Die Meistersinger von Nürnberg

Karen Kamensek
Chor und Extrachor der Staatsoper Hannover
Niedersächsisches Staatsorchester Hannover
Date/Location
8 Juni 2013
Staatsoper Hannover
Recording Type
  live  studio
  live compilation  live and studio
Cast
Hans SachsAlbert Pesendorfer
Veit PognerPer Bach Nissen
Kunz VogelgesangMarkus Plitsch
Konrad NachtigallByung Kweon Jun
Sixtus BeckmesserStefan Adam
Fritz KothnerMichael Dries
Balthasar ZornEdward Mout
Ulrich EißlingerRoland Wagenführer
Augustin MoserTivadar Kiss
Hermann OrtelReuben Willcox
Hans SchwartzMartin Busen
Hans FoltzDaniel Eggert
Walther von StolzingRobert Künzli
DavidIvan Tursic
EvaJosefine Weber
MagdaleneMareike Morr
Ein NachtwächterShavleg Armasi
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Online Musik Magazin

Einmal um die ganze Welt

Mit einer Neuinszenierung der Meistersinger von Nürnberg durch Benedikt von Peter wollte die Staatsoper Hannover den Premierenreigen dieser Spielzeit mit einem außergewöhnlichen Höhepunkt beschließen. Nach der grandiosen, von Publikum und Presse überregional gefeierten und immer ausverkauften Traviata war man ausgesprochen gespannt darauf, wie der Regisseur mit diesem wundervollen wie sperrigen Werk umgehen würde. Doch leider waren die Vorstellungen des Regisseurs in der gewollten Form in Hannover nicht umsetzbar und so entschied man sich, auf die Zusammenarbeit für die Meistersinger – und glücklicherweise nur für diese Produktion – zu verzichten. Die Enttäuschung war groß.

Olivier Tambosi, der in Hannover bereits den Falstaff inszeniert hat, wurde erst im Januar als Einspringer genannt. In dieser kurzen Zeit ein vollständig neues Konzept samt Bühnenbild und Kostümen zu erdenken und umzusetzen, ist schier unmöglich. Dennoch wäre es offener gewesen, wenn die Staatsoper Hannover erwähnt hätte, dass es sich um einen zweiten Aufguss der Linzer Meistersinger aus dem Jahr 2010 des Regisseurs und seines Bühnenbildners handelt. Damit kam eine zweite Enttäuschung hinzu. Nun gibt es viele Inszenierungen, die es wert sind, an mehreren Opernhäusern gezeigt zu werden. Für diese Meistersinger gilt das nicht uneingeschränkt.

Tambosi lässt Nürnberg noch während des Vorspiels regelrecht demontieren. Als Bühne auf der weißen Bühne sieht man einen stimmungsvoll beleuchteten, historisch angehauchten Prospekt der Stadt in dessen Namensschrift ein nasenloses Kichergesicht das „Ü“ bildet. Fröhlich winkende Kinder aus vielerlei Nationen zerlegen das Bild in seine einzelnen Sehenswürdigkeiten und tragen sie von der Bühne. Eine leicht provokante Darstellung, die mit Voreingenommenheiten und Ängsten gleichermaßen spielt. Der Regisseur verlegt die Handlung von einer lokalen auf eine globale Ebene. Alle Darsteller tragen T-Shirts in verschiedenen Farben mit Schriftzügen internationaler Städtenamen, Sachs „Tel Aviv“, Stolzing „Teheran“, Eva „Nairobi“, David „Rom“, Lene „New York“ Pogner Istanbul und der blonde Kothner „Oslo“. Beckmesser wechselt als einziger die Namen von „Sonne“ über „Mond“ zur „Erde“. Interessant ist die kostümliche Gleichstellung von Beckmesser und Stolzing: schwarze Hose, schwarzes T-Shirt und darüber ein offen getragenes weißes Hemd (Kostüme: Carla Caminati).

