Lohengrin

Ulf Schirmer
Chor der Oper Leipzig
Gewandhausorchester Leipzig
Date/Location
1 November 2020
Oper Leipzig
Recording Type
  live   studio
  live compilation   live and studio
Cast
Heinrich der Vogler Randall Jakobsh
Lohengrin Michael Weinius
Elsa von Brabant Jennifer Holloway
Friedrich von Telramund Simon Neal
Ortrud Stephanie Müther
Der Heerrufer des Königs Mathias Hausmann
Vier brabantische Edle
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nmz.de

Leipziger „Lohengrin“-Lollipop, lohnend?

Das Spannendste an dieser gekürzten Fassung von „Lohengrin“ ist seine Vorgeschichte, die mindestens bis zum letzten „Tannhäuser“ der Oper Leipzig im Jahr 2018 zurückreicht. Schon steht der Termin der „Lohengrin“-Vorstellung im Paket „Wagner 22“ mit allen Wagner-Dramen in chronologischer Reihenfolge nach Entstehung fest: 30. Juni 2022. Aber das wird ein schon wieder anderer „Lohengrin“ sein als die wegen des Teil-Lockdowns vom 7. auf den 1. November vorverlegte Premiere.

Im März hätte die Koproduktion mit der Oper Leipzig im Gran Teatre del Liceu Barcelona stattfinden sollen. Vorgesehen war als „Lohengrin“-Regisseurin die Bayreuther Festspielleiterin und Wagner-Urenkelin Katharina, zu der die Leipziger Oper seit ihren Bayreuther Gastspielen mit Wagners Jugendopern 2013 verdichtende Kooperationen anstrebt. Katharina Wagner jedoch ließ die Oper Leipzig buchstäblich in letzter Sekunde vor Probenbeginn ihrer „Tannhäuser“-Inszenierung sitzen und bescherte dem Haus am Augustusplatz 2018 so indirekt die vierte Auflage der zur Leipziger Premiere bereits leicht abgestumpften „Tannhäuser“-Regie von Calixto Bieito. Vor der Öffentlichkeit hielt man an der Gewissheit, dass das „Warten auf Katharina“ doch noch Erträge bringt, noch lange fest – sogar, als Barcelona seinen „Lohengrin“ im Corona-Krisengebiet Spanien längst abgesagt und die gesamte Opernwelt der Bayreuther Gralserbin zu deren mehrmonatiger Auszeit Genesungswünsche übermittelt hatte. Natürlich wird dem Intermezzo des gekürzten „Lohengrin“ noch eine echte Neuproduktion folgen und Generalintendant Ulf Schirmer, der schon das Leipziger Remake von Peter Konwitschnys Hamburger „Lohengrin“ im Dezember 2009 dirigiert hatte, in seiner Intendanten-Ära auf drei „Lohengrin“-Produktionen in 14 Jahren kommen – bei maximal fünf Opernpremieren je Spielzeit im großen Haus. Ein innigeres Wagner-Credo und eine größere Sühnebereitschaft nach der früheren Wagner-Dürreperiode Leipzigs geht nicht.

Natürlich ist es eine ehrfurchtsvolle wie wunderbare Überlegung, das Gewandhausorchester als einen der Kulturhaupttrümpfe Leipzigs vor der zweiten Corona-Schließperiode den durch Hygienekonzept ausgedünnten Enthusiasten nochmals in großer Besetzung vorzuführen. Demzufolge war der Applaus in erster Linie eine Liebeserklärung an sein A-Sonderklasse-Orchester mit dem größten Musiker-Stellenplan Deutschlands. Diesmal war der Beifall sogar besonders üppig, obwohl einige Karteninhaber aufgrund vor Ort explodierter Infektionszahlen nicht in die Vorstellung durften.

