Lohengrin

Christian Thielemann
Sächsischer Staatsopernchor Dresden, Bachchor Salzburg, Chor des Salzburger Landestheaters
Sächsische Staatskapelle Dresden
Date/Location
6 April 2022
Großes Festspielhaus Salzburg
Recording Type
  live  studio
  live compilation  live and studio
Cast
Heinrich der VoglerHans-Peter König
LohengrinEric Cutler
Elsa von BrabantJacquelyn Wagner
Friedrich von TelramundMartin Gantner
OrtrudElena Pankratova
Der Heerrufer des KönigsMarkus Brück
Vier brabantische EdleAlexander Hüttner
Thomas Atkins
Simon Schnorr
Roland Faust
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Reviews
nmz.de

Brav, oh und Buhs!

Mit diesem Dreiakter wurden die diesjährigen Osterfestspiele Salzburg eröffnet, nach mehreren pandemiebedingten Absagen und Verschiebungen endlich wieder plangemäß. Aber gab es da wirklich eine Neuauflage des 1850 in Weimar uraufgeführten „Lohengrin“? Oder wurde im Großen Festspielhaus nicht vielmehr eine Neuausdeutung gewagt? Das Regieteam um Jossi Wieler, Anna Viebrock und Sergio Morabito hat solche Überlegungen zumindest sehr nahegelegt. Und viele weitere Fragen gleich mit. Die meisten allerdings blieben unbeantwortet.

Wo und wann spielt diese spezielle Form von Romantik? In einem Schiffshebewerk? An einer Schleuse? Gegen Ende des Ersten Weltkriegs, in einer Zwischenkriegszeit? Oder vielleicht nur im Kopf und in den Gedanken von Elsa, die ihren Bruder auf dem Gewissen hat? Obwohl sie die Erstgeborene war, hätte der Jüngere, weil männlich, die Thronfolge antreten können. Wusste Elsa das etwa mit einem Brudermord zu verhindern? Und wurde dabei dummerweise von ihrer Rivalin Ortrud gesehen?

Wagners Opernpartien werden oft als mörderisch bezeichnet, weil sie Sängerinnen und Sängern über lange Abende hinweg so ziemlich alles abverlangen. Auch in seinen Libretti ist nicht selten von Mord und Totschlag die Rede. In dieser Deutung aber steht Elsa, die Tochter des verstorbenen Herzogs von Brabant, nicht nur unter Mordverdacht, sondern wird unverkennbar als Mörderin gebrandmarkt. Ein Elsa-Krimi also, in dem die Schuldige schon von Anfang an feststeht. Sie hat ihren jüngeren Bruder umgebracht, um sich die Thronfolge zu sichern.

Um das Erlangen von Macht geht es auch Graf Telramund und seiner Gattin Ortrud, diesem oft als diabolisch böse gezeigtem Paar. Noch machtvoller aber, rabiat und brutal, überrollt der deutsche König Heinrich mit seinem Heer das Volk von Brabant. Natürlich nur, um es zu „befreien“; da war Wagner seiner Zeit weit voraus: „Was deutsches Land heißt, stelle Kampfesscharen.“ Um bei solchen Stellen an den Krieg in der Ukraine zu denken, braucht es keine Aktualisierungen auf der Bühne, die gedanklichen Parallelen zu dem dortigen Schrecken sind omnipräsent. Ausstattung und Kostüme orientieren sich jedoch zumeist an Uniformen des 1. Weltkriegs, Heinrich erinnert an den dicken Hindenburg, die Absperrgitter zwischen Volk und Militärmaschinerie sind heutig.

Wenn Elsa aber Thronfolge aber auf ihre Weise gelöst hat, warum braucht sie dann noch einen Retter, der sie von diesem Verdacht wieder befreien soll? Aus heutiger Straßenkleidung schlüpft sie in ein himmelblaues Kleid, in eine Traumwelt, die ihr diesen Retter namens Lohengrin als Vision erscheinen lässt. Macht sie sich selbst etwas vor, um den Mord zu vergessen? Nur nach Herkunft und Namen fragen darf sie nicht, ihrer Vision also nicht auf den Grund gehen. Denn sonst zerplatzt der ganze Wahn.

