Die Meistersinger von Nürnberg

Clemens Heil
Chor und Extrachor des Theaters Bremen
Bremer Philharmoniker
Date/Location
18 January 2015
Theater am Goetheplatz Bremen
Recording Type
  live   studio
  live compilation   live and studio
Cast
Hans Sachs Claudio Otelli
Veit Pogner Loren Lang
Kunz Vogelgesang Mihai Zamfir
Konrad Nachtigall Christoph Heinrich
Sixtus Beckmesser Christian-Andreas Engelhardt
Fritz Kothner Patrick Zielke
Balthasar Zorn Robert Lichtenberger
Ulrich Eißlinger Sungkuk Chang
Augustin Moser Eric Remmers
Hermann Ortel Daniel Ratchev
Hans Schwartz Allan Parkes
Hans Foltz Johannes Scheffler
Walther von Stolzing Chris Lysack
David Hyojong Kim
Eva Erika Roos
Magdalene Gudrun Pelker
Ein Nachtwächter Patrick Zielke
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Reviews
Online Musik Magazin

Evas Traum(a)

Der Operndirektor von Bremen und Regisseur Benedikt von Peter hat sich schon oft soweit in Opernfiguren hineinversetzt, dass das Publikum sozusagen in deren Kopf landete. Wenn Violetta (in seiner Hannoveraner La Traviata) oder die jungen Pariser Künstler (in seiner Bremer La Bohème) ihre Liebes- und Leidensgeschichten “nur” imaginieren. Also allein auf der Bühne sind und den Rest der Musik, unsichtbar agierenden Sängern und der Vorstellung des Publikums überlassen. Im Falle von Mozart Don Giovanni (in Hannover) lässt er uns konsequent alles mit den Augen dieses Frauenhelden sehen. Ohne, dass der auftaucht. Bei seinen jetzt in Bremen mit Jubel aufgenommenen Meistersingern spielen zwar alle Protagonisten, die Wagner vorgesehen hat, sichtbar mit, aber die Herangehensweise ist die gleiche. Man könnte es eine radikale Empathie nennen. Dazu sucht sich dieser Regisseur dann eine dem Stück entsprechende, spezifische Ästhetik bei der dann mitunter auch mal Akteure einfach verschwinden. Das jeweilige Werk bekommt auf jeden Fall dennoch geboten. Wenn auch in einer ungewohnten Perspektive.

Für die Meistersinger hat Karin Witting ein riesiges Gerüst auf die Bühne gesetzt und dort die Bremer Philharmoniker und ihren Chef Markus Poschner platziert. Das Wagnerorchester schräg von unten gesehen und gehört – das ist schon ein ziemlich radikaler Eingriff. Diese Neuverteilung von Orchester und Sängern ist am Anfang durchaus gewöhnungsbedürftig. Sie erlaubt aber alsbald eine ganz erstaunliche Textverständlichkeit der Sänger und auch der Chöre. Hinzu kommt, dass es Poschner gelingt, einen erstaunlich transparenten Klang aus dem Hintergrund beizusteuern. Trotz der ungewöhnlichen Aufstellung liefern die Bremer Philharmoniker insgesamt einen vorzüglichen Beitrag.

Der ungenutzte Orchestergraben ist mit einem breiten Steg überbaut, der zur kammerspieltauglichen Spielfläche wird. Ein paar bewegliche Türen auf dieser Spielfläche und in der Tiefe des Raumes und eine Kinderfußbank genügen als zusätzliche Ausstattung. Rechts und links davon geht’s in die Tiefe. Hans Sachs fegt bei einem Auftritt mal allesamt in den Graben. Und Sixtus Beckmesser (mit vokaler Prägnanz und komödiantischem Einsatz: Christian-Andreas Engelhardt) ist so verdattert, als ihm der Schusterpoet sein vermeintliches Preislied-Manuskript einfach schenkt, dass er gleich mehrfach in die Tiefe des Grabens abstürzt. Von dort aus krabbeln er und auch der Chor allerdings quicklebendig immer wieder nach oben. All das gehört zur Komödie, die diese Inszenierung auch ist. Und die in der Prügelfuge ihren, sogar mit Szenenapplaus bedachten, Höhepunkt findet.