In seinem Programmheft-Editorial legitimiert Schirmer die Kurzfassung der Dreieinhalb-Stunden-Oper mit häufig in der früheren Wagner-Aufführungsgeschichte praktizierten Strichen – sogar in der legendären Leipziger „Ring“-Inszenierung von Joachim Herz vor 50 Jahren, dessen Brünnhilde-Sängerin Sigrid Kehl am Premierenabend im Publikum saß.

Wer das Festspiel „Wagner22“ als Hommage an den Leipziger Zeitoper-Intendanten Gustav Brecher und damit als Erinnerung an den Uraufführungsskandal von Weills „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ ausrichtet, muss mehr bringen als Vielen etwas und das Außerordentliche mindestens wagen, wenn nicht gar erreichen. Und da reicht es mit diesem „Lohengrin“ nicht ganz zum erwartbaren Höhen-, wohl aber zum sanften Gleitflug. Auf die Gipfel von Peter Konwitschnys vielschichtigen Klassenzimmer-„Lohengrin“, der in Hamburg seit 22 Jahren Kult ist und nicht gut genug für Leipzig war, schwingen sich Patrick Bialdygas Regie, Norman Heinrichs Tische und Jennifer Knothes Alltagsmoden nicht auf. Da werden Ortrud und der Schwanenritter säuberlich nach Hell und Dunkel dualisiert wie im sächsischen Puppentheater. Hämisch grinsend tritt die Heidin Ortrud herbei und drängt Elsa den Brautschleier auf. Stéphanie Müther, die sich mit veritabler und strapazierfähiger Röhre als echter hochdramatischer Sopran in die erste Reihe des europäischen Wagner-Olymps Heroinen singt, kann das bei Joan Anton Rechis Chemnitzer Rummelplatz-„Lohengrin“ und Ingo Kerkhofs Dortmunder „Lohengin“-Inzestphantasie erlernte Psychomaterial weder zeigen noch anwenden. Ihren Schwur an die „entweihten Götter“ schleudert sie auf die zwischen Goetheanum und Thing-Symbolik verortbaren Holzskulpturen des Bayreuther Künstlers Klaus Hack.

An einer „Lohengrin“-Strichfassung mit etwa 60% der Originallänge kann man nur scheitern. Das sichert dem Leipziger „Lohengrin“ schon aufgrund des tollkühnen Risikos und künstlerisch anfechtbaren Vorhabens einen gewissen Respekt. Hier entfällt die lange Vorbereitung von Elsas Traum, Lohengrins erstes Solo vom „lieben Schwan“, das erste Jubelfinale, die zweite Hälfte des zweiten Aktes und vieles aus dem Schlussbild. Der Chor singt aus dem Off und Thomas Eitler-de Lint nimmt für sein Kollektiv, das erst vor kurzem auch in einem Wagner-Konzert prunkte, die Ovationen entgegen.

Es ist ein wirkungssatter und lautstarker „Lohengrin“ trotz Jennifer Holloways musikalischer Differenzierungskraft für eine Elsa, die sich vor dem mit weißen Rosenblättern überstreuten und aus Tischen zusammengebauten Brautb(r)ett lieber kratzt, als dem robusten Schwanenritter im Trenchcoat hingibt. Der König trägt blauen Samt als Sakko und als Krone auf dem Haupt. Schade, dass man Randall Jakobshs charakterstarkes Bassmaterial nicht für die Inszenierung nutzbar machte. Neben der dominanten Ortrud und dem blinden Kläger Telramund, als der Simon Neal kantig auftrumpft, bleibt König Heinrich also belanglos. Der schwedische Tenor Michael Weinius, mehr Kriegsfürst als Liebhaber, weicht in der Titelpartie mit keinem Ton den philharmonischen Sturmangriffen des Gewandhausorchesters, die von der Hauptbühne über die Solisten auf dem hochgefahrenen Orchestergraben ins atemlose Auditorium rasen. Der betörende Piano-Schimmer von Wagners ‚italienischster Partie‘ und das melodische Schwelgen dieser Partitur türmen sich zu unbekümmerter Musizierfreude, die über dynamische Detailzeichnungen geschmeidig hinweg eilt. Denn die im Dienst am treuen Publikum um eine Woche vorverlegte Premiere ist nur das hochkulturelle Lollipop zum Corona-bedingten Wagner-Schweigen, dem mit der nächsten „Lohengrin“-Premiere die umso kalorienhaltigere Wuchtbrumme folgen muss. Außerordentlich ist die Wagner-Pflege der Musik- und Handelsstadt Leipzig durch Sortimentsbreite und Produktdefinition. Dafür ist jeder Jubel für die Oper Leipzig als Rekordhalter berechtigt, denn kein Opernintendant des 21. Jahrhunderts hat mehr Wagner-Premieren im Angebot als Ulf Schirmer – sogar weitaus mehr als es Bühnenwerke des gebürtigen Leipzigers gibt.