Was er zwangsläufig auch macht. Und damit leider auch der Kerngedanke dieser Inszenierung, die mehr Fragen offenlässt als schlüssige Antworten liefert. In der Tristesse des gewaltigen Bühnenbildes ist alles in Bewegung, das Volk wird drangsaliert, ist gottergeben und lässt sich willig verführen. Hauptsache, es hat wen oder was zum Anbeten. Da kommt ihm dieser Lohengrin (nun plötzlich heraus aus Elsas Kopf?) gerade recht. Optisch eine Art Salvator mundi mit langem Lockenschopf à la da Vinci. Wieso aber trägt er silberne Schuhe, kommt er doch von einem anderen Stern? Und wieso erscheint Telramund erst mit einem Schwert, erleidet dann einen Herzinfarkt und erscheint schließlich mit einem riesigen Maschinengewehr? Ach ja, offene Fragen …

Wenn die Guten die Bösen sind, werden Bösewichter keineswegs Gutmenschen

Das Regieteam wird dafür mit einem heftigen Buh-Konzert abgestraft. Wer knapp 500 Euro pro Karte zahlt, will nicht brüskiert werden, sondern bestens unterhalten. Dabei bot die Inszenierung durchaus Spannung und überzeugte mit einfallsreicher Choreografie sowohl der Massenszenen (drei Chöre mit weit über 100 Mitwirkenden!) als auch der individuellen Personenführung.

Allen voran wiederum Elsa. Jacquelyn Wagner spielt ihren Part so liebenswert glaubwürdig, geht in ihren Traumwelten auf – nie und nimmer würde man sie für eine Mörderin halten! Ihr klarer Sopran unterstreicht dies noch mit feinem Timbre und großer Strahlkraft. Die hat ihre Rivalin Ortrud freilich auch. Elena Pankratova wirkt magisch, ja dämonisch, mit gewaltigem Spektrum des vokalen Ausdrucks. Mit ihrem Telramund spielt sie einen Psychokrieg, der Mann könnte einem fast leidtun, zumal Martin Gantner ihn so inbrünstig singt wie er ihn lebensecht darstellt. Vor König Heinrich das Fürchten zu lehren fällt Hans-Peter König nicht schwer, mit massigem Bass beherrscht er die Szene, auch Bariton Markus Brück als Heerrufer ist kaum zu widerstehen.

Den Lohengrin gestaltet Tenor Eric Cutler so lyrisch wie energetisch, spielerisch ist er mal Draufgänger, der Elsa rasch an die Wäsche will, mal Sagenheld vom Stamm der traurigen Gralsritter. Einen Schwan sucht man hier vergebens, stattdessen gibt’s am Schluss noch Elsas Bruder als schaurige Wasserleich’, von Elsa selbst ans Licht gezogen.

Das Miteinander von Sächsischem Staatsopernchor, Bachchor Salzburg und dem Chor des Salzburger Landestheaters ist ein Fest, wenn auch ein Fest mit kleineren Holperern. Die unterlaufen der Bühnenmusik auch hier und da – aber wer wollte wohl mäkeln angesichts eines musikalisch überragenden Wagner-Abends, in dem die Sächsische Staatskapelle (mal wieder) ein Feuerwerk an klanglichem Kolorit abfeiern darf? Da gibt es feinste Nuancen, beinahe nur gehauchten Zärtlichkeiten, immer mal wieder eine fast aufgehobene Zeitlosigkeit, der dann aber ein orgiastisches Lospreschen folgt, eine Überwältigung, deren Zügel bei Christian Thielemann in beinahe magischen Händen liegen. Kein Wunder, dass er und die komplette musikalische Fraktion (bis auf die Leiter der drei Chöre, die fatalerweise zunächst für das Regieteam gehalten worden sind) mit Beifall und Bravi nur so überschüttet worden sind. Das Inszenierungstrio hingegen musste einen Orkan aus Buh-Rufen hinnehmen, wie es ihn in den vergangenen zehn Jahren bei den Osterfestspielen nicht gegeben hatte.

