Der fliegende Holländer
Oksana Lyniv | ||||||
Chor und Orchester der Bayreuther Festspiele | ||||||
Date/Location
Recording Type
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Daland | Georg Zeppenfeld |
Senta | Elisabeth Teige |
Erik | Tomislav Mužek |
Mary | Nadine Weissmann |
Der Steuermann Dalands | Tansel Akzeybek |
Der Holländer | Michael Volle |
Katastrophe als Happyend: Michael Volle als fliegender Holländer in Bayreuth – ein Ereignis der Sonderklasse
Der Landgang des fliegenden Holländers gehört in diesem Jahr im besten Sinne des Wortes in die Kategorie bewährter Spielplanroutine. Gestartet war diese chorlastige Oper ja noch unter verschärften Coronabedingugnen. Dass hier mit Oksana Lyniv wieder eine kundig inspirierende Frau am Pult steht, ist als Besonderheit mittlerweile nur noch der Erwähnung wert, weil in diesem Jahr mit Nathalie Stutzmann (im „Tannhäuser“) eine zweite Frau in dieser Position gefeiert werden konnte.
Die auf den ersten Blick karg wirkende Ausstattung, mit der Regisseur Dmitri Tcherniakov seiner Inszenierung selbst den Raum beigefügt hat, ist in sich stimmig, klar und ambitioniert. Auch das Bäumchen-wechsle-dich der Häuser einer exemplarisch spießigen Kleinstadt, in die der Holländer zurückkehrt, funktioniert reibungs- und (nahezu) geräuschlos. Die Kostüme, denen Elena Zaytseva einen leichten Anflug von Secondhand verpasst hat, verweisen in eine ungefähre Gegenwart.
In der Wiederbegegnung wirkt auch der Teil der Geschichte schlüssig, den Tcherniakov als Rahmen dazu erfunden hat. Sein Holländer hat danach nämlich als Kind miterlebt, wie sich seine Mutter (auch mit Daland) prostituiert hat und dafür von den Kleinbürgern gemobbt und damit, vor seinen Augen, in den Selbstmord getrieben wurde.
Die Handlung beginnt mit der Rückkehr des Holländers als Erwachsener und der Begegnung mit Daland in der Kneipe. So kommt es zur Begegnung des Mannes (mit einem Kindheitstrauma, das er womöglich mit Konfrontation oder Rache bewältigen will) mit der rebellischen, verhaltensauffälligen Tochter Dalands.
Die von Daland geschäftstüchtig befürwortete und von seiner Lebensgefährtin Mary nicht zu verhindernde Annäherung der beiden endet in einer Katastrophe. Mit einer veritablen Prügelei, bei der die auf Mafiosi getrimmte Holländermannschaft trotz Unterzahl die Oberhand gewinnt. Dabei schießt der Holländer kurzerhand ein paar Einheimische einfach nieder. Am Ende brennen auch die Häuser lichterloh und Frau Mary erschießt unter Aufbietung aller Kräfte punktgenau aufs Stichwort den Holländer. Katastrophe als Happyend – Wagner by Tchernaikov eben.
Was diese Wiederaufnahme zum Ereignis der Extraklasse macht, ist der Holländer Michael Volle. Besser kann man gar nicht (um-)besetzten. Allein schon sein phänomenaler Auftrittsmonolog war atemberaubendes Wagnerglück pur! Wenn er dann noch mit Daland Georg Zeppenfeld rumfeilscht, wird das zu einem Lehrstück in Sachen Wortverständlichkeit. Wenn es sie gäbe, würde man hier jeden Übertitel als überflüssige Störung empfinden…
Elisabeth Teige fügt ihren schon in Ring und Tannhäuser bejubelten Auftritten noch eine leidenschaftliche Senta hinzu, krönt ihre leuchtende Mittellage mit betörend zarter Höhe. Dass es für Tomislav Muzek als Erik, Attilo Glaser als Steuermann und Nadine Weissmann als Mary einige Anstrengung bedeutet, mit dem Trio an der Spitze mitzuhalten, versteht sich. Am Ende wurde – zusammen mit dem präzise von Eberhard Friedrich einstudierten und in die Schlacht auf dem Dorfplatz geschickten Chor – eine festspielwürdige Vorstellung heftig bejubelt!