Benedikt von Peter versteht sich nämlich nicht nur darauf, mit perfekter Personenregie die Komödie mitzuliefern, sondern er unterläuft auch gerne ‘mal die gängige Erwartungen. David etwa muss zwar allerhand Prügel einstecken, doch die berühmte Schelle seines Meisters, die ihn zum Gesellen macht, die wird ihm diesmal geschenkt. Und so wird auch die Prügelfuge nicht zum allfälligen Crescendo der Gewalt, sondern zu einer Kissenschlacht, bei der die weichen Wurfgeschosse auch schon mal mitten im Publikum landen.

Doch obwohl man sich dabei nach Herzenslust amüsieren kann und die Lehrbuben mit ihren Pluderhosen über den Strumpfhosen oder die Meister in ihren Phantasiekostümen (und -bärten) wie Comicfiguren (Kostüme: Geraldine Arnold) aussehen und auch die Vorlage für Walther von Stolzing geradewegs aus Evas Kinderbuch “Der fremde Ritter” stammt und der dazugehörigen Modellpuppe auf Plastik-Panzer und -Helm ähnelt, ist es keine Monty-Python-artige Light-Version der Meistersinger. Sondern das atemberaubende Psychogramm einer ziemlich fiesen Männergesellschaft, die offenbar keinerlei Skrupel hat, ein junges Mädchen als Preis eines Songcontests anzubieten. Es gab schon Meistersinger-Inszenierungen, in denen man auf die beiden Frauen auch gleich ganz hätte verzichten können.

In Bremen ist Eva neben Sachs die Hauptperson. Erika Ross ist da als Schauspielerin genauso gefordert wie als Sängerin. Der Schock des jungen Mädchens, wenn Sachs ihr Zimmer betritt, spricht Bände. Wir sehen die ganze, auf Jungmädchen/Frischfleisch erpichte Nürnberger Meisterwelt mit ihren Augen. Und dank der Spielfläche über dem Graben hautnah. Nett ist das nicht. Doch es ist genau diese männliche Allmachtsphantasie, die hinter der nationalistischen steckt, auf die sich gesellschaftlich – kritische Inszenierungen, politisch korrekt, gerne konzentrieren. Eva braucht hier einfach eine so schöne Märchenfee-Freundin wie Magdalena (mit charismatischer Freundlichkeit und wunderbar klarer Diktion: Ulrike Mayer), vor allem aber einen Traumprinzen bzw. – Ritter zum Überleben. Doch die eine hat vor allem ihren David (sehr wendig in Spiel und Stimme: Hyojong Kim) im Kopf. Und beim famosen Jungspund Walther (mit Kondition und jungendlicher frischer Stimme: Chris Lysack) wird schnell klar, dass der am Ende auch nur in seinen Erfolg verliebt ist. Daran, wie der ihm einfach so zufliegt, leidet Hans Sachs, der den überlegenen Künstler erkennt, fast körperlich. Bei Claudio Otelli weiß man nicht, was man mehr bewundern soll: Die vokale Kondition und Eloquenz oder die schauspielerische Überzeugungskraft, mit der er die inneren Kämpfe dieses Hans Sachs sichtbar macht. Am Ende ist es nicht Walther, der ohne Meister selig sein will, sondern dieser trotzige Verzicht auf die Meisterehre bricht aus Eva heraus. Und man fragt sich verdutzt, wieso das nicht immer so ist.

