Der fliegende Holländer

Marc Albrecht
Chor und Orchester der Bayreuther Festspiele
Date/Location
25 July 2003
Festspielhaus Bayreuth
Recording Type
  live  studio
  live compilation  live and studio
Cast
DalandJaakko Ryhänen
SentaAdrienne Dugger
ErikEndrik Wottrich
MaryUta Priew
Der Steuermann DalandsTomislav Mužek
Der HolländerJohn Tomlinson
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Reviews
Online Musik Magazin

Erlösungsverweigerung als Methode

Von Ralf-Jochen Ehresmann

Schon die Ouvertüre nimmt die Lösung vorweg: keine Erlösung. Unerlöst fühlte sich denn auch – wenngleich auch anders motiviert – ein Teil des Publikums, kaum dass die Wagnergardine schräg verschwunden war: “Nicht schon wieder ein Treppenhaus, das hatten wir doch neulich erst!” So raunte es wortlos durch die 30 langen Reihen, denen noch gar nicht aufgegangen sein konnte, welche zauberhaften Aufhebungen des Raum-Zeit-Bezuges diese “Dispositionsparallaxe” frei nach Herbert Rosendorfer noch entfalten würde. Vergrößerung Der Fliegende Holländer, 1. Akt “Seid außer Sorg! Schlaft ruhig, Kapitän!”

Denn dass es ganz so einfach nicht wäre, konnte denen bereits vorab bewusst sein, die sich durch die traditionelle Radioübertragung der Eröffnungspremiere am 25.Juli eines jeden Jahres auf das diesjährige Festspielgeschehen einstimmen wollten. Gerade, wem die Besetzungsliste nicht vorlag, dürfte gestutzt haben angesichts der weitreichenden Identität im Klangcharakter der beiden männlichen Hauptdarsteller, Daland und Holländer. Bereits dort bedurfte es guter Textkenntnis, um überhaupt zu wissen, wer von den beiden momentan singt. Wer nun das Glück besaß, diese Ohrenfreude im Bühnenbild des Festspielhauses spiegeln zu können, machte die erstaunliche Entdeckung, dass sich derselbe Vorgang wiederholte, hier allerdings gesteigert um das Moment der optischen Austauschbarkeit. Zwei Männer verkörpern grundgegensätzliche Prinzipien der Weltanschauung: Daland die unkritische Bejahung der Existenz und die unverhohlene Suche nach maximaler Vorteilsnahme auch zulasten anderer Leidtragender; der Holländer hingegen unerträglichen Leidensdruck, Verachtung des Bestehenden, Weltflucht und Erlösungssehnsucht. Indem Claus Guth diese Gestalten ineins setzt, zum reziproken Abbild ihrer selbst formt, vollstreckt er auf anderer neuer Ebene das unhintergehbare Erbe Harry Kupfers, der mit seiner Inszenierung von 1980 Wagners frühestes Musikdrama mustergültig repsychologisiert und die ganze Handlung als eine Fiktion in Sentas kranker Seele gezeigt hatte. Folgerichtig blieb schon hier für das Erlösungsfinale kein Raum mehr, was seitdem sicherlich als guter Standard gelten darf, wie sich in neueren Inszenierungen verlässlich zeigt, wenngleich Wagner nicht Wagner wäre, wenn die Katastrophe nicht variierbar und dennoch immer wieder neu authentisch gestaltbar wäre, was erst kürzlich Meisters Urenkelin Katharina Wagner in Würzburg bewiesen hat (OMM-Rezension: Der Fliegende Holländer in Würzburg. Das hinderte freilich die unbeirrbaren Vertreter der Märchenfinalefraktion nicht daran, hier wie dort ihren Unmut durch laute Buhrufe kundzutun. Wir halten’s da lieber mit Kothner: “Der Kunst droht’ allweil’ Fall und Schmach, läuft sie der Gunst des Volkes nach!” Dort nämlich scheint unbekannt zu sein, dass Richard Wagner selbst beide Finalvarianten vorgelegt hat, die eine also ebenso authentisch ist wie die andere, der Erlösungsschluss allerdings knapp 20 Jahre jünger!