Michael Ernst | 10.04.2022

Süddeutsche Zeitung

Weiche Schale, harter Kern

Jossi Wieler und sein famoses Team deuten in Salzburg Wagners “Lohengrin” neu. Mit subtilen Verweisen auf die Gegenwart.

Es ist die vorerst letzte Produktion der Dresdner Staatskapelle und ihres Chefdirigenten Christian Thielemann bei den Salzburger Osterfestspielen. Deren künstlerische Leitung hatte er 2013 übernommen, künftig wird der neue Intendant Nikolaus Bachler mit jährlich wechselnden Orchestern arbeiten. Die Neuinszenierung von Richard Wagners Oper “Lohengrin” durch Jossi Wieler, Anna Viebrock und Sergio Morabito ist der offizielle, gegenseitige Abschiedsgruß, der große Zapfenstreich. Wie bei diesem geht es auch in Wagners Oper um Nationalpathos und Heldentum, aber anders als beim Fackelaufmarsch wird in der Oper über diese Themen laut nachgedacht. Sie sind gleichermaßen Geschichte und musiktheatralische Erzählkunst.

Wenn dies, wie jetzt in Salzburg, gelingt, dann erlebt man tatsächlich nahezu fünf Stunden lang Hochspannung. Nicht so sehr, weil man auf ein überraschendes Ende wartet, sondern weil das Spannende genau das ist, was vor dem auflösenden Ende liegt. Wie sich Menschen gegenseitig in ausweglose Situationen bringen, getrieben von starken Gefühlen und irrationalen, aber umso stärkeren Überzeugungen – das kann man in Salzburg im Großen Festspielhaus hautnah verfolgen und wird dabei auch als Zuschauer nicht nur rational herausgefordert, sondern auch emotional gepackt durch die eindringliche Kraft der Wagnerschen Komposition, deren kongeniale Umsetzung durch Christian Thielemann mit der Staatskapelle Dresden, den fast durchweg großartigen Gesang und die Schauspielkunst der Singenden.

Alle liegen dem rettenden Ritter zu Füßen, der nicht verrät, wer er ist und woher er kommt
Nur deshalb gelingt es, die Hauptfigur der Elsa (Jacquelyn Wagner) nicht wie gewohnt nur als die reine Unschuld zu deuten, sondern viel mehr als laszives Luder, das mit seinen Reizen, zu denen vor allem die Unschuldsanmutung gehört, machtpolitisch agiert. Im ersten Bild ist sie noch selbstbewusste Frau in Hosen und Blouson, im nächsten schon schlüpft sie eilends in ein bodenlanges züchtiges Kleid. Denn sie hat ihre Widersacherin erspäht, die in der bisherigen Rezeptionsgeschichte durchweg böse Ortrud (Elena Pankratova). Die hat ihren Mann Telramund (Martin Gantner) überredet, Elsa wegen Brudermordes anzuklagen. König Heinrich kommt als Richter zu keinem Richtspruch und ordnet ein Gottesurteil an: Telramund und ein von Elsa beauftragter Ritter sollen im Schwertkampf den Fall entscheiden, Gott wird den Guten gewinnen lassen.

Und genauso kommt’s. Elsa ruft übers Meer, und herbei eilt ein blonder Ritter mit dem roten Kreuz des Ritterordens vom Heiligen Grab auf gelbem Wams. Noch bevor er richtig zuschlägt, fällt der mächtige Telramund schon tot um. So schnell kann es gehen, so werden Helden geboren. Nicht nur Elsa, sondern auch König Heinrich, die Soldaten und das gesamte Volk liegen dem unbekannten Ritter zu Füßen, der nicht verraten will, woher er kommt und wer er ist. Darin besteht ein Gutteil seiner Wirkung. Der Glaube muss die Menschen retten, er wirkt stärker als Einsicht und Erfahrung. Das heißt, letztere wird nun anders gesehen, gedeutet, auch nachträglich umgedeutet.