Als dominierendes Bühnenbildelement (Bühne: Bengt Gomér) dient eine offensichtlich von Eva gestaltete, fast bühnengroße Leinwand mit bunten Worten in vielen Sprachen und Schriften. Statt in der Katharinenkirche treffen sich die Meistersinger zur Brotzeit unter einem Apfelbaum, mit dessen Früchten Eva ihrer biblischen Namensgeberin alle Ehre macht. Doch „hier gilt’s der Kunst“. Beckmesser sprüht dieses Zitat aus dem zweiten Akt in roter Schrift auf den weißen Vorhang, während er mit Eva flirtet. Rot ist Evas T-Shirt, rot Beckmessers Ukulele – vielleicht hat das eine symbolische Bedeutung. Zwischen Eva und Stolzing gibt es nicht erst eine dezente Annäherung, sondern gleich eine wilde Knutscherei. Die einzelnen Meistersinger sind individuell gezeichnet, geistreich witzig, zuweilen aber auch am Rande der Karikatur. Herrlich, wie Bäcker Kothner mit dem Organisatorischen der Sitzung überfordert ist. Dass Konrad Nachtigall („Paris“) als tuckiger Handtaschenträger in Pumps auftritt, ist ein bisschen zu viel, genauso wie der strickende Hans Schwarz. Ganz überzeugend ist die Verwirrung und Ablehnung dargestellt, die Stolzing mit seinem Lied unter den Meistern verursacht, ebenso wie die Faszination der Lehrbuben, die als zukünftige Meister kurzerhand die Stühle der alten besetzen. Am Ende des ersten Aktes erscheinen Beckmesser und Sachs beide von Stolzings Lied beeindruckt und verwirrt. Als Beckmesser Sachs dann befehlend bedeutet, dass er seine Schuhe zur Reparatur mitnehmen muss, wird klar, dass die beiden auch eine Geschäftsbeziehung haben.

Im zweiten Akt hängt die Schriftwand schräg im Raum über der Bühne. Sachs darf tatsächlich und wirklich schustern und Eva schmeißt sich neckisch an ihn heran, um etwas über Stolzings Probesingen zu erfahren. Die Szene Beckmesser/Sachs wird zu einem schauspielerischen wie sängerischen Kabinettstückchen allererster Güte, urkomisch, aber nicht klamottig. Besonders ein herzzerreißendes, nicht im Libretto stehendes „Nein“ des trotzig-traurigen, kindisch beleidigten Beckmessers sorgt für allgemeine Erheiterung. Magdalene sitzt in Bettzeug versteckt auf einer Leiter, während Eva und Stolzing die Szene kuschelnd unter einer Bettdecke beobachten. Die Prügelei (auch auf ihren Nachthemden trägt die Weltbevölkerung ihre Städtenamen), aus der Sachs David mit einem Tritt in den Hintern (der in Wagners Regieanweisung steht) ins Haus zurückholt, endet in einer erotischen Kuschelorgie, zu der Beckmesser freundlich eingeladen wird, was er aber ebenso freundlich ablehnt.

Als Schusterstube erscheint wieder die kleine Bühne auf der Bühne, ganz schwarz vor dem weißen Hintergrund. Sachs malt ein großes Herz auf eine Leinwand, darum herum notiert er später den Text des Preisliedes, der nur aus dem immer wiederholten Wort „Liebe“ besteht. Die Sehnsucht des gar noch nicht so alten Mannes bricht sich aggressiv Bahn, wenn er Eva in Stolzings Armen sieht, aber noch viel anrührender, wenn er nach dem Quintett allein dasteht, während sich beide Paare innig und glücklich umarmen. Das sind ganz starke Momente einer großartigen Personenregie. Sachs hat Beckmesser nicht nur im übertragenen, sondern im wortwörtlichen Sinne ein „Verslein“ auf die Sohlen geschrieben: deutlich lesbar steht dort „Takt“.