War für Harry Kupfer die ganze Handlung ein innerer Vorgang Sentas, die ganze Holländererscheinung, soweit sie über das Wandbild hinausgeht, nur ihre Fiktion und ihr finaler Sprung ins Wasser demnach ein Selbstmord aus ungeklärter Ursache, so zeigt Claus Guth die Schizophrenie unbewältigter Kindheit am Bilde einer jungen Frau, die gefangen in der internen Klapsmühle mit der Realität des Erwachsenseins so wenig zurecht kommt, dass sie permanent jene Märchen heraufbeschwört, zu deren heutigem Protagonisten sie den väterlichen Erzähler von einst umphantasiert. Erlösung aus dieser virtuellen Verdoppelung ihrer selbst wie der Bezugsperson und auch des schräg gespiegelten Raumes findet demnach nur dadurch statt, dass ein Diabolus ex machina in der Klimax des Alptraumes die multiple Projektion beendet, das Mädchen durch Höllenfahrt entführt und den Märchenopa zuboden streckt: Für die Protagonistin ohne Option zur Selbstersäufung verbleibt damit nur die imaginäre Gummizelle. Vergrößerung Der Fliegende Holländer, 2. Akt Variation zum ‘doppelten Lottchen’: “Seemann ist er, gleich mir” – und oben gleich unten.

Die in diesem Konzept enthaltenen Ideen wurden bravourös umgesetzt. Die Choreographie der Figuren und ihr mal paralleles, mal reziprokes Wechselspiel sind dabei nur 1 Element des Gelingens, zu dem der schrägaxial gespiegelte Raum ebenso mit beitrug wie auch die Fülle der Lichteffekte oder punktgenau stürzenden Möbel.

John Tomlinson als Titelheld , wofern man hier von Held sprechen kann, war fast eine Spur zu gewichtig für die Partie. Gerade seine einzigartige Auskostung der Vorhalte spannte den Bogen des noch Opernhaften in diesem Werk bis zum Äußersten, ließ das Zukunftsweisende überdeutlich hervortreten und manövrierte damit ihn selbst an den Rand dessen, wo hinter manchem überhauchigen Raunen die Absturzgefahr des nicht mehr tragenden Abgrundes aufblitzte. Seine perfekte Diktion schon im einleitenden Monolog ließ die ewige Vernichtung als Erlösungsidee authentisch erscheinen. Überhaupt ließen Betonung und Akzent auch eine Beherrschung sprachlichen Witzes erkennen, wie sie nur selten – außer bei guten Loge-Darstellern – anzutreffen ist. Die erstaunliche Kongruenz in Körperfigur, Klangfarbe und Gesamtgestalt mit Jaakko Ryhänen als Darsteller des Daland bezeugt die Sorgfalt in der Auswahl der Mitwirkenden. Deren tadellose Choreographie mit teilweise analogen, teilweise reziproken Handlungs- und Bewegungsmustern legte beredtes Zeugnis ab von der Gründlichkeit der Details und ihrer Einstudierung und sorgte neben manchem Gag auch für enervierende Großbilder, die auch über den Tag hinaus in der Erinnerung bleiben werden.

Steuermann Tomislav Muzek gestaltete sowohl seine Arie wie auch die kurzen Passagen drumherum in auffallend und dabei gut passender Weise extrem lyrisch bis an die Grenzen des Belcanto, derweil Uta Priew (Mary) zwischen solchen Schwergewichten beinahe aufgerieben wurde, was nun genau nicht daran lag, dass sie schlecht gesungen hätte, wenn ihr nichts weiter vorzuwerfen ist, als dass sie die Einzelsilben bisweilen etwas zu sehr abgesetzt hat. Hervorzuheben ihre unnachahmliche Art, am Krückstock und obendrein halb erblindet durch den Saal zu schleichen – und dabei doch im rechten Moment wieder zur Stelle zu sein. Ähnlich bei Erik: seiner Ausführung nach am weitesten der Oper als Form verhaftet, weidet Namensvetter Endrik Wottrich die Lyrismen seines Parts weidlich aus, setzt dabei aber auffällig und durchaus nicht unpassend auf Weinerlichkeit als Stilmittel. Den ihm sonst ebenso gut liegenden Hochglanz scheint er sich eher für den Froh im Rheingold reserviert zu haben… Vergrößerung Der Fliegende Holländer, 3. Akt makabre Erlösung: Die Religion frisst ihre Kinder.