Und so könnte diese Oper in jene märchenhafte Euphorie zurückfallen, aus der heraus Wagner sie schrieb, wie viele ein deutsches Reich herbeisehnend, das es erst zwanzig Jahre später geben wird. Zwei Weltkriege später will man von dieser Begeisterung nichts mehr wissen, vom ganzen Nationalstaatswesen nicht. Deshalb kann man diese Oper nicht mehr so aufführen, als sei historisch nichts gewesen. Das genialische Regieteam um Wieler, Viebrock und Morabito verfolgt dabei mehrere neue Ansätze. Das beginnt schon mit dem Casting. Der Retter Lohengrin, dargestellt vom amerikanischen Tenor Eric Cutler, ist kein strahlender Heldentenor, agiert mit dunklerem Timbre und selten im Fortissimo. Er ist auch kein strammer Soldat, sondern ein langhaarig-lässig herumschlendernder Hippie, der über seiner blechernen Rüstung ausgebeulte, zerrissene Khaki-Hosen trägt und oben Schlabbershirt mit Wams. Weiche Schale, harter Kern. Elsa ist hingerissen: “Als eine Blume auf der Wiese wollt ich mich beugen deinem Tritt.” So weit kommt es nicht. Als eigentliche Heldin hat die Regie aber Ortrud vorgesehen. Sie verkörpert nicht mehr nur die rachsüchtige, machthungrige Ehefrau, sie ist nun vor allem ein stabiler Gegenpol zur immer irrationaler agierenden Politik. Volk und Soldateska sind ohnehin längst in schiere Glaubensreiche abgedriftet.

Für Christian Thielemann gab es Ovationen, für das Regieteam ein paar Buhs
Aber auch König Heinrich, eben noch kluger Strippenzieher in der Eroberung unschuldiger Nachbarvölker, lässt seinen Getreuen Telramund fallen und schlägt sich auf die Seite des Traumpaares Elsa/Lohengrin. Er erscheint hier generell sehr wankelmütig. Die Regie verzichtet dennoch darauf, allzu konkrete aktuelle Bezüge herzustellen oder gar ein Gender-Drama aus dem Stoff zu basteln. Stattdessen geht sie an den Kern, den Widerstreit von rational und irrational begründetem Handeln und den Folgen daraus, und einem Rest an Unerklärlichem. Darauf legt Jossi Wieler besonderen Wert. Die Geschichte endet nicht etwa märchenhaft mit der Rückverwandlung des Schwans in Elsas Bruder Gottfried. Vielmehr taucht dieser am Ende wie aus dem Nichts auf, mit zerrissenen Klamotten und zitternd auf das Schwert des rettenden Ritters Lohengrin gestützt, er hat ja auch nichts zum Besseren bewegt.

Ein paar kräftige Buhs zeigten, dass diese nachdenkliche Regie gewirkt hat. Die vehementen Ovationen für Thielemann bestätigen auch diesen, der Musik Wagners zu vertrauen, wenn es um Dramatik geht, auch um die Vermittlung solch schwieriger Bereiche wie irrationales Denken und Handeln nach Gefühl. Viel aktueller geht’s dann doch nicht.

Helmut Mauró | 10. April 2022

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Da grinst die eiskalte Elsa

Ist es möglich, dass Richard Wagner uns einen riesigen Bären aufbindet und Elsa von Brabant eigentlich doch ihren jüngeren Bruder Gottfried ermordet hat, um selbst, entgegen den Geschlechterkonventionen, an die Macht zu kommen? Diesem Gedanken gehen Jossi Wieler, Anna Viebrock und Sergio Morabito in ihrer Neu­inszenierung des „Lohengrin“ bei den Salzburger Osterfestspielen nach – und werden dafür am Ende vom Publikum kräftig ausgebuht. Dabei ist ihr Umkrempelungs­versuch, der Elsa als Täterin betrachtet, keineswegs an den Haaren herbeigezogen. Immerhin liegt die fragliche Tat vor Beginn der Handlung. Genaueres weiß nur die „Augenzeugin“ Ortrud, die jedoch seit der Uraufführung 1850 der Lüge bezichtigt wird, auch von Wagner selbst: Im zweiten Aufzug ruft sie im finsteren fis-Moll ihrer entweihten Götter als Unterstützer ihrer Rache an, also in einer Tonart, die in der romantischen Musikästhetik als Chiffre für das Dämonische schlechthin steht.