Es gibt so viele Feinheiten in der Personenregie, die einfach Spaß machen, Beziehungen und Situationen verdeutlichen und dem Ganzen eine lebendige, fast natürliche Note verleihen. Sehr subtil ist das Verhältnis zwischen Sachs und Beckmesser beleuchtet, das zunächst als dicke Freundschaft erscheint, die sich zwar verändert, aber auch nach dem Streit in der Schusterstube immer noch von Respekt füreinander geprägt ist. Die Freundlichkeit, die Eva Beckmesser entgegenbringt, führt dieses Verhältnis aus der einseitig ablehnenden Eindimensionalität heraus. Ganz besonders gut ist die intensive Charakterisierung Beckmessers gelungen.

Schade nur, dass der Regisseur die Festwiese als Fest größtenteils verweigert. Der Aufzug der Zünfte wird zwar vom gesamten Herrenchor gesungen, szenisch aber nur mit Gesten angedeutet. Dann wird die Bühne leer und ein einzelnes Paar wiegt sich mehr schmusend als tanzend im Takt. Die Bühne füllt sich wieder und Beckmesser tanzt ebenso kuschelnd mit einem Mann. Zum zunächst nur musikalischen Einzug der Meistersinger dirigiert er sich einsam auf der Bühne in Ekstase, was von den An- und Zurückkommenden besorgt, belächelnd und schließlich auslachend beobachtet wird. Das Volk überfüllt die Bühne und steht mit dem Rücken zum Publikum, während Eva und Beckmesser erhöht dahinter platziert sind, so dass man vom Parkett aus nur ihre Köpfe sieht. Mit unglaublichem Schöngesang beginnt Beckmesser das fremde Lied über dessen roten Text er die Worte „Armut, Krieg, Hunger“ in Schwarz gesetzt hat. So kann das nichts werden. Trotzig und wütend faucht er schließlich den letzten Teil und setzt sich tief verletzt auf die Vorderbühne, während hinter ihm der Triumpf des Konkurrenten stattfindet. Traurig sieht Beckmesser Eva in Stolzings Armen, aber er hat Charakter genug, sich mit dem Sieger gratulierend zu versöhnen. Zum begeisterten Finale ziehen alle ihre T-Shirts aus und schwenken sie jubelnd über ihren Köpfen. Nun sind sie alle einheitlich gekleidet, unten schwarz und oben weiß oder nichts. Weltfrieden in kultureller Einigkeit. Naja. Wenn das denn so einfach wäre.

Als Crux der ganzen Produktion erweist sich der Eingriff des Regisseurs in Wagners Libretto. Ein gewagter Schritt, der das Werk in ungewöhnlich drastischer Form dem Regiekonzept unterordnet. So ist Pogner nicht in „in deutschen Landen weit gereist“, sondern „in vielen Landen“, das Weib in Davids Johannistag-Vers kam nicht „aus Nürnberg“, sondern „von weither“, und der Johannes heißt auch nicht „an der Pegnitz“, sondern schlicht „auf einmal“ Hans. Im Fliedermonolog singt Sachs nicht liebevoll spöttelnd „liegt nicht in Deutschlands Mitten mein liebes Nürenberg!” sondern etwas schwülstig „liegt nicht die Stadt inmitten von Wiesen, Wald und Berg” und Beckmesser wünscht Sachs später, „dass die Welt dann schusterlich blüh und wachs” und nicht nur „Nürnberg”. Die Schuster erzählen bei ihrem Auftritt auf der Festwiese nicht von „Nürenberg”, sondern von der „Stadt, die einst belagert war” und die „Mädel von Fürth” werden kurzerhand zu „Mädel zum Tanz”. Den Geburtstagschor für Sachs beschließt das Volk nicht mit „Heil”- sondern mit „Preis”- Rufen. Spätestens hier bleiben die Eingriffe in den Text nicht dabei lokal in global zu verändern, sondern es kommt ein politischer Aspekt hinzu, der auch in die Anpassung von Sachsens Schlußansprache eingeflossen ist.