Adrienne Dugger, heuer als Senta erstmalig in Bayreuth, klang wie sie spielte gar nicht mädchenartig, fast zu reif. Erkennbar ganz nach innen gerichtet, nicht auf Effekt bedacht, ist sie in ihren Dialogen nur uneigentlich bei der Sache, und wie für sie die Welt nur ein Rollenspiel ihrer Vorstellung abgibt, ist ihr jeweiliges Gegenüber für sie kaum real vorhanden. Das hindert sie freilich nicht, als Darstellerin voll präsent zu sein und so auch die – zum Glück nur seltenen – Tempowechsel von Marc Albrecht astrein zu übernehmen und damit in Sachen Akkuratesse die Siegerliste anzuführen.

1A auch wieder die Chöre mit jener verlässlichen Vorhersehbarkeit, die jeden Propheten arbeitslos machen würde. Erreichen die Männer eine Stimmgewalt, die selbst dann noch beeindruckt, wenn sie nur durch hinten geöffnete Flügeltüren hereinschallen, so meistert der Chor der Spinnerinnen jene Klippe musikalischer Komik, dass ihr Lachen ernstlich wie echtes Gelächter klingt – und nicht wie peinlich-unlustiger Haha-Gesang. Noch eine relative Unschärfe etwa in der Erwartung der Heimkehrer (“Sie sind daheim”), wo sie nicht ganz zusammen sind, wirkt sehr treibend und verbreitet damit genau jene treibende Unruhe, um deren Ausdruck es hier geht.

FAZIT

Unbestreitbar ein ganz großer Wurf, der es rechtfertigt, im Bestellbogen 2004-2007 ein Kreuz beim “Fliegenden Holländer” einzutragen, sofern man in dieser Zeit mit Zuteilung rechnen darf, auch wenn man anderweitig viel mehr Stunden Wagner erzielen könnte!
(Rez. Aufführung 4. August 2003)

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Senta hinter den Spiegeln

Von Eleonore Büning

27. Juli 2003 Das Deprimierendste an den Bayreuther Festspielen des letzten Vierteljahrhunderts waren die unfrohen Produktionen Wolfgang Wagners und ihr ritualisiertes Recycling. Die gute Nachricht: Nie wieder. Erstmals steht in diesem Sommer keine Chef-Inszenierung mehr auf dem Programm. Der symmetrisch sortierte Faltenwurf der Festwiese, das puffbeleuchtete Gralsglimmen – alles Fundus, fertig, abgespielt.

Ja, der dreiundachtzigjährige Prinzipal beteuerte mehrfach öffentlich, er werde in alle Ewigkeit die Finger vom Regieführen lassen, weil jetzt die Jugend an der Reihe sei – wobei man sich schon mal als krönenden Abschluß in der Riege mehr oder weniger junger Wilder (nach Schlingensief mit “Parsifal” 2004, Marthaler mit “Tristan” 2005 und von Trier mit dem “Ring”, 2006) die schöne, junge, forsche Wolfgang-Wagner-Tochter Katharina vorstellen sollte. Prognose: “Lohengrin” 2007. Das Stück bereitet sie gerade für die Ungarische Staatsoper in Budapest vor. Womit natürlich nebenbei auch endlich die heuer erstaunlich lau heruntergespielte “Erbfolge”-Frage geklärt wäre.
Um Gerüchten aus dem Weg zu gehen, ließ sich die Thronfolgerin auf der Pressekonferenz gar nicht erst blicken. Dabei sind die Gerüchte oft das Beste, weil Produktivste an Bayreuth. Das Zweitbeste sind die Einflüsterungen der Eingeborenen. Da die Stadt auf Monate im voraus an den Festvorbereitungen der arbeitgebenden Wagner-Werkstatt partizipiert, kennt jeder irgend jemanden, der jemanden kennt, der schon einen Zipfel von der neuesten Produktion gesehen hat. Hält man sich ein paar Tage länger auf, lernt man garantiert das Mädchen kennen, das vorletztes Jahr vom Drachen fiel. Kommt man frisch an zur Eröffnung, fällt man laufend Menschen in die Hände, die schon Bescheid wissen.