Es ist der Kraftakt einer Empanzipation oder eher einer Selbstbefreiung. Als Voraussetzung für die Flucht aus diesem Nürnberg. Mit ihr verflüchtigt sich ihre ganze Märchen(alp)traumwelt. Das “Verachtet mir die Meister nicht” des allein zurückbleibenden Hans Sachs wird so zum verzweifelten Pfeifen im Walde eines Mannes, dessen Lebens-Option gerade verschwunden ist. Dass da schon eine neue kleine Eva hinter der Tür wartet, macht die Sache nicht besser, sondern eher schlimmer.

FAZIT

Benedikt von Peter ist wieder ein Coup gelungen. Seine Meistersinger sind radikal anders und stellen Eva und Hans Sachs in den Mittelpunkt. Musikalisch zahlt sich aus, das man in Bremen auf Ensemblearbeit setzt und der GMD Markus Poschner nicht nur am gleichen Strang zieht, wie die übrige Leitung des Hauses, sondern auch in die gleiche Richtung! Nach dem Mitmach-Tannhäuser, mit dem Florian Lutz kürzlich in Lübeck Furore machte, der zweite aktuelle Wagner Beitrag zur Wagnerrezeption, der eine Reise in den Norden lohnt.

Joachim Lange | Premiere am 21. September 2014 im Theater Bremen

Neue Musikzeitung

Das Trauma der Eva Pogner – Faszinierende Sicht auf Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“ in Bremen

Dieses Mal verschwindet keine Figur wie in den letzten drei Inszenierungen Benedikt von Peters, sondern es gibt eine dazu: Nicht ganz, denn Eva aus Richard Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“ ist als Rolle ja da. Aber die Rolle ist rein musikalisch klein, das arme Mädchen hat nichts zu sagen. Das nutzt Benedikt von Peter in seiner Inszenierung von Wagners ebenso klarem wie abgründigem Werk: Eva ist über fünf Stunden auf der vorderen, sehr kleinen Bühne anwesend und in ihrem Gesicht und ihrer Körperhaltung spiegelt sich das ganze für sie traumatische Geschehen.

Dadurch wird ihre durchaus ambivalente Haltung zu Sachs herausgearbeitet: sie ist bei ihm groß geworden und der alternde Mann verträgt ihre „Emanzipation“ nicht. Sie träumt sich weg, liest ein Buch, das „Der fremde Ritter“ heißt, schleppt als Puppe eine kleine Ritterfigur mit sich herum, bis der – Walter von Stolzing – plötzlich wirklich da ist. Aus ist es mit Sachsens Güte und das Psychodrama zwischen den beiden bestimmt den weiteren Fortgang.

Als Sachs erkennen muss, dass sein Paradies zerstört ist, verlegt er sich auf eine Strategie, die das System letztendlich erhält: Walters Preislied mutiert unter seinem Einfluss von einem emphatischen Liebesgesang zur die Regeln der Meistersinger erfüllenden Preisbewerbung. Das ist höchst nachdenkenswert angesichts der Tatsache, dass zum Zeitpunkt der Uraufführung (1868) die Gründung von Bayreuth, also die Institutionalisierung der (Kunst-)Revolution unmittelbar bevorstand. Aus Sachs‘ Ohnmacht, sich das Mädchen zu erhalten, wird maßlos übergreifende Allmacht: Im Preislied ist Walter nur noch seine Marionette und Eva als Prämie eine entsexualisierte Muse. Das wird mit oft erschütternden Zeichen deutlich: wenn Sachs ihr die zu klein gewordenen Schuhe – der Schuh ist dann auf der Festwiese auch auf den Fähnchen zu erkennen – mit Klebeband anzwingt, wenn seine begehrlichen Blicke in gerade noch und manchmal eben nicht mehr zurückgehaltene Gewalt übergehen. Und Evas „Preislied“ auf Sachs, dass sie ihm alles verdanke, ist nackte Angst.