Wagner:

„…blieb sie doch deutsch und wahr…
…Zerfällt erst deutsches Volk und Reich,
in falscher welscher Majestät
kein Fürst bald mehr sein Volk versteht,
und welschen Dunst mit welschem Tand
sie pflanzen uns in deutsches Land;
was deutsch und echt, wüsst’ keiner mehr,
lebt’s nicht in deutscher Meister Ehr.
Drum sag ich Euch:
ehrt Eure deutschen Meister!
Dann bannt Ihr gute Geister;
und gebt Ihr ihrem Wirken Gunst,
zerging in Dunst
das heil’ge röm’sche Reich,
uns bliebe gleich
die heil’ge deutsche Kunst!”

Tambosis Fassung:

„… blieb sie doch echt und wahr…
…An Geist und Wissen nicht mehr reich,
verarmt im Herzen und im Sinn,
gibt sich kein Mensch der Kunst mehr hin.
Mit seichtem Dunst und seichtem Tand
begnügt man sich ringsum im Land.
Was Kunst uns gibt, wüsst’ keiner mehr,
lebt’s nicht in wahrer Meister Ehr.
Drum sag ich Euch:
Ehr Eure wahren Meister,
dann bannt Ihr gute Geister!
Und gebt Ihr ihrem Wirken Gunst,
zerging’ in Dunst,
auch jedes ird’sche Reich,
uns bliebe gleich
die ewig neue Kunst!“

Zwar hat der Regisseur in seiner Textfassung die Reizwörter entfernt, die vielen Hörern nach den Grausamkeiten des Dritten Reiches regelmäßig mit Schrecken in die Glieder fahren, doch wohler fühlt man sich dabei auch nicht, denn den Originaltext kennt man ja doch. Hier täte eher Aufklärung Not, die deutlich macht, dass diese Begriffe für Wagner eine andere Bedeutung hatten, dass Wagner sich hier auf ein kulturelles, sprachliches Deutsch bezieht, nicht auf ein politisches. Wäre es nicht nachhaltiger und ehrlicher zu versuchen, Wagners Werk von einem Teil des Ballasts seiner Rezeptionsgeschichte und gerade vom politischen Missbrauch zu befreien, anstatt einen anscheinend problematischen Text einfach zu verändern, ja weichzuspülen?

Vom Aspekt der Globalisierung aus betrachtet bringen uns die Eingriffe in das Libretto auch nicht wirklich weiter. Wer definiert denn, was „echte und wahre“ Kunst ist, was „seichter Dunst und seichter Tand“ ist? Und wer bestimmt die „wahren“ Meister? Wagner ist da im Original sehr viel konkreter, wenn Sachs vor romanischen Spracheinflüssen warnt – und viel aktueller, wenn man beispielsweise an die heutigen Anglizismen denkt.

Ein weiterer Punkt erscheint ebenso hochproblematisch: Tambosi lässt Sachs singen „uns bliebe gleich die ewig neue Kunst!“, nicht „die ewig wahre Kunst“, wie man aus dem Vorhergehenden erwarten würde. Möglicherweise möchte er hiermit Wagners dringliche Aufforderung „Kinder schafft Neues!“ aus der Bayreuther Zeit einbringen. Ein bisschen riecht es aber auch nach einem Freifahrtschein für einen sehr freien Umgang mit bestehenden Werken. Mit seiner Grenzüberschreitung – der Veränderung des Textes – hat der Regisseur mehr Fragen aufgeworfen als gelöst und letztendlich sich selbst widersprochen, denn „wahre Kunst“ wird nicht „wahrer“, wenn man sie nach eigenen Bedürfnissen passend macht.

Hannovers GMD Karen Kamensek dirigiert ein sehr durchsichtiges, detailorientiertes und dem leichten Klang verschriebenes Vorspiel und vermeidet zunächst jeden festlichen oder üppig schwelgenden Klang. Momentweise klingt die Musik fast steril, zuweilen hölzern. Über den Abend hinweg entwickelt sich der Umgang mit den Wagnerschen Klängen jedoch vom eher sachlichen, akademischen Beginn aus deutlich fort und findet in der Schusterstube Höhepunkte schwelgerischer Intensität. Das Staatsorchester folgte diesem Konzept, wenn auch gerade zu Beginn mit ein paar Ungenauigkeiten.

