entscheidenden Modifikationen, woran man sich aus puristischer Werktreue-Sicht stören mag, aber auch einräumen sollte, dass Schwarz damit eine Reihe von heiklen Punkten in Wagners Dramaturgie angeht, und dessen “Kinder, schafft Neues!”-Verdikt legitimiert sowieso manchen Eingriff. Letztendlich bleibt allerdings eher nicht der Eindruck, dass Schwarz überzeugendere oder auch nur in der Zielsetzung grundsätzlich andere Wege gefunden hätte. Gesehen hat man einen Lebensstil, der hemmungslos auf Kosten unserer Kinder geht (die allerdings selbst sehr schnell zu wenig sympathischen Erwachsenen werden), aber das wird als Leitidee zu wenig greifbar. Harry Kupfer hat in seinem Bayreuther Ring von 1988 ein Schlussbild gefunden, dass ganz ähnliche Gedanken ungleich suggestiver zum Ausdruck brachte: Dort suchten zwei Kinder mit Taschenlampen ihren Weg durch die von der Partygesellschaft verwüstete Welt, und das war ein theatralischer Moment mit Nachwirkung, wie man ihn sich bei Schwarz vergeblich wünscht. Auch die anfänglich aufblitzende “Netflix-Dramaturgie” mit einer vermeintlich zeitgemäßen Erzähltechnik verwässert mehr und mehr und entwickelt sich nicht zum tragfähigen Inszenierungsmuster – auch, weil Schwarz eben viele wichtige Elemente gar nicht oder zu ungenau auf der Bühne zeigt, sich dabei in einer Kleinteiligkeit verliert (wie auch die Bühnenbilder von Andrea Cozzi), die nur von den ersten Reihen aus erkennbar ist. Um ein Kammerspiel im riesigen Festspielhaus zu zeigen, fehlt es dann doch entschieden an handwerklicher Souveränität. Dadurch erschließt sich vieles nur über die Einführungsvorträge des Dramaturgen Konrad Kuhn (die ausschließlich digital angeboten werden) oder zumindest über die “Ring-Erzählung” von Valentin Schwarz, eine modifizierte Inhaltsangabe, die in diesem Jahr absurderweise auch nur digital verfügbar ist (weil man vorab nicht zu viel verraten wollte und die Texte deshalb scheibchenweise immer erst am Tage der Aufführung veröffentlichte?).
Immerhin: Langweilig ist es fast nie, auch wenn die Personenregie keineswegs besonders ausgefeilt daherkommt. Es gibt viel zu sehen (oder zu erahnen), zu deuten und umzudeuten, was eher zu schlüssigen Einzelszenen führt als zu sinnstiftenden Großzusammenhängen – was auf Dauer auch recht nervig ist. In Erinnerung bleibt Wotans Abschied am Schluss der Walküre, der leider keine szenisch konsequente Fortsetzung im Siegfried findet, wo der Wotan-Wanderer doch eher an den Rheingold-Geschäftsmann anknüpft als an den Aussteiger. Aber sonst? Schwarz verzichtet auf Götter und Helden, auf Speere und (oft) Schwerter, auf Mythologie und Geschichtsbewusstsein. Sein historisch heimatloses Personal erscheint dabei nicht allzu interessant. Vielleicht ist das die wesentliche, zeitgemäße Botschaft: Uns wird (als Spiegelbild, darf man unterstellen) eine Gesellschaft von üblen Schurken vorgehalten. Und anders als bei Wagner haben die nicht einmal Größe.
FAZIT
Mit ein paar Abstrichen eine musikalisch gute Aufführung, wie sich dieser Ring überhaupt vor allem hören lassen kann. Szenisch setzt die Götterdämmerung die Schwächen der oft allzu kompliziert gedachten vorangegangenen Teile fort und kann gelungene Episoden nicht überzeugend zu einem bühnenwirksamen Ganzen zusammensetzen.
Stefan Schmöe | Premiere im Festspielhaus Bayreuth am 5. August 2022
A production by Valentin Schwarz (premiere)
Clay Hilley replaces Stephen Gould as Siegfried.
This recording is part of a complete Ring cycle.