Eva zerschellt im totalitären Patriarchat, das in dieser mitreißenden, mit ihren fünfeinhalb Stunden keine Sekunde zu langen Inszenierung aufregend gebaut ist: das Orchester auf der Bühne auf einem riesigen Gerüst, das unter sich die Kirche, Nürnberg, die Schustersstube und die Festwiese birgt, mit ein paar Utensilien wie einem Geranienkasten oder auch trocknender Wäsche (Bühne von Katrin Witig). Und die Meistersinger: die erscheinen in wunderbaren, manches Historische zitierenden Fantasiekostümen (Geraldine Arnold), eine unwahre Märchenwelt in sich. Alle Einzelporträts darin sind hinreißend gelungen, besonders die selbstgefällig-dümmliche Protzigkeit von Veit Pogner, der seine Tochter als Preis anbietet. Dann David, eine Mischung aus Geschlagenem – Sachs greift durchaus zum Knieriemen – und Streber. Oder auch der Merker Beckmesser, ein böser unglücklicher Mensch, mit dem Wagner dem Kritiker Eduard Hanslick eins auswischen wollte.

Alle diese Porträts gelingen über große, sehr große schauspielerische Leistungen: Loren Lang als Veit Pogner, Patrick Zielke als eifriger Organisator Fritz Kothner, Andreas Engelhard als Beckmesser, Hyoyong Kim als David; großartig die Psychostudie von Erika Roos als Eva und die unpersönliche Tapsigkeit von Chris Lysack als Walter von Stolzing, Ulrike Mayer als mütterliche Magdalena. Das alles unterstützt die unvergessliche Meisterleistung dieses Abends: Claudio Otelli als Sachs. Mit seiner These, dass Sachs das spießbürgerliche Kontrollsystem in Nürnberg letztendlich erhält, würde von Peter allein dem Sachs nicht gerecht. Der zudem makellos singende Otelli zeigt die Tragödie eines zusammenbrechenden Mannes: im Wahn-Monolog sitzt er zusammengekrümmt da, einen verrutschten Blumenkranz auf dem Kopf und zitternd umklammert er Evas Buch und die Ritterpuppe. Sein berüchtigter Schlussmonolog, an dem sich noch jeder große Regisseur die Zähne ausgebissen hat, richtet sich an niemand mehr, alle sind weggelaufen, nachdem nicht Stolzing, wie in der Partitur, sondern Eva singt: „Will ohne Meister glücklich sein“.

Dass Markus Poschner und die Bremer Philharmoniker sich auf dieses Konzept eingelassen haben, ist aller Bewunderung wert. Es tut auch Wagner gut, denn die poetische Idee läuft in der Musik ab und da ist es nur folgerichtig, dass man auch die Musiker sieht und nicht nur eine Untermalung aus dem Graben kommt. Unvorstellbar allerdings die fabelhaft bewältigten Probleme, dass der Dirigent die Sänger nicht sieht und die ihn nicht. Die Musik gelang ebenso überschäumend vor Kraft – ohne das „Fett“, vor dem Ernst Bloch warnte – wie zart und transparent in allen Stimmen, überreich an verzaubernder Kontrapunktik und Klangfarben. Zusammen mit dem ebenso differenziert singenden Chor – es scheint, als sei hier jede einzelne Person mit einem besonderen Akzent inszeniert – provozierte die Prügelfuge am Ende des zweiten Aktes Szenenapplaus: Kissen flogen auch im Publikum herum.

Nichts weniger als ein großer Abend, der ein völlig neues Fenster für die komplexe Rezeptionsgeschichte des Werkes, mit dem Adolf Hitler seinen Endsieg feiern wollte, aufmacht. Und ein Abend, der einmal mehr zeigt, dass Benedikt von Peters Arbeiten nichts, aber auch gar nichts mit selbstgefälligem Umkrempeln zu tun haben, sondern einen streng aus der Musik gegefundenen Fokus mit äußerster Akribie entfaltet.

Ute Schalz-Laurenze | 23.09.2014

Rating
(4/10))
User Rating
(2/5)
Media Type/Label
HO 1182600
Technical Specifications
320 kbit/s CBR, 44.1 kHz, 640 MByte (MP3)
Remarks
In-house recording
A production by Benedikt von Peter (2014)