Der fliegende Holländer
Oksana Lyniv | ||||||
Chor und Orchester der Bayreuther Festspiele | ||||||
Date/Location
Recording Type
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Daland | Georg Zeppenfeld |
Senta | Elisabeth Teige |
Erik | Eric Cutler |
Mary | Nadine Weissmann |
Der Steuermann Dalands | Attilio Glaser |
Der Holländer | Thomas J. Mayer |
Racheengel und Feuerteufel
Während die Bayreuther Festspiele coronageplagt mit vielen Besetzungsänderungen bis kurz vor der Festspieleröffnung zu kämpfen hatten, hatte die Festspielleitung für den Fliegenden Holländer und den „zurückgetretenen“ John Lundgren zumindest genügend Zeit, mit Thomas J. Mayer einen erfahrenen Ersatz zu finden. In der Inszenierung von Dmitri Tcherniakov, die nun im zweiten Jahr aufgeführt wird, treten die übrigen Solist*innen bei der Wiederaufnahme wie vorgesehen auf, jedoch in einer sich zum Vorjahr unterscheidenden Besetzung, sodass interessante Vergleiche gezogen werden können.
Die eingeschworene Dorf- oder Stadtgemeinschaft, die ausgrenzt, vor-urteilt und verurteilt und sich dadurch mitschuldig der Konsequenzen macht, ist ein wiederkehrendes Sujet bei Wagner – ob im Lohengrin, Holländer oder bei den Meistersingern – Ausgrenzung ist für viele Regisseur*innen wichtiger Dreh- und Angelpunkt vergangener Inszenierungen.
Tcherniakov beleuchtet die Dynamiken solcher Handlungen und verwebt in seiner Produktion nicht nur Familiendrama, Rache-Epos und Kleinstadt-Tristesse, sondern bringt die Oper zusätzlich mit seiner eigens erfundenen Vorgeschichte um die Mutter des Holländers, auf die Bühne.
Verwickelt in eine Affäre mit Daland – zwischen anfänglicher Leidenschaft und späterer Zurückweisung – wird sie von der Gemeinschaft der Kleinstadt, die davon natürlich schnell Wind bekommt, ausgegrenzt. Mit fatalen Folgen. Der Freitod seiner Mutter wird zum einschneidenden und ihn albtraumhaft verfolgenden Erlebnis. Statt den ihn von seinem Trauma befreienden und in der Liebe erlösenden Engel zu finden, wird er selbst zum Racheengel.
Und auch zwischen Senta und dem Holländer spinnt er sich eine recht ungewöhnliche Geschichte zurecht. Statt der ergreifenden „treu bis in den Tod“-Liebesgeschichte zwischen den beiden, fokussiert er sich auf den ihn stets antreibenden Hass als alleiniges Motiv seiner Handlungen.
Thomas J. Mayer stellte den Holländer als kaltherzigen, von Wut zerfressenen, nach Rache trachtenden Mann dar. Stets souverän, mit zurückhaltender aber entschiedener Mimik und Gestik vermochte er die Rolle überzeugend darzustellen. Stimmlich wartete der Bassbariton mit herber, kraftvoller Stimme auf, aber – trotz deutlicher Artikulation – mitunter mit nicht genügend differenzierter Ausgestaltung.
Im Duett mit dem Bass Georg Zeppenfeld stellte dieser ihn daher in den Schatten. Zeppenfeld, seit vielen Jahren ein Garant für erstklassige Darbietungen in jeglicher Hinsicht, setzte seine Stimme überaus wandlungsfähig ein: mal schlank und agil, mal überraschend voluminös und breit. Jedoch stets überzeugend und mit perfekter Diktion.
Die norwegische Sopranistin und Bayreuth-Debütantin Elisabeth Teige trat in der Rolle der Senta ein großes Erbe an, wurde ihre Vorgängerin Asmik Grigorian letztes Jahr für ihre Darbietung sehr umjubelt. Davon unbeeindruckt bewies sie bereits bei den ersten Tönen, dass sie ihr in nichts nachsteht. Bestimmt, mit fester Stimme und gesanglich perfekter Ausführung, dennoch nicht ohne Gefühl, strahlte ihr Sopran Wärme und Leidenschaft aus. Auch szenisch überzeugte sie als aufsässige Tochter, sich nichts sehnlicher wünschend, als aus der bornierten, kleinbürgerlichen Scheinidylle auszubrechen, wobei ihr jedes Mittel recht scheint.