Kein Schiff wird kommen

Eine “tolle Treppe” habe der neue “Fliegende Holländer”, erklärt die Aushilfe im Biergarten, nur leider keine Pause und kein Meer. Der Tankwart ist traurig: kein Schiff werde kommen. Dabei zeigt der “Nordbayerische Kurier”, den er verkauft, auf Seite 19 im Vorabdruck einen veritablen Viermaster mit holländermäßig blutroten Segeln; auch besagte Treppe ist abkonterfeit, vollgestopft mit Chordamen in Frau-Antje-Trachtenhäubchen dergestalt, daß man sich eigentlich schon wieder alt, müde und sehr satt fühlt, wenn man das Festspielhaus betritt und angesichts der geballten Redundanzen am liebsten ein Nickerchen an der Schulter des Nachbarn halten möchte. Aber dann wird es dunkel, die Wagner-Gardine bleibt vorläufig geschlossen, und von irgendwoher spielt eine eilige, durch nichts mehr aufzuhaltende Musik.

Auftrumpfend scharf

Die Musik ist eine dynamische Zeitkunst. Sie läßt sich nicht einfangen durch schlechte Standfotos – noch viel weniger durch dürre Worte. Erst tönt dünn das Holländermotiv, molto marcato. Schnell und offenbar klein besetzt, aber dennoch volltönend eilt das schreckliche Meeresbrausen vorbei und kehrt zurück. Perfekt abgemischt die Horn-, Englischhorn- und Fagottklänge im durchsichtig glühenden Erlösungschoral; und der Klarinettentriller, der in die Steuermann-Ballade überleitet und für gewöhnlich untergeht, ist diesmal von einer boshaft-teuflischen Aufdringlichkeit, so wie es sein soll; tänzerisch elegant akzentuiert, zugleich scharf auftrumpfend, swingt die Ballade selbst. Kurzum: Marc Albrecht, Jahrgang 1964, setzt bei seinem ersten Bayreuth-Dirigat alles auf eine Karte.
Der Preis dafür ist zu verkraften: Kommt es anfangs in der Ouvertüre noch vor, daß ihm ein Horn entgleist, und laufen ihm zu Beginn des ersten Aktes noch ein- oder zweimal die Sänger davon, so hat Albrecht das Orchester alsbald im Griff und hält bei von ihm selbst vorgelegter Unbedingtheit der dynamisch-agogischen Zeitgestaltung doch die Zügel fest und sicher. Musiziert wird ein “Holländer” – in der kruden Erstfassung von 1841/42 -, dessen Widersprüchlichkeit lange nicht mehr so offen zutage trat und zugleich so dicht verfugt, noch in den aufeinanderprallenden Antagonismen so logisch erschien. Nachdem das Vorspiel wie ein schöner Spuk vorbeigaloppierte: verdutztes Schweigen. Dann hebt sich die Gardine, und sofort ist auch szenisch alles zum Greifen nah: das Meer, der Sturm, die Obsession.