Wieler, Viebrock und Morabito kümmern solche musikalischen Aspekte freilich wenig und schenken stattdessen Or­truds Worten Glauben: Von einer erhöhten Plattform aus – das mit unterschiedlichen Hebebühnen operierende beklemmende graue Bühnenbild spielt auf die im 19. Wiener Gemeindebezirk stehende Nussdorfer Wehr- und Schleusenanlage an – beobachtet Ortrud im inszenierten Vorspiel, wie Elsa rasch die Kleider wechselt, und erkennt aus der Ferne die fürs Publikum unsichtbare Leiche Gottfrieds. Am Ende des ersten Aufzugs wird sie ein Messer als Tatwaffe sowie eine Kette mit Schwanenanhänger als Corpora Delicti sicherstellen.

Solche Details sieht man allerdings nur von den ersten paar Reihen des Großen Festspielhauses aus, ebenso wie das schelmische Grinsen Elsas, als das von ihr herbei­gesehnte Ablenkungsmanöver in der Person Lohengrins den beginnenden Prozess gegen sie im Keim erstickt. Mit seinem plumpen Auftreten und modisch angehauchten Kreuzfahreroutfit kann man den Ritter kaum erst nehmen. Er spielt ständig zur Erheiterung einiger wenigen nahsichtigen Zuschauer mit seiner gelockten Haarpracht und möchte Elsa am liebten noch im ersten Aufzug flachlegen. Dieser Lohengrin ist ein Nerd, der offenbar zu viele Ritterromane gelesen hat und bereitwillig der holden Maid in höchster Not zu Hilfe eilt. Erst spät erkennt er, dass er von Elsa als Werkzeug benutzt wurde, um ihren Mord zu vertuschen.

Das Regieteam verfolgt noch einen weiteren Interpretationsstrang. In Lohengrins Forderung an Elsa, „Nie sollst du mich befragen“, erkennen sie den Einzug des Irrationalen in eine aufgeklärte Gesellschaft, denn der namenlose Unbekannte kann nur dann erfolgreich sein, wenn ihm bedingungslos vertraut wird. Die Gefahren, wohin ein Frageverbot führen kann, werden auf vielfältige Weise gezeigt: Elsa muss im Brautgemach auf brutale Weise feststellen, dass sie sich keinen Freiraum, sondern neue Abhängigkeit erworben hat. Ortrud, die sich als Einzige nicht dem neuen Messias unterwirft, wird aus der gleichgeschalteten Gesellschaft ausgeschlossen. Die zahlreichen Choristen und Statisten, die am Anfang noch in unterschiedlichsten Kleidungsstilen gewandet die Szene be­spielten, stehen am Ende uniformiert als Soldaten und Krankenschwestern vor dem König, der zur Generalmobilmachung aufruft. Es ist vielleicht die stärkste Interpretation des Abends – eine von erschreckender Aktualität, auch ganz ohne Flaggenmeer aus russischem Weißblaurot.

Sicherlich muten Wieler, Viebrock und Morabito mit ihrer kräftig gegen gewohnte Rezeptionsweisen gebürsteten Inszenierung den Besuchern einiges zu. Sie rechnen bei ihnen nicht nur mit überdurchschnitt­licher Librettokenntnis, sondern eben auch mit einem Platz in den ersten Reihen und wachem Geist fürs analytische Detektieren von Details. Dass ein Großteil des Publikums daran keine Freude hat, kann man ihm kaum verübeln.