Roland H. Dippel | 03.11.2020

mdr.de

“Lohengrin” an der Oper Leipzig – Premiere kurz vor dem Lockdown

Es war eine der letzten Premieren kurz vor dem zweiten Lockdown – noch eine Woche vorgezogen, damit sie noch stattfinden konnte: Die Oper “Lohengrin” in Leipzig in einer gekürzten Corona-Fassung. MDR KULTUR-Theaterredakteur Stefan Petraschewsky wäre auch vom “Kammerspiel-Lohengrin” überzeugt, wenn die Regie nur nicht so missglückt gewesen wäre. Über einen der letzten Theaterabende für die kommenden Wochen.

In Leipzig wurde ausgerechnet zum Premierentag der Grenzwert von 50 Neuinfektionen pro Woche gerissen, statt der ursprünglich vorgesehenen 370 Besucher durften nur noch 240 in die Oper – viele kamen also umsonst und wurden auf später vertröstet.

Die Zuschauer, die in die Oper durften, erlebten einen “Lohengrin” in einer Art Kammerspiel-Fassung. Der Stoff, der eigentlich auf vier Stunden ausgelegt ist, wurde hier gerade mal zwei Stunden gekürzt – und das funktioniert gut! Das Orchester wurde auf die Bühne gesetzt, die sechs Protagonisten agierten auf der Vorbühne und alles passte musikalisch wirklich bemerkenswert gut zusammen, das war fast ein bisschen Bayreuth-Feeling, wenn der Orchesterklang von hinten gut gemischt und fast in Mono kommt und davor viel Platz für die Stimmen lässt. Regiemäßig könnte die Konzentration auf das Kammerspiel auch klappen. Die Strichfassung der Musik, also die gekürzte Oper, funktioniert schlüssig.

“Lohengrin” ist eine Art Machtspiel um den Fürstenthron, es gibt alte und neue Rechte auf diesen Chefposten. Elsa soll den Thronfolger, ihren Bruder, umgebracht haben, das ist die Ausgangssituation. Lohengrin, der Schwanenritter, kommt als ihr Retter. Der Chor übernimmt die Rolle der Öffentlichkeit, vor der alle ihr Tun rechtfertigen müssen. In der gekürzten Fassung fällt der nun quasi komplett weg. Das ist einerseits schade. Andererseits: Normalerweise ist “Lohengrin” eine ganz große Choroper mit Extrachor, die Chorsänger mimen dann allesamt Soldaten, die in die Schlacht ziehen, ständig wird trompetet und getutet und die Soldaten stellen sich in Reihe auf: Linksum! Gewehr über! Das klingt bei Wagner sehr martialisch, wirkt dann aber allzu oft unfreiwillig komisch bis peinlich, wenn übergewichtige, ältere Chorherren versuchen, ein Gewehr auf Kommando zu schultern, bzw. historisch korrekt: die Lanze. Das sieht dann oft aus wie das letzte Aufgebot vor der Kapitulation und nicht wie ein gut gedrilltes, kampfbereites Heer. Diese Peinlichkeit wird dem Zuschauer hier erspart.