Das Böse bleibt draußen

Ein kleiner Bewegungschor aus weißgekleideten Matrosen stemmt sich, gruppenweise mit den eignen Körpern Gischt und Welle formend, gegen hohe Gründerzeit-Türen. Mit Erfolg: Der Sturm beruhigt sich, das Böse bleibt vorläufig noch “da draußen”. Während der Rest des Chores vorderhand im Graben bleibt und “hier drinnen”, im Villen-Vestibül der Kaufmannsfamilie Daland mit der sich frei nach oben durch den Raum schwingenden Endlos-Treppe, eine etwa achtjährige Klein-Senta im Matrosenkleidchen erst mit einem Segelschiffchen und danach mit Holländerpüppchen spielt.
Das Kind, mit Schleife im Haar und selbstverständlicher Unschuld bewaffnet, wundert sich wie Lewis Carrolls “Alice hinter den Spiegeln” kein bißchen, wenn Puppen lebendig werden und Möbel umstürzen. Der hohe Raum ist von der Art, wie sie im untergegangenen Hause Usher üblich war oder von Mary Wollstonecraft-Shelley beschrieben worden ist: Hier fallen Bilder von der Wand, spiegeln sich fremde Schatten in den Fenstern, könnten jederzeit tote Tanten oder Gouvernanten auf der blutrot mit Samt verhängten Galerie erscheinen. Und die imposante Treppe ist von jener Südstaaten-Sorte, auf der jeden Augenblick Bette Davies irren Blicks auftauchen mag, der Lockvogelmelodie “Hush-hush, sweet Charlotte” nachlaufend.

Überwältigte Jungfer

Regisseur Claus Guth, Jahrgang 1964, und Ausstatter Christian Schmidt, Jahrgang 1966, haben kurzerhand die deutsche, romantische Gespenstergeschichte zu einem britischen “Seapiece” umgeschrieben. Statt des ewig über die Weltmeere fliegenden, markig-nervigen Holländerkapitäns, der seine süße, blondbezopfte Holländerfrau vorsichtshalber nicht der Untreue überführen und mit ins gottlästerliche Verderben ziehen möchte, zeigen sie einen hinter langem Brahmsbart versteckten älteren Zausel, der durch Wände gehen kann, sowie eine in Kindheitserinnerungen schwelgende, vom Vaterkomplex schier überwältigte Jungfer. Spiegelverkehrt stapelt sich im Leben dieser sitzengebliebenen Senta Traum über Wirklichkeit: Oberhalb der Treppe führen die Türen ins Nichts.
Wie ein Spiegelbild ihres Vaters tritt ihr der Liebhaber entgegen, und mitunter hat sie es sogar mit beiden Graubärten zugleich zu tun. Diese Rechnung geht auf.Aller Peinlichkeiten, die der Senta-Rolle sonst eignen, ist das Stück für diesmal enthoben: Blutjunge Blondmädels (Silja) haben für gewöhnlich nicht Kern und Volumen für die Partie, den dramatischen Sopranen indes mangelt es in der Regel an der zarten Erscheinung. Bayreuths neue Senta, die amerikanische Sopranistin Adrienne Dugger, bringt für ihr Debüt beides mit: enorme Stimmkraft und steifleinene Glaubwürdigkeit wie auch Inbrunst, die die ihr zugedachte Rolle abverlangt.

Gruselkomik

Auch John Tomlinson paßt als Holländer perfekt ins Konzept der gothic novel. Die Choreographie in seinem Duett mit dem Singspiel-Kapitän Daland (Jaakko Ryhänen), der exakt denselben marineblauen Zweireiher trägt, entbehrt nicht einer gewissen Gruselkomik. Und wann immer recht rauh Nord- oder Ostsee gefragt sind im Orchester, wird das Paisley-Muster der Wohnzimmertapete mit mächtigen Unterwasser-Videos überblendet, in denen es schäumt oder blubbert. Egal, wie viele Schiffe stranden, durch alle drei Akte hindurch bleibt das Bühnenbild stets dasselbe: ein Treppenhaus der Durchgangsmöglichkeiten. Nur die Schatten wachsen an der Wand, und die Gespenster vermehren sich, lassen Türen auffliegen, führen hölzerne Maskentänzchen auf und nehmen im dritten Akt vollends überhand.