Christian Thielemann gibt indessen am Pult der Sächsischen Staatskapelle Dresden den leibhaftigen Gralsritter – und einen radikalen gleich noch mit dazu, alles zur Steigerung eines Rauschs, dem man sich gerne hingibt. Jubelstürme auch für Martin Gantner für seine Rollenstudie des verzweifelten Telramund, zu dem der Regie neben Fäusteballen und einer etwas pein­lichen Amoklauf-Szene ohne Tote sonst nichts eingefallen ist. Elena Pankratovas Ortrud hat Kraft und Farbe; auch sie wird mit kräftigem Applaus bedacht. Eric Cutler ist hingegen als Lohengrin nur vielversprechend. Zu sehr stenografiert er seine Partie, bietet dafür aber hohe Textverständlichkeit. Auch Jacquelyn Wagner als Elsa muss zumindest noch stimmlich in die Rolle hineinwachsen. Ihr Sopran ist zu zart und noch zu leicht, als dass sie über die lauten Orchesterstellen hinaustönen könnte. Tadellos sind die drei Chöre, deren musikalische Leiter André Kellinghaus (Staatsopernchor Dresden), Christiane Büttig (Bachchor Salzburg) und Carl Philipp Fromherz (Chor des Salzburger Landestheaters) als missgedeutetes Regieteam einige Buh-Rufe abbekamen.

Mit „Lohengrin“ steht Thielemann zum letzten Mal als Künstlerischer Leiter am Pult bei den Osterfestspielen. In acht regulären Festivalausgaben dirigierte er neben Wagner auch überraschend viel italienisches Repertoire, darunter Verdis „Otello“ und Puccinis „Tosca“. Eine geplante „Turandot“ kam pandemie­bedingt ebenso wenig zustande wie eine Neuproduktion von Verdis „Don Carlo“. Er verlässt Salzburg auf dem Zenit seines Erfolgs und hinterlässt dem neuen starken Mann an der Salzach, Nikolaus Bachler, eine Herkulesaufgabe. Ob dessen Konzept, jedes Jahr ein anderes Spitzenorchester zu Ostern nach Salzburg zu locken, aufgeht, muss sich erst zeigen. Denn ob im kommenden Jahr das Publikum bereit ist, 490 Euro pro Karte für Romeo Castelluccis fragwürdige „Tannhäuser“-Produktion hinzublättern, die bereits 2017 an der Bayerischen Staatsoper durchfiel, ist zumindest fraglich.

FLORIAN AMORT | 11.04.2022

Münchner Merkur

Die Toten von Salzburg

Ein letztes Mal war ihm bei den Salzburger Osterfestspielen ein Operntriumph vergönnt: Christian Thielemann dirigierte „Lohengrin“ am Pult seiner Dresdner Staatskapelle. Die Regie von Jossi Wieler rückte Elsa als Schuldige ins Zentrum, enttäuschte aber.

Die Stärkste von allen macht am Ende kurzen Prozess mit der Männerwelt und fackelt sie ab. Und wenn man Brünnhilde nimmt samt ihrer Wagner-Schwestern im Geiste, Sieglinde oder Senta, alle von Machos verraten, so fragt man sich schon: Warum muss Elsa das ewige Hascherl sein? Vielleicht hat sie sogar mehr auf dem Kerbholz, als es der beseelte Gesang suggeriert, das argwöhnt jedenfalls Jossi Wieler.

Mit seinen Regie- und Ausstattungsmitstreitern Anna Viebrock und Sergio Morabito riskiert er eine Umkrempelung von Wagners „Lohengrin“, kratzt dabei an einem ganz anderen Frageverbot: Und wenn Elsa aus Machtgründen ihren Bruder Gottfried tatsächlich beseitigt hat und Lohengrin als Marionette benutzt? Viel Sprengstoff bietet der Perspektivenwechsel. So viel, dass sich das Publikum im Großen Festspielhaus gleich mal die drei unschuldigen Chorleiter vornimmt, sie fürs Regieteam hält und ausbuht.

Es gilt weiter das Grundgesetz der Osterfestspiele: Wegen der Regie zahlt keiner bis zu 490 Euro. Schon eher (manche fast ausschließlich) für den Schwanengesang eines Salzburger Matadors. Letztmals vertraut das Spektakel bekanntlich auf Christian Thielemann, der nach dem Willen des neuen Intendanten Nikolaus Bachler samt der Staatskapelle Dresden hinausgekickt wurde.