Hier ist es so: Der Chor steht auf der Seitenbühne im Off, wird über Mirkos verstärkt, was suboptimal klingt. Das Orchester in normaler Besetzung, also rund 60 Musiker, sitzt auf der Bühne, davor die sechs Protagonisten: das gute Pärchen Lohengrin und Elsa, die Bösewichte Ortrud und Telramund, dazu der König und sein Heerrufer.

Die Kürzung funktioniert aber nicht nur in der Erzählung der Handlung, sondern auch musikalisch: Nach dem Ende der Vorstellung habe ich mich gefragt, ob ich irgendwas nicht gehört hätte, ob mir was fehlt. Nein! Es war eigentlich der komplette musikalische “Lohengrin”.

Missglückte Regie
Leider musste Regisseur Patrick Bialdyga unbedingt bedeutungsschwangere Regiemätzchen wie einen blinden, umhertappenden Telramund zeigen – warum auch immer – oder einen König, der das Kreuz aus seinem Reichsapfel rausschraubt, das Kreuz hat unten einen Ring, im Apfel ist Seifenwasser, aus dem der König Seifenblasen in die Welt bläst – warum nur? Hier werden Nebensächlichkeiten in Szene gesetzt, während die Hauptsache völlig ausgeblendet wird. Denn das Orchester auf der Bühne ist ja durch diese Verortung quasi zum Mitspieler gemacht. Aber seltsamerweise wird das Orchester von den Sängern nie bemerkt. Ganz zu schweigen davon, dass man das Orchester ja auch anspielen könnte, z. B. wenn im dritten Akt Brautgemach ein Moment der Sprachlosigkeit da ist, Stillstand der Handlung, Elsa und Lohengrin suchen nach Worten, und der Impuls weiterzumachen, dann aus dem Orchester kommt mit dem Motiv, das Lohengrin dann aus der Musik aufnimmt: “Atmest Du nicht mit mir die süßen Düfte”.

Hervorragend besetzt
Dennoch war es eine überzeugende Ensembleleistung. Niemand fällt raus, im Gegenteil: Michael Weinius als Lohengrin hat eine schöne Tenorstimme. Heerrufer (Mathias Hausmann), König (Randall Jakobsh), Telramund (Simon Neal) haben tiefe, klare, gut artikulierte Männerstimmen. Überhaupt sind die Texte auffallend gut zu verstehen. Vielleicht auch ein Resultat dieser Anordnung der Sänger vor dem Orchester. Ortrud klingt mühelos und groß – vielleicht sogar zu groß. Stephanie Müther ist hier für Kathrin Göring kurzfristig eingesprungen. Für Jennifer Holloway, die die Elsa singt, ist es das Rollendebüt. Sie hat viel Kraft in der Stimme, kann sie aber auch gut und klar führen, ist erstaunlich gut zu verstehen, hat auch schöne leise, lyrische Töne – eine überzeugende musikalische Leistung. Und Holloway spielt auch sehr gut, trotz der bemerkenswert ignoranten Regie.

Ein doppelt richtiger Theaterabend
Bei den vielen Theatern, die jetzt im Lockdown ihre Künstler wieder in Kurzarbeit schicken (müssen), war der “Lohengrin” am Ende doppelt richtig: Erstens, weil er versucht, den Betrieb am Laufen zu halten, was wirklich meinen höchsten Respekt verdient! Und zweitens: weil er in dieser Kammerspielfassung auch überzeugt und mehr als ein Notnagel ist. Man müsste nur das Orchester als Mitspieler stärker mitspielen lassen und mehr auf die Beziehungen der Figuren setzen.

Stefan Petraschewsky | 02. November 2020

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User Rating
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Media Type/Label
Technical Specifications
320 kbit/s CBR, 48.0 kHz, 271 MByte (MP3)
Remarks
In-house recording
A production by Patrick Bialdyga (premiere)
Stephanie Müther replaces Kathrin Göring as Ortrud.
Shortened version (2 h) played without intermission.