Knochenmann kopfüber

An dem musikdramatischen Höhepunkt, da Matrosenchöre und Holländerchor ineinanderrasseln müßten, kippt der Gruselkrimi naturgemäß um in eine banale Geisterbahngroteske: Denn nichts kann noch schrecklicher sein als der Schrecken selbst. Aus dem Schnürboden senkt sich kopfüber ein Riesenknochenmann im kapitänsblauen Zweireiher, taucht die Skelettfinger tief in die Versenkung und zieht Alice-Bette-Senta mit sich in die Höhe. Very british wirkt auch das den Erlösungsschluß verweigernde Finale: Statt erwartungsgemäß von der Treppe zu springen, folgt Senta ihrem Holländer einfach durch die Wand – um sich frustriert wiederzufinden vor blanker, undurchdringlicher Mauer.
Eine Bruchlandung, die in der Seele weh tut. Es gibt viele Bilder dieser Art in der neuen “Holländer”-Produktion, die etwas Archetypisches an sich haben. Man muß nicht mit jedem Detail einverstanden sein. Aber niemand wird bestreiten können, daß die Werkstatt Bayreuth mit dieser Regiearbeit endlich wieder Anschluß gefunden hat an das Reflexionsniveau der Wagner-Exegese in den deutschen Stadttheatern und anderswo auf der Welt. Wenn es überhaupt etwas zu meckern gibt, dann an der Sängerbesetzung: Es wurde am Premierenabend chronisch zu hoch (Senta) oder zu tief (Daland und Mary) oder zu schwerbeladen vibratoverunziert (Holländer und Steuermann) gesungen. Einzige Ausnahme: Endrik Wottrich in der Rolle des Erik. Zu Recht erntete er am Ende eine Extraportion Jubel.
Auch das Festspielorchester zeigte sich auf der Bühne, um den Applaus persönlich abzuholen: in leichter, bunter Sommerware, hellen Hemdchen, kurzen Hosen, wie sie im überhitzten Graben des Festspielhauses beim unsichtbaren Orchester seit je gang und gäbe sind, grüßten sie mit ihren Instrumenten in der Hand freundlich hinüber ins Publikum. Auch das hat es bislang bei einer Festivaleröffnung nicht gegeben. Wenn die Rituale der Kleiderordnung so selbstverständlich aufgehoben werden, ohne daß noch ein Hahn danach kräht, dann ist die Revolution, auf die alle warten, vielleicht schon gewesen.

Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 27.07.2003, Nr. 30 / Seite 19

Die Zeit

Ärger mit Möbeln

Von Claus Spahn | © DIE ZEIT 31.07.2003 Nr.32

Neu in Bayreuth: “Der Fliegende Holländer” als Hausgespenst

Jetzt ist Wolfgang Wagner, der greise Chef der Bayreuther Festspiele, wieder richtig bei Laune. Man kann es ihm auf der Pressekonferenz nach der Eröffnungspremiere förmlich ansehen: wie die fränkische Brust sich wieder selbstbewusst bläht und der Unterkiefer fröhlich schlackert, wenn er in polternden Satzbrocken über die „Revolutionäre“ spricht, die er nun an den Grünen Hügel verpflichtet hat. Schlingensief, Marthaler und der Filmemacher Lars von Trier als Regisseure für die nächsten drei Jahre unter Vertrag zu haben – das ist der Besetzungscoup, der beweisen soll, welcher künstlerische Wagemut nach wie vor in dem Alten steckt und dass er ästhetisch sehr wohl noch auf der Höhe der Zeit ist. Bis in die Versprecher hinein ist diese neue Lust am Aufbruch zu spüren: Hartnäckig sagt er „76“, wenn er vom Ring des Jahres 2006 erzählt, denn 1976 war das Jahr, in dem der „Jahrhundert“- Ring von Patrice Chéreau das Festspielhaus erschütterte. Und als er gefragt wird, ob denn die diesjährige Inszenierung seiner Meinung nach werktreu sei, erwidert er ganz unwagnerianisch: „Das hängt davon ab, welche Art von Werktreue Sie meinen.“ Wolfgang Wagner und die Bayreuther Festspiele, so scheint es, sind in der Operngegenwart angekommen.