Thielemanns „Lohengrin“ ist extremistischer als in Bayreuth
Thielemann lässt sich vom längst verwundenen Duell zumindest noch musikalisch provozieren. Seine Waffe bleibt die bestmögliche Notenkenntnis; Wagner, vor allem dessen Schwanensaga, hat er inhaliert. Extremistischer klingt dieser „Lohengrin“ als sein jüngster in Bayreuth, mit größeren Partitur-Ausschlägen. Die leisen Stellen betrifft das, die kurz über der Hörbarkeitsgrenze entfaltet werden. Den Streicherzauber, mit dem der Abend während der Elsa-Ortrud-Szene ins Utopische abhebt. Das körperlich spürbare Giga-Crescendo, mit dem der zweite Akt endet. Überhaupt die Klangmixturen, in denen trotzdem jede Zutat hörbar ist. Natürlich darf dieser „Lohengrin“ auch brausen, doch selbst in der Höchstdramatik ist alles kundig und stilvoll abgeschmeckt.

Ehrensache, dass dabei keiner auf der Bühne überfahren wird. Und da hat Thielemann mehr zu tun in Bayreuth. Eric Cutler, ein cooler, aus dem Mittelalter in die Zwanzigerjahre geholter Kreuzritter, ist die Nervosität anzumerken. Eigentlich hätte er alles für den Lohengrin, das Textbewusstsein, energiereiche Töne, eine unverspannte Stimmführung ab der kniffligen oberen Mittellage. Und doch wirkt vieles gemacht, nicht erfühlt. Was noch fehlt, ist ein ausgreifendes Legato, ein Phrasenfinish, die Draufsicht – trotzdem ein bemerkenswerter erster Entwurf.

Elena Pankratova mit ihrer neutralen Dramatik bleibt unter den Erwartungen. Hans-Peter König als König Heinrich weiß auch im Pensionsalter noch, wie er sein Bass-Geschütz in Stellung bringen kann. Markus Brück ist als Heerrufer überbesetzt, könnte mühelos zum Telramund wechseln. Doch der ist Martin Gantner vorbehalten, dem die ausgefeilteste Studie glückt: kein Bariton-Brüller, sondern ein feiner, intelligent dosierender Vokalflorettfechter. Wie man Text und (schwere) Töne in Einklang bringt und daraus Rollenerkenntnis gewinnt, das führt Gantner vor.

Elsa schuldig am Tod ihres Bruders
Ganz im Sinne Wagners rücken auch Wieler/Morabito/Viebrock die beschuldigte Erbin von Brabant ins Zentrum. Eine selbstbewusste Frau, manipulativ ihrem Volk gegenüber. Jacquelyn Wagner spielt das faszinierend, singt dazu mit feinherber Sopran-Intensität. Dass diese Elsa ihren Bruder während des Vorspiels im Bühnenkellerloch ertränkt hat, deutet die Regie an. Auch, dass Lohengrin (mit dem sie sich schon nach Akt eins eine heiße Szene gönnt) ein Komplize ist.

Als Kreuzritter ist er vom Schlage jener heiligen Krieger, auf die sich die vereinigte Männerkämpferwelt nur zu gern beruft. Im Salzburger „Lohengrin“ ist das eine Soldateska aus dem Ersten Weltkrieg, die von einer Art Hindenburg-Heinrich befehligt wird. Schauplatz ist nicht die Schelde, sondern – typisch Viebrock – eine nicht genau definierte Kanal-Stauwehr-Situation. Zum tierlosen Schwanenwunder gerät die aus den Fugen. Im ersten Akt geht Wielers Thriller-Vorsatz tatsächlich auf. Doch mit zunehmender Dauer driftet der Abend ins Stereotype. Je mehr sich in der Ästhetik historisches Zitat und Jetztzeit vermischen, desto häufiger wähnt man sich in einem 08/15-„Lohengrin“. Zu Wieler/Morabito, diesem fein abwägenden, tief bohrenden Duo, passt das gar nicht. Der Verdacht: Beide sind nicht fertig geworden in der knappen Osterfestspiel-Probenzeit. Der zweite Versuch unter besseren Bedingungen ist schon vereinbart – demnächst an der Wiener Staatsoper.

