Der fliegende Holländer
Donald Runnicles | ||||||
Chor, Herrenextrachor und Orchester der Deutschen Oper Berlin | ||||||
Date/Location
Recording Type
|
Daland | Tobias Kehrer |
Senta | Ingela Brimberg |
Erik | Thomas Blondelle |
Mary | Ronnita Miller |
Der Steuermann Dalands | Matthew Newlin |
Der Holländer | Samuel Youn |
„Der fliegende Holländer“ – ein Spießer als Held
Fast alle Figuren in Richard Wagners „Fliegendem Holländer“ sind deformiert: Daland, der Kaufmann zur See, ist so ins Geld vernarrt, dass er einer nächtlichen Zufallsbekanntschaft wegen deren Vermögen seine Tochter zur Frau verspricht.
Auf die Lieblosigkeit dieses Vaters reagiert Senta mit sonderbarer Fixierung auf das Bild und die Geschichte eines verfluchten Mannes, mit der sie sich innerhalb ihrer weitgehend verblödeten Peer-Group isoliert. Berühmt wurde die Bayreuther „Holländer“-Inszenierung von Harry Kupfer, weil sie die Geschichte als Halluzination Sentas erzählt: 1978, am Ende des Jahrzehnts der Innerlichkeit, war dieser Blick ins „verstörte“ Individuum eine naheliegende Lesart.
Ab ins Familienidyll
Was sagt es über unsere Zeit, dass Christian Spuck sich an der Deutschen Oper für seine am Sonntag vorgestellte „Holländer“-Inszenierung einen anderen Träumer aussucht, nämlich Erik, den Jäger, der sich mit Senta im Einverständnis wähnt, aber vom Alptraum der Trennung verfolgt wird?
Wagner selbst hat ihn wohl eher unter die Spießer gerechnet, in deren Horizont nicht passt, was da eigentlich abgeht: dass eine Frau sich für einen Verfluchten opfern will. Fluch. Opfer. Verbindet man mit diesen Kategorien heute noch etwas anderes als Geisteskrankheit?
Aber wenn man das tut, dann ist Erik als der einzig Normale in dieser Oper plötzlich eine Art Held. Dann werden die Ziele von Holländer und Senta, nämlich „erlöst“ zu werden und zu „erlösen“, zu Wahnideen, während Eriks Ziel, nämlich Senta aus der Fixierung auf den Holländer zu befreien, zu einem ehrenwerten therapeutischen Unternehmen avanciert. Und dann ab ins Familienidyll!
Gemütliche Lösung
Dazu kommt es bekanntlich nicht, Erik scheitert, und in Spucks Inszenierung ist das auch ein verzweifelter, rührender Moment, wenn sich Senta zum Schein in seine Arme wirft und dann erdolcht. Aber funktioniert Oper so, dass sie die gemütlichen Lösungen zum Ideal erklärt? Der „Holländer“ funktioniert gewiss nicht so, und richten sich auf Wagner nicht ohnehin alle unsere Sehnsüchte nach Dimensionen jenseits unseres Alltags?
Man merkt Spucks Inszenierung an, welche Mühe es bereitet, Erik mit seinen zwei Auftritten zur Hauptfigur zu stilisieren. Thomas Blondelle muss in dieser Rolle fast die ganze Zeit auf der Bühne sein, schon zur Ouvertüre.
Er trägt als einziger etwas Farbe am Leib, der Rest versinkt in Dunkel, Nebel und Kostümen zwischen Schwarz und Grau. Er agiert als einziger leidenschaftlich und muss auf Kosten gequetschter Spitzentöne gesanglich forcieren, um das Pathosniveau von Senta und Holländer zu erreichen.
Gut getarnte Senta
Um dies zu erleichtern, bleiben jene beiden eher blass. Samuel Youn steht regungslos auf der Bühne und poltert bei grob gepeilter Intonation mehr oder weniger deutsche Silben hervor. Ingela Brimbergs Senta singt ungleichmäßig, zuweilen schrill, aber in den besten Momenten mit jugendlich-leuchtendem Strahl, der auch etwas von der Kindlichkeit der Figur vermittelt. Von ihren Spinnstuben-Kolleginnen unterscheidet sie sich jedoch kaum, sie kann durchaus zwischen ihnen verschwinden.
Ob das beabsichtigt ist? Es kann eine Inszenierung ja interpretatorisch fragwürdig sein, aber theatralisch dennoch gelingen, die letzte Premiere am Haus, Brittens „Death in Venice“, war so ein Fall. „Der fliegende Holländer“ gehört nicht dazu.
Zwischen Schwarz und Grau
Auf der Bühne von Rufus Didwiszus und in den Kostümen von Emma Ryot sind alle Katzen grau, und wenn sich hinten auf der Bühne zwei Türen öffnen, fällt schwaches Licht hinein, in dem ein paar Gruselgestalten in Ölzeug sichtbar werden, aber weder Geisterschiff noch irgendetwas sonst. Hinten ist ein flaches Bassin, in das es manchmal platschend hineinregnet. Was auch immer das bedeutet: Auch der kleine Teich bietet keinerlei Spielmöglichkeit für die Sänger, die sich ohne situativen Kontext aneinander vorbeischieben.
Hässliches Wort
Für die Spinnstube wird ein helles Zelt aufgezogen. Im dritten Akt wird es wieder dunkel, da schlägt dann die Stunde des Chors, der unter Leitung von Raymond Hughes in zwei Teile zerfällt: Während die Damen ihre Spinnstuben-Szene sehr fein gestalten, verfallen die Männer in eine – man verzeihe das hässliche Wort, aber wie soll man das sonst nennen? – Brüllerei, als müsste einer den anderen übertönen.
Auch das Orchester der Deutschen Oper hat einen durchwachsenen Auftritt: Manches klingt schön und brillant, warum aber das tiefe Eïs vor dem Holländer-Monolog dreimal hintereinander in bedenklicher Intonation hervorgebracht wird, ist nicht zu begreifen. Donald Runnicles am Pult hat zuweilen Mühe, das Geschehen genau zu koordinieren; seine Interpretation wirkt nicht übermäßig engagiert.
Aber zu einem Regiekonzept, das den Biedermann zum Helden des „Fliegenden Holländers“ erhebt, passt das ja nicht schlecht.
Peter Uehling | 08.05.2017