Eric Cutler war eine szenisch wie stimmlich ideale Besetzung für die Rolle des Erik. Passioniert, mit feinem Gespür für die Gesangslinien seiner Arien und die kurzen, dennoch intensiven und wirkungsvollen Auftritte, gestaltete er die oft als undankbar verschriene Partie zu einer der hörenswertesten des Abends. Nadine Weissmann als Mary und Attilio Glaser als Steuermann rundeten dieses hervorragende Ensemble ab.
Oksana Lyniv und die Musiker*innen des Bayreuther Festspielorchesters vermochten die Besonderheiten und mitunter Schwierigkeiten des tiefen Grabens im Festspielhaus gekonnt überwinden. Statt in einen schnell allzu einheitlich klingenden Mischklang zu verfallen, wusste Lyniv stets Akzente zu setzen und überzeugte mit einem effektvollen, lebendigen Dirigat. Ohne diese Effekte zu übertreiben brachte sie die musikalische Vielschichtigkeit der Holländer-Partitur eindrucksvoll dar. So verzieh man auch die nicht immer perfekten Einsätze des Festspielchors, der dennoch in geballter Stahlkraft und äußerster Homogenität auftrat.
Die bisweilen hopperesquen Szenen von urbaner Einsamkeit und der trostlosen Monotonie städtischer Architektur – nicht zuletzt beim ersten Kennenlernen zwischen dem Holländer und Senta in Dalands Wintergarten – lassen die Personen gleichzeitig eingeschlossen und entblößt erscheinen, während der Zuschauer zum Voyeur bröckelnder Familienträume wird. Doch zum Schluss wird aus der bieder anmutenden Szenerie ein spannender Thriller. Nachdem der Holländer in die Menge schießt, die Stadt anzündet und diese ins Chaos stürzt, muss er letztlich doch mit ihr untergehen. Dem Rächer wird der Garaus gemacht: So ist es überraschenderweise Mary, die ihm beherzt mit der Flinte erschießt – ein großer Knall zum Finale!
Tcherniakov kann mit seiner Inszenierung auch im zweiten Jahr nicht vollends überzeugen, so fehlt ihr über gewisse Strecken die Spannung. Dennoch ist ihm seine eigenwillige Deutung anzurechnen, die einen ungewöhnlichen Blick und selten verfolgten Deutungsansatz auf den Holländer-Mythos wirft. In ein paar Wochen führt er den Ring des Nibelugen an der Staatsoper Berlin zur Premiere und mit Sicherheit wird dieses Opus Magnum wieder seinen so einzigartigen Stempel tragen.
Alexandra Richter | 08 August 2022
Die nächste Senta-Sensation
„Der fliegende Holländer“ in der Inszenierung von Dmitri Tcherniakov funktioniert bei den Bayreuther Festspielen noch besser als im Vorjahr. Und das auch dank einer umwerfenden Hauptfigur: Elisabeth Teige.
Sängerisch ist Elisabeth Teige ohne Zweifel die ganz große Entdeckung bei den Bayreuther Festspielen dieses Jahres. Schon als Freia im „Rheingold“, dann wieder als Gutrune in der „Götterdämmerung“ setzte die norwegische Sopranistin mit der durchdringenden Sinnlichkeit, dem sirenenhaft süßen, unheilvoll lockenden Zauber ihrer großen, starken Stimme Ausrufezeichen in den verzweifelten, trostlosen Inszenierungen von Valentin Schwarz.
Doch nun hat die künstlerische Leiterin der Festspiele, Katharina Wagner, mit glücklichem Mut Elisabeth Teige als Senta im „Fliegenden Holländer“ von Richard Wagner besetzt und ihr damit verdientermaßen die ganz große Bühne gegeben. Ein einzigartiger, jugendlich-dramatischer Sopran ist da zu bestaunen: Teige versteht es auf wundersame Weise, die Wärme des Brustregisters in die Kopfstimme hineinzunehmen und, ohne zu brüllen, die vielfältigen Nuancen der Kopfstimme enorm zu verstärken.
Der Effekt ist verwirrend: Man glaubt, der kostbare, stets halb verschattete Perlmuttschimmer Elisabeth Schwarzkopfs bekomme einen Booster von sagenhafter Kraft, mit viel Körper im Klang. Anders als Lise Davidsen, die noch keine dreißig Jahre alt ist, aber in Bayreuth bereits die Sieglinde in der „Walküre“ und die Elisabeth im „Tannhäuser“ singt, ist Teige schon Anfang vierzig. Ihre Stimme macht den Eindruck gesunder Reifung. Die Senta kommt für sie nicht zu früh, während die Zwangspause bei Grigorian zu Beginn dieses Jahres den Verdacht einer stimmlichen Überanstrengung nahelegt.