Markus Thiel | 1.04.2022

Wiener Zeitung

Wagner entzaubert und auf den Kopf gestellt

Ortrud und Telramund, Elsas und Lohengrins Gegenspieler um den Thron, zeigt die Regie als tapfere Partisanenkämpfer, die das Blendwerk des vermeintlichen Erlösers aufzudecken suchen. Sie sind die einzigen, die das faule Spiel durchschauen, sich gegen diese Herrschaft des Irrationalen auflehnen. Das moralische Recht dieser Produktion scheint auf ihrer Seite. Der vermeintliche Bruder-Mord Elsas wird zum Kriminalfall, sie selbst erfährt durch das Abziehen Lohengrins nicht den Tod, sondern Emanzipation. Endlich wird sie nicht mehr von einem Mann dominiert und hat im Finale symbolisch Hosen an.

Entzauberung an einem nebeligen Un-Ort
Angesiedelt ist die Handlung in einem vagen Gestern Anfang des 20. Jahrhunderts, die trostlose Bühne zeigt einen nebeligen Un-Ort, ein Hybrid aus Kanal-Schleuse, Industrie-Hafen und Hinterhof. All das bürstet das Werk nicht nur gegen jeden (romantischen) Strich, sondern entzaubert und verleugnet es, gibt seinen Helden der Lächerlichkeit preis und ist zudem ganz klar gegen die Musik inszeniert. Der Erkenntnisgewinn ist hingegen überschaubar. Das sah am Freitag auch das Premierenpublikum so, auf das Regieteam ging ein Buh-Hagel nieder.

Bei den diesjährigen Osterfestspielen in Salzburg erreicht diese Methode einen absoluten Höhepunkt. Das Regieteam Jossi Wieler, Anna Viebrock und Sergio Morabito hat Richard Wagners “Lohengrin” gleich komplett umgedreht, die Perspektive von Gut und Böse gewechselt. Eingeschliffene, gusseisern verfestigte Gewissheiten über das Stück aufbrechen, nennt es das Leading-Team.

Gefeierte wurde dagegen bereits vor dem ersten Ton Christian Thielemann, der das Festival nach knapp zehn Jahren als künstlerischer Leiter verlässt. Was die Salzburger vermissen werden, zeigte schon das Vorspiel, das Thielemann am Pult der Sächsischen Staatskapelle Dresden als von Morgentau benetztes Silbergeflecht in den Raum spann. Das von der Regie optisch verweigerte Heilsversprechen einer Liebe ohne Reue, es erstrahlte hier zumindest musikalisch in den hellsten Farben. Überhaupt ist Christian Thielemanns Wagner transparenter, ja transzendenter geworden.

Die Sänger trägt das nicht immer. Musikalisch ist diese Produktion insgesamt durchwachsen, den stimmlich charaktervollsten Beitrag leistet Martin Gantner als markant dramatischer Telramund, Elena Pankratova ist eine solide, aber wenig abgründige Ortrud, die statt auf Dunkelheit auf Schärfe setzt. Hans-Peter König ist ein sonorer, wenn auch müder Heinrich. Die Elsa von Jacquelyn Wagner ist lyrisch gedeckt, für das Große Festspielhaus verfügt ihr Sopran jedoch über zu wenig Strahl- und Tragkraft. Und Eric Cutler als Lohengrin verfügt zwar über Stimme und Glanz für die Titelpartie, er bleibt in der Stimmführung jedoch hölzern.

Einfach abhaken lässt sich die Geschichte dieses “Lohengrin” mit dem Ende dieser Osterfestspiele jedoch nicht. Als Koproduktion mit der Wiener Staatsoper hat sie noch eine Reise vor sich – vielleicht auch noch eine Weiterentwicklung.

Judith Belfkih | 10.04.2022

Rating
(6/10)
User Rating
(3/5)
Media Type/Label
Technical Specifications
600 kbit/s VBR, 48.0 kHz, 915 MByte (flac)
Remarks
In-house recording (dress rehearsal)
A production by Jossi Wieler, Anna Viebrock and Sergio Morabito (2022)