Joachim Lange | 02.08.2023
Metaphysik der Liebe und Opernkrimi
Ganz anders die musikalische Darbietung und das fantastische Solist:innenensemble im Fliegenden Holländer. Zwei Stunden und zwanzig Minuten ohne Pause. Oksana Lyniv zaubert mit Festspielchor und -orchester eine ausdrucksstarke, rhythmisch-dynamisch geschärfte, faszinierende musikalische Plastizität und Landschaft auf die Bühne, die die besondere Akustik des Festspielhauses hautnah erfahrbar werden lässt. Michael Volle als fliegender Holländer, Georg Zeppenfeld als Daland, Elisabeth Teige als Senta, Tomislav Muzek als Erik, Nadine Weissmann als Mary, Attilo Glaser als Steuermann begeistern jede und jeder in ihrer bzw. seiner Rolle und geben ihr zugleich eine besondere individuelle Prägung. Solch lebensnahes Musiktheater ist ein nur selten zu erfahrender Genuss und wurde am Ende mit anhaltendem, wellenartig ansteigendem Hand- und Fußapplaus belohnt.
Dmitry Tcherniakovs (Inszenierung und Bühne) Schauermärchen entspringt im wirklichen Leben. Passgenau auf die Stationen der Ouvertüre – Holländer-Motiv, Spinnerlied etc. – abgestimmt, muss der Holländer als kleiner Junge miterleben, wie seine in Daland verliebte Mutter zunächst von ihrem Liebhaber verstoßen und von der Dorfgemeinschaft so verletzt, gedemütigt und ausgegrenzt wird, dass sie sich schließlich das Leben nimmt. Genial, wie man beginnt, die gewaltig aufbrausenden und langsam verklingenden Naturgewalten mit den traumatischen Erinnerungen des Jungen zu assoziieren. Dass die Rückkehr des Holländers in sein Heimatdorf bedrohlich werden könnte, ist von Anfang an klar.
Tcherniakov lässt das Publikum auf ein kubistisch anmutendes, in warme Farben und warmes Licht getauchtes Dorf mit Kirche, perspektivisch ausgerichteten Straßenlaternen und -fluchten blicken. Schritt für Schritt und passgenau auf die Musik Richard Wagners abgestimmt taucht man genauer, tiefer in das Leben vor Ort, den Opernkrimi ein. Daland und der Holländer begegnen sich im ersten Akt beim Feierabendbierchen in der Dorfkneipe. Die Spinnstube ist eine von Mary geleitete Chorprobe, bei der Senta als aufmüpfige Jugendliche rebelliert. Bei einem festlich eingedeckten Essen versuchen Daland und seine Lebensgefährtin Mary, Senta und den Holländer einander näherzubringen. Auf dem abschließenden Dorffest kommt es schließlich zur gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen Dalands Leuten und denen des Holländers. Daland wird getötet. Und während das Dorf in Flammen steht und Senta dem davon eilenden Holländer folgen will, tötet Mary den Holländer. Senta bleibt am Leben. Beide Frauen umarmen sich. Wie genial Tcherniakov Regietheater und Personencharakterisierung vom Feinsten vor Augen führt, mit welcher Gesangs- und Spielfreude hier von allen Beteiligten Musik gemacht wurde, lässt sich kaum in Worte fassen. Man muss es erleben.
FAZIT
Wagners Musiktheater und Gesamtkunstwerk stellt besonders präzise, Musik, Wort und Bild vernetzende Anforderungen an das Regietheater, wie es Dmitry Tcherniakov in Der fliegende Holländer erfahrbar werden lässt.
Ursula Decker-Bönniger | Festspielhaus Bayreuth am 04. August 2023