Albert Pesendorfer wurde als leicht indisponiert angesagt, hat die Partie aber fantastisch gesungen und bis zum Schluss durchgehalten. Seinem charakteristischen Bass entlockt er wohlgestaltete, üppig strömende Töne, kann sich aber ebenso gestaltungsintensiv zurücknehmen, auch wenn ich am Premierenabend den Eindruck hatte, dass er auf ein paar Feinheiten verzichtete, die er beispielsweise als Sachs in der letzten Nürnberger Produktion hören ließ, um mit seiner leicht angeschlagenen Stimme kein Risiko einzugehen. Stefan Adam gab ein grandioses Beckmesser-Debüt. Ein runder, satter Bariton mit einer großen Klangpalette, die er zu intensiver Gestaltung in voller Breite nutzt. Er ist ein außergewöhnlicher Sängerdarsteller der Extraklasse mit besonders ausgeprägtem komisch-tragischen Talent – schauspielerisch wie stimmlich. Eine große Leistung, trotz eines Schmisses im zweiten Akt und kurzen Passagen, in denen man den Eindruck hat, dass er noch nicht ganz über der Partie steht.

Robert Künzli begeisterte als Wagner-Heldentenor in Hannover zuletzt als fulminanter Siegfried. Er singt den Stolzing als (auch tenoraler) Draufgänger, der mit metallischer Strahlkraft in der Höhe begeistert, sich in dieser Partie jedoch gern etwas stärker an seine lyrischen Qualitäten erinnern dürfte. Josefine Weber gibt die Eva als ein quicklebendiges, überschwängliches junges Mädchen mit viel Schönklang, dem ein wenig mehr Volumen auch stimmlich die intensive Präsenz der Darstellung geben würde. Ein wunderschönes Timbre und die exakte Artikulation, die nie gekünstelt wirkt, sondern zu einem sehr präsenten Stimmklang führt, lässt Mareike Morr als Magdalene eine Luxusbesetzung sein. Ebenso der fast schon sakral klingende Nachtwächter von Shavleg Armasi, der seinen balsamischen Bass von der Mitte des ersten Ranges aus verströmte. Ivan Turšić ist mit seinem jugendlichen, ideal hell timbrierten Tenor ein überzeugender David. Per Bach Nissen verleiht dem Pogner Basses Stimmgewalt, Michael Dries gestaltete den Kothner stimmlich satt und markant. Klangstark aber kultiviert klingen die von Dan Ratiu einstudierten Chöre.

FAZIT

Eine Produktion, die musikalisch und sängerisch sehr ordentlich bis eindrucksvoll besetzt, szenisch aber in wenig ansprechende Bühnenbilder gekleidet ist. Immer wieder gibt es richtig gute Personenregie zu sehen. Mit der Veränderung einzelner Worte und Passagen von Wagners Text hat der Regisseur eine Grenze zur Unterordnung eines Werkes unter ein Regiekonzept überschritten, die ich persönlich lieber gewahrt wissen möchte. Zumal sie in diesem Fall mehr Fragen aufwirft als Nutzen bringt.