Einstürzende Stehlampen

Oder ist der plötzliche Wandel doch nur eine taktische Volte, um die notorischen Kritiker ruhig zu stellen? Schätzt er das Theater des Christoph Schlingensief wirklich? Hat er überhaupt schon mal ein Stück von ihm gesehen? Er lese ja viel, sagt Wagner, und schaue Fernsehen. Also hat er nichts gesehen? „Stimmt nicht!“, ruft da schrill seine Gattin Gudrun durch den Pressekonferenzsaal, und Wolfgang fügt entschuldigend hinzu, seine Frau könne sich die Dinge besser merken, er selbst vergesse manches einfach zu schnell. Und was überzeugt ihn nun an Schlingensiefs Kunst? „Warum soll ein Mann, der es versteht, lächerliche Dinge noch lächerlicher zu machen, nicht auch etwas Ernstes wie den Parsifal sehr ernst machen. Warten Sie es ab.“ Ende der Erklärungen. So werden bei den bedeutendsten Festspielen der Welt die künstlerischen Entscheidungen begründet.

Wenn Christoph Schlingensief der böse Bube unter den kommenden Festspielregisseuren ist, dann ist der 39-jährige Claus Guth, der in diesem Jahr als Auftakt zur alterswilden Bayreuth-Revolution den Fliegenden Holländer auf die Bühne gebracht hat, der begabte Streber mit dem guten Inszenierungsgeschmack. Nahezu geräuschlos hat er sich bis zu den größten Häusern emporgearbeitet mit solidem Musiktheaterhandwerk, psychoanalytischen Deutungsstrategien und einer doppelbödig changierenden, oft durch Filmkommentare angereicherten Bildsprache, die er mit seinem ständigen Ausstattungspartner Christian Schmidt entwickelt. Natürlich wissen die beiden, dass der Fliegende Holländer als naiv-dämonisches Seefahrermärchen längst auserzählt ist. Sie haben deshalb die Geschichten aus der Schauer-und Gruselromantik von Edgar Allan Poe bis E.T.A. Hoffmann genau gelesen, die Wagner auf dem Nachttisch liegen hatte, als die Stückidee in ihm keimte, und sie haben den latenten Traumcharakter des Werks nach vorn gerückt (der arme Richard wurde von Albträumen zeit seines Leben gequält). In Dalands Haus fallen wie von Geisterhand bewegt die Stehlampen und Ohrensessel um, und der Holländer geht durch Zimmerwände.

Wenn sich der Vorhang in Bayreuth hebt nach einer Ouvertüre, in der der Dirigent Marc Albrecht Wagners Orchestrierungsgischt mächtig hochspritzen lässt, blicken wir auf ein großbürgerliches Treppenhaus mit hohen Türen und einem großzügig geschwungenen Aufgang in die obere Etage. Man sieht dem Raum das gelebte Leben an. So viel Anbiederung an den Bühnenbildzeitgeist muss offenbar sein: Die Tapeten sind altmodisch gemustert, die Heizkörper vergilbt, abgehängte Bilder haben hässliche helle Flächen hinterlassen. Hinter dem dunkelroten schweren Samtvorhang, der beim musikalischen Erscheinen des Holländerschiffs nach oben fährt, entdeckt man die gleiche Raumflucht mit den Türen und Heizkörpern noch einmal – spiegelverkehrt steht sie real-surreal auf dem Kopf.

Es gibt noch mehr spukhafte Verwirrungen mithilfe von Filmprojektionen: Die Teppichmuster fangen an zu wandern, der Raum spaltet sich vielfältig auf, und wütende Brandung schäumt an den Wänden hoch. Es ist die kleine Senta im Matrosenkleidchen, die das alles imaginiert. Gleich im ersten Bild sieht man sie verträumt mit einem Spielzeugsegelboot am Geländer spielen, später sitzt sie im großen Ohrensessel und liest im Märchenbuch. Der Holländer ist ihre große Angst-Lust-Fantasie. Er gleicht in seiner blauen Kapitänsuniform und dem Seebärbart bis aufs Haar ihrem Vater Daland und singt mit ihm sogar ein gespenstisches Duett der Doppelgänger.