Nach dem wirklich sensationellen Bayreuth-Debüt von Grigorian als Senta im vergangenen Jahr konnte man sich mit Recht fragen, ob die Inszenierung des „Holländers“ von Dmitri Tcherniakov ohne diese überragende Sängerin und Darstellerin nicht in sich zusammenfallen würde.
Eine völlig andere Geschichte
Tcherniakov erzählt ja eine völlig andere Geschichte als Richard Wagner, nämlich die, dass der Holländer nach vielen Jahren in die Stadt zurückkommt, in der seine Mutter – die Geliebte Dalands – sich erhängt hatte, nachdem sie von den Städtern geächtet worden war. Er will aus Rache für den Tod seiner Mutter die ganze Stadt abfackeln. Senta als Tochter Dalands ist mit dem Holländer von Anfang an im Bunde, weil sie ihren verlogenen Vater, der auch Holländers Mutter missbraucht hatte, hasst.
Teige mag nun nicht die burschenhafte Physis von Grigorian haben, aber sie setzt ihre soziale Dissonanz zur Stadtjugend – bei einer Chorprobe, in der das Spinnstubenlied einstudiert wird – als aggressives Gelangweiltsein packend in Szene. Dann fläzt sie sich breitbeinig zwischen die Mädchen, stimmt ihr „Johohohe!“ ganz leise an, aber so bezwingend, dass alle ihr zuhören müssen und nicht der Chorleiterin Mary, die hier zugleich ihre Mutter oder Stiefmutter, jedenfalls die Frau Dalands ist. Die betonten Auftakte in den Strophen ihrer Ballade mit dem folgenden Quartsprung abwärts haben bei Teige überhaupt nichts Keifendes, sondern klangliche Rundung bei voller Kraft.
Die Inszenierung funktioniert auch in anderen Bereichen besser als je zuvor. Die Handlungsregie für den Chor, den Eberhard Friedrich für diese sportlichen Aufgaben sängerisch topfit gemacht hat, ist virtuos. Die wechselnden Frontenbildungen in der Stadtgesellschaft werden blitzschnell klar. Die detaillierte Personenarbeit Tcherniakovs macht durch ihre Präzision jede noch so große Abweichung vom Originallibretto Wagners plausibel. Thomas J. Mayer mag als Holländer nicht die eisige Aura von John Lundgren haben, der seiner Figur im letzten Jahr eine von Beginn an unheimliche Präsenz verlieh, aber das Gewinnende, leicht Melancholische in Mayers Auftreten macht es nur wahrscheinlicher, dass Daland (der wie stets verehrungswürdige Georg Zeppenfeld) und manch anderer ihm so leicht auf den Leim gehen.
Nadine Weissmann als Mary braucht beim Abendessen zur Verlobungsanbahnung zwischen Senta und Holländer nur einen Flunsch zu ziehen – und schon weiß man, wie sie zur ganzen Sache steht. Mit einem finalen Schuss wird sie dem ganzen Spuk ein überraschendes Ende machen. Eric Cutler, der wie alle übrigen klanglich äußerst gepflegt und dabei sehr textverständlich singt, spielt als Erik seine missbrauchte Geduld mit Senta, seine Wut gegen sie, aber auch seine Angst vor ihr gestisch knapp und sehr gezielt aus. Teige antwortet als Senta darauf mit stummer Kälte und Verachtung. Sie hält ihn für einen Weichling und Idioten.
Oksana Lyniv hat im zweiten Jahr ihres Bayreuther Dirigats viel an Gelassenheit und Mäßigung hinzugewonnen. Anspannung und Schärfe ihres Debüts sind einer geschmeidigeren Organik im dynamischen Gestalten und einem größeren Vertrauen in die Vernunft des Orchesters gewichen. Die disparaten Tonfälle Wagners im „Holländer“ – romantisches Märchen à la Weber und Marschner, bürgerliche Spieloper à la Lortzing und amouröser Belcanto à la Bellini – verbindet Lyniv bruchlos miteinander, ohne jedes stilistische Idiom im einzelnen einzuebnen. Am Ende fliegt ihr beim Schlussapplaus die geballte, stürmische Zuneigung des Publikums zu.
„Der fliegende Holländer“ wird sich einreihen in die Erfolgsinszenierungen der letzten Jahre mit Tobias Kratzers „Tannhäuser“ und Barrie Koskys „Meistersingern von Nürnberg“. Mag „Der Ring des Nibelungen“ aktuell auch dringend der Nacharbeit bedürfen (Bayreuth muss auch Freiräume des Scheiterns verteidigen), so zeigt dieser „Holländer“ doch, dass die Weiterarbeit an Wagner gelingen kann.
JAN BRACHMANN | 10.08.2022