Bernd Stopka |Premiere im Opernhaus Hannover am 8. Juni 2013

opernnetz.de

Multikultis suchen die wahren Meister

Zu Beginn steht es noch auf der Bühne: Nürnberg. Die putzigen Häuschen mit Stadt-Überschrift werden zur Ouvertüre im kleinen Fenster, das zentriert in die große, weiße Wand eingeschnitten ist, wie bei einem Sonnenaufgang erleuchtet. Mit dem ersten Aufkommen des Beckmesser-Motives kommen Kinder auf die Bühne und räumen die Stadt beiseite. Ein schönes Bild dafür, wie Regisseur Olivier Tambosi mit der Rezeptionsgeschichte des Werkes aufräumen will. Die Meistersinger ohne Nürnberg – auch im Text, in dem Tambosi alles Nationale inklusive der großen Mahnworte zum Schluss streicht. „Mit seichtem Dunst und seichtem Tand, begnügt man sich ringsum im Land … Ehrt Eure wahren Meister…zerging in Dunst auch jedes ird’sche Reich, uns bliebe gleich die ewig neue Kunst“, singt Hans Sachs nun im Finale. Man kann sicher darüber diskutieren, ob ein derartiger Eingriff in den Text sinnvoll oder gar erlaubt ist. Musikalisch verliert die Ansprache des Sachs mit dem neuen Text nicht an Wirkung, im Inhalt findet sich viel Wahres, aber auch ein dekorativ erhobener Zeigefinger.

„Ich habe Nürnberg und Deutschland aus diesem Stück entfernt, weil das nur reine Dekoration ist, die den Blick auf das Wesentliche verstellt“. Gefährlich werden diese Worte Tambosis für seine Inszenierung selbst, gleitet sie doch ebenfalls stellenweise ins Seichte ab, wo er beabsichtigt, Tiefgang zu erzeugen. Etwa im Finale des zweiten Aktes: Mangels einer Stadt hat Bengt Gomérs Bühnenbild nur eine hohe Stehleiter zu bieten. Eva und Stolzing verstecken sich also unter einer Bettdecke, Magdalene klettert hinter Kissen und Decke getarnt (!) gefährlich auf der Leiter herum, damit Beckmesser sie von unten ansingen kann. Ein Fenster, das auch ein globales Element gewesen wäre, hätte der Szene diese Peinlichkeit erspart. Die Übertitel erweisen sich dabei ebenfalls als Feind der Inszenierung, wenn sie von Gebüsch, Linde und Fenster sprechen.

Es gibt einige Fragezeichen, die Tambosis Konzept hinterlässt, doch man darf darüber nicht die positiven Seiten der Produktion außer Acht lassen. Vor allem der erste Akt bietet eine sehr starke und flüssige Personenführung. Die erste Begegnung zwischen Stolzing und Eva und vor allem die individuelle Meistersitzung, die von ungewohnter Herzlichkeit ist. Hier wird um die Sache gestritten, nie um die Person. Auch Sachs und Beckmesser begegnen sich mit großem Respekt und albern miteinander herum. Alle tragen die gleichen saloppen Kostüme aus Hose und Shirt, die man problemlos zum Streichen der Wände anziehen könnte. Auf den farbenreichen T-Shirts prangen unterschiedliche Städtenamen von Rom bis Oslo. Lediglich beim Kostüm der Eva hätte Carla Caminati auf die Leggins verzichten dürfen, die sehr unvorteilhaft wirkt. Das total schlichte und reduzierte Bühnenbild weist mit einer farbigen Rückwand auf den großen Wunsch der Hauptpersonen hin. In allen Sprachen steht dort etwas von Liebe und verliebt sein. Besonders betrifft das Beckmesser, der sich in seinem überintensiven Bemühen um Kunst und Liebe selbst zum Außenseiter macht. Tragisch und komisch zugleich sieht es aus, wenn er im dritten Akt zunächst allein auf der Bühne steht, sich in Ekstase dirigiert und gar nicht bemerkt, dass sich die anderen irritiert und amüsiert um ihn scharen. Dass er am Ende Stolzing zu seinem Sieg gratuliert, rückt ihn weit weg vom normalen Klischee des Verlierers.