Guth und Schmidt aber haben nicht nur die alte Bayreuther Idee von Harry Kupfer aufgegriffen, die Oper als Sentas Traum ablaufen zu lassen, sie wollten mehr: Auch Daland träumt. Auch für ihn ist der Holländer parallel zu seiner Tochter eine Projektion – das Ich, das sich nach Erlösung aus der bürgerlichen Existenz durch das weibliche Geschlecht sehnt. Sogar Sentas Bräutigam Erik halluziniert. Wenn er sein Ein Traum ist’s singt, läuft bedrohlich ein schwarzer Schatten die Wand an der Treppe hinab. Vielleicht sind das doch ein bisschen zu viel ineinander geblendete Wahnvorstellungen. Die Inszenierung droht sich zu verlieren im Spiel mit Doppelgängerbegegnungen, zugehaltenen und voll Verwunderung wieder geöffneten Augen, jähen Lichtaufblendungen und Unterwasseransichten, bei denen Luftblasen bedeutungsraunend (aus den Tiefen des Unterbewusstseins?) aufsteigen.

Böse Treppengeländer

Die Projektionswirrnis droht, den Chiffrecharakter des Holländers zu neutralisieren: Dann singt da nur ein alter Mann mit Kapitänsmütze, und keiner weiß so recht, warum. Verwunderlich auch, warum Sentas Begegnung mit ihrem ödipalen Geist so steif und bieder, ohne gefährlich inzestuöse Nähe abläuft. Überhaupt gebärdet sich der intendierte Horror merkwürdig brav. In Stanley Kubricks Kinofilm Shining – gewiss ein Referenzwerk für die Inszenierung – schwappt immerhin Blut über die Hotelflure, hinter dem Duschvorhang warten Leichen, und das große Kochmesser liegt zur Attacke bereit. In Bayreuth senkt sich gegen Ende nur ein monströs lieber Klabauterknochenmann vom Schnürboden herab, der aussieht, als sei er aus der Geisterbahn abmontiert, und zerrt Senta an den Armen nach oben. Zu den allerletzten Takten stürzt sie dann aber doch dem verschwundenen Holländer auf der Treppe hinterher, mit ihren Fäusten vergeblich gegen die Wand trommelnd, bis der Spuk ein Ende hat.

Leider setzen auch die Sänger den Traumvisionscharakter der Inszenierung nicht gerade packend um. Endrik Wottrich als Erik ist mit seinem klaren, kraftvollen und doch auch innig geführten Tenor die einzige wirkliche Entdeckung des Abends. Adrienne Dugger besitzt zwar das gebotene Volumen und die Höhe für die Senta-Partie, aber die Momente zarter Entrückung fehlen ihr, das Fantasiepotenzial, das der Figur erst Glaubwürdigkeit und Größe verleiht. Auch in Jaakko Ryhänens gesund unbedarftem Daland-Bass vermag man den Albdruck, der eigentlich auf der Figur liegen sollte, nicht so recht zu erkennen. Und John Tomlinson verwechselt als Holländer ein ums andere Mal Dämonie mit Kraft. Er profiliert sich als Sängerdarsteller-Haudegen, der noch den letzten verzweifelten Ringkampf mit dem Treppengeländer sucht.

Marc Albrecht gab am Pult des ausgezeichnet präparierten Festspielorchesters sein Bayreuth-Debüt und hat gezeigt, dass es sehr wohl auch noch andere festspielwürdige Dirigenten der jüngeren Generation gibt, neben dem am Grünen Hügel besinnungslos vergötterten Christian Thielemann. Elanvoll, mit einem direkten, klaren Klangbild, ist er das Stück angegangen (manchmal vielleicht sogar eine Spur zu nassforsch). Er offenbart ein einnehmendes Gespür für übergeordnete Zusammenhänge und dramatische Steigerungskurven genauso wie für die expressiven Details. Manchmal hatte man den Eindruck, dass seine Deutung noch plastischer wirken würde, wenn es den heiligen Deckel nicht auf dem Orchestergraben gäbe. Ihn bei Wagners frühen Werken einmal abzunehmen, wäre allemal ein Experiment wert. Gerade jetzt, wo doch der Festspielprinzipal noch einmal in Revolutionslaune gekommen ist.

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Technical Specifications
256 kbit/s CBR, 44.1 kHz, 260 MByte (MP3)
Remarks
Broadcast from the Bayreuth festival
A production by Claus Guth (premiere)