Die Meistersinger von Nürnberg
Hans Sachs | Ralf Lukas |
Veit Pogner | Vazgen Ghazaryan |
Kunz Vogelgesang | Artjom Korotkov |
Konrad Nachtigall | Andreas Koch |
Sixtus Beckmesser | Bjørn Waag |
Fritz Kothner | Juri Batukov |
Balthasar Zorn | Richard Carlucci |
Ulrich Eißlinger | Jörg Rathmann |
Augustin Moser | Thomas Paul |
Hermann Ortel | Siyabulela Ntlale |
Hans Schwartz | Gregor Loebel |
Hans Foltz | Daeyoung Kim |
Walther von Stolzing | Heiko Börner |
David | Jörn Eichler |
Eva | Ilia Papandreou |
Magdalene | Stéphanie Müther |
Ein Nachtwächter | Sebastian Campione |
Die Geister, die sie riefen … – Wagners „Meistersinger von Nürnberg“ an der Oper Erfurt
In Thüringen sind diese „Meistersinger“ ein Politikum der etwas anderen Art. Jenseits aller inhaltlichen Sprengkraft hat das Zustandekommen speziell dieser Inszenierung kulturpolitische Brisanz. Die Koproduktion zwischen den Häusern in der Thüringer Landes- und der deutschen Klassikerhauptstadt erinnert per se an die jahrelangen, immer wieder neu entfachten Diskussionen, über deren Zusammenlegung. Was noch jedes Mal mit einem Riesenzoff endete. War jetzt bei den Chören und der Besetzung die (naheliegende) Kooperation in Erfurter live zu erleben, so wird bei der Übernahme nach Weimar im November die dortige Staatskapelle (die Nummer eins der Thüringer Orchester) und ihr Generalmusikdirektor Kirill Karabits im Graben übernehmen. Was dann doch die Grenzen der Fusionsambitionen mehr als verdeutlicht.
Wie dem auch sei – die Erfurter GMD Joana Mallwitz und die geballte Orchesterkraft des Philharmonischen Orchesters Erfurt und der Thüringen Philharmonie Gotha hatten jetzt das Recht der ersten Nacht. Sie füllten das Haus angemessen, ließen den Sängern den Vortritt, so dass die noch zu hören waren, selbst wenn sie mal wie Sachs von ganz hinten singen mussten. Bei der Prügelei am Ende des zweiten Aktes, bei der mehr aus den Fugen zu geraten schien, als beabsichtigt, überflutete das, was von der Bühne kam sogar den Graben. Mallwitz war auf unpathetischen und aufgelichteten Klang aus, dirigierte präzise und elegant wie man das bei ihr gewohnt ist. Die charismatische Überzeugungskraft, die ihr bei Mozart oder Verdi bisher gelang, muss in Sachen Wagner wohl noch reifen. In München hat Kirill Petrenko gerade mit seinem Orchester auf eine atemberaubende Weise vorgeführt, wie differenziert Wagner im Graben zu erzählen vermag und welche Spannung man allein damit erzeugen kann.
Die Komödie im Visier
In Erfurt hat man musikalisch und szenisch eher die Komödie im Visier, trifft sie aber nicht immer überzeugend. Und das, obwohl Regisseurin Vera Nemirova in ihrer Personenführung hoch souverän ist. Zu oft ist sie dabei aber auf der Suche nach der komischen Pointe im Einzelnen: Mit einer Seufzerzugabe hier, einem demonstrativen Hinschmeißer da. Das lässt man sich bei Bjorn Waag gerne gefallen. Sein Beckmesser geht zwar beim Wettsingen als Verlierer vom Platz, als Komödiant im besten Sinne ist er der Sieger des Abends, weil seine Figur der Regisseurin am interessantesten geraten ist. Waag ist allerdings auch ein Sängerdarsteller, der das ausfüllt und gelegentlich sogar überschreitet. Vom russischen Roulette aus Verzweiflung, bis zu seinen durchchoreographierten Showauftritten vor Evas Fenster oder auf der Festwiese. Ihm ist es auch vorbehalten, das Vorspiel des dritten Aufzuges vor einem nicht vorhandenen Orchester zu dirigieren. Bis er seinen Wahn bemerkt und sich einem Plan B widmet.
Eine gute Idee ist auch die kleine Eva, die vor der Ouvertüre Seumes „Wo man singt, da lass dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder“ in den Raum stellt, was im ersten Teil so gut klingt, wie es im zweiten schlicht falsch ist. In seinem Wahnmonolog singt Sachs dieses imaginäre Mädchen an. Die personifizierte Unschuld als reine Einbildung? Beckmesser schafft es sogar, die erwachsene Eva beim Ständchen auf der nächtlichen Gasse aus ihrem Liebesversteck hinterm Sofa, in das sie sich mit Walther verkrümelt hatte, zu einem gemeinsamen Bodenkullern zu verführen. Zumindest sieht es für uns so aus. Auch bei seinem Preislied bezieht er Eva für Augenblicke mit einem gemeinsamen Tanz in seine seltsame Showchoreografie ein. Dieser Beckmesser hat erhebliches komödiantisches Eigengewicht. Ihm sitzt sogar der Revolver locker, für eine Runde russisches Roulette mit sich selbst, als er bei Sachs auftaucht, und denkt, dass er am Ende ist. Und dann noch einmal auf der Festwiese, als er bemerkt, wie er sich zum Affen gemacht hat, und seine Show mit einer Stripp-Einlage und obszönen Paarungsgesten auf offener Szene gekippt ist.
Radau mit Schlägerei
Doch in den beiden per se politischen Massenszenen in der Prügelfuge und beim Aufmarsch auf der Festwiese, spitzt die Regie zwar den Mund, aber sie pfeift nicht. Die Johannisnacht ist ein jugendlicher Radau mit Schlägerei um eine Frau. Zwar zieht dann auch Rauch aus den Fenstern und am Ende züngeln die Flammen. Das wäre ein starkes Bild (mit der Erinnerung an brennende Ausländerwohnblocks). Nur beglaubigt das der ganze Kontext nicht. Das potenzielle Menetekel züngelt einfach nur in der Kulisse. Und dann fallen alle wie im Vollrausch um. Der Rest ist ein geballt wogendes Tableau, bei dem man mit Wehmut an Katharina Wagners Happening in der Kunstakademie zurückdenkt.
Die Bühne von Tom Musch assoziiert ebenso die ungefähre Nachkriegszeit wie das Einheitsbeige der Kostüme von Marie Thérèse Jossen. In der ersten Szene als ein Saal, in dem ein Film über das zerstörte Nachkiegsdeutschland läuft. Vermutlich jedenfalls, denn vom rechten Viertel des Auditoriums aus, ist das nur zu erahnen. Die nächtliche Gasse hat den ästhetischen Charme industrieller Fassadenelemente inklusive eines beweglichen SACHS-Werkstatt-Wohn-Turms. Der dritte Akt spielt in einem Orchesterprobenraum samt Podium für die Sänger und im Zuschauerraum.
Und die Sänger? Frank van Hove ist kein typischer Wohlklang-Sachs. Eher der kommunikative Intellektuelle, der halt nebenbei auch schustert und offensichtlich für Eva eine ernstzunehmende Alternative wäre. Vazgen Ghazaryan und Alik Abdukayumov führen als Pogner und Kothner die Meisterriege an. Heiko Börner geht bis an seine Grenzen, spart aber geschickt für Walther von Stylings große Auftritte. Ilia Papandreou und Stéphanie Müther sind die optimale Erfurter Eva und Magdalene.
Das Verblüffendste an diesen Erfurter „Meistersingern“ ist die politische Unverbindlichkeit, mit der sich