Durch die Erkrankung von Albert Pesendorfer, der den Sachs singen sollte, bekommt die Aufführung ein Problem. Man ist gezwungen, auf eine Doppellösung auszuweichen. Regieassistent Charles Ebert muss man dankbar sein, dass er sich als Schauspieler zur Verfügung stellt, doch fehlt ihm trotz sichtlicher Steigerung über die Akte die szenische Präsenz und das Verhältnis zum Text für die zentrale Rolle. Ralf Lukas singt gut gelaunt den Sachs von der Seite, und bei seiner ersten großen Ansprache Verzeiht, vielleicht schon ginget ihr zu weit zieht er unglücklicherweise fast alle Blicke auf der Bühne auf sich. Kein Wunder: Seine Worte haben Kraft und Ausdruck, seine Stimme ruht stets auf dem Körper und bewahrt sich bis in die Höhen den schön sonoren Kern. Eine großartige Leistung! Auch ansonsten stellt Hannover eine respektable Besetzung auf die Bühne: Stefan Adam kämpft zuweilen mit Problemen in der Übergangslage. Sein großartiger Beckmesser ist pointiert, aber frei von Übertreibungen gesungen und passt sich somit der Szene an. Robert Künzli strotzt szenisch und vokal mit jugendlicher Unbekümmertheit. Im Piano offenbart sich aber ein aspirierter Tonansatz. Josefine Webers Eva strahlt in der Mimik und in der sehr angenehm klingenden Stimme Freude aus. Ihr Vater hat mit Per Bach Nissen einen würdigen Bass in der tiefen Lage und unüberhörbare Probleme in der Höhe. Mareike Morr als aktive Magdalena und Ivan Turšić als körperlich leicht verkrampft wirkender David lassen keine Wünsche offen. Die Prügelfuge beginnen Chor und Extrachor der Staatsoper mit ihrem eigenen Tempo, finden aber immer wieder in die Spur zurück, was für die sichere Einstudierung von Dan Ratiu spricht. Die Bandbreite vom krachenden Forte bis zum sensiblen Piano ist bemerkenswert.

GMD Karen Kamensek lässt das Orchester im ersten Akt noch viel zu laut aufspielen. Wie differenziert und feinfühlig Wagner im Staatsorchester klingen kann, zeigen dann Momente wie die Einleitung zum Fliedermonolog, oder das Vorspiel zum dritten Akt. Voller Detailfreude und mit recht flüssigen Tempi geht Kamensek zu Werke, ohne der Oper die ganz große Wirkung entlocken zu können. Insgesamt eine solide Leistung im Orchestergraben, daher verwundern einige deutliche, ungerechtfertigte Buh-Rufe für die Dirigentin. Auch direkt nach dem letzten Ton gibt es Ablehnung zu hören, die wohl der textlichen Neuinterpretation gilt. Es überwiegt die Zustimmung für die Sänger, insbesondere für die beiden Hans Sachse. Das Publikum in Hannover hat Überraschungen und bekannte Verhaltensschemen parat. Für letzte steht eine Ehefrau, die nach der Ouvertüre einschläft, erst zum lauten Finale wieder aufwacht und nach der Pause samt Mann nicht mehr wiederkommt. Auch die berühmten Stimmen, die ins schönste Piano hinein „flüstern“ Jetzt kommt die schöne Stelle, sind wieder zu hören. Überraschend ruhig dagegen ist eine Schulklasse, von denen einige in der Pause sogar über Noten diskutieren. Das Highlight des Abends ist aber ein älterer Herr, der jede Note und jeden Satz der Oper zu kennen scheint. Mitfiebernd sitzt er in der dritten Reihe und vor allem in der großen Finalszene des zweiten Aktes dirigiert er begeistert und mit weiten Armbewegungen mit, was auch Ralf Lukas an der Seite mit einem irritiertem Blick bemerkt. Für die direkten Nachbarn sicherlich absolut störend, aber doch irgendwie schön. Und es stimmt doppelt nachdenklich, wenn wenig später der einsam dirigierende Beckmesser auf der Bühne steht.

Christoph Broermann | 23. Juni 2013

Rating
(5/10)
User Rating
(3/5)
Media Type/Label
Premiere 10036
Technical Specifications
320 kbit/s, 44.1 kHz, 628 MByte (MP3)
Remarks
Broadcast (NDR Kultur)
A production by Olivier Tambosi (premiere)
Karen Kamensek’s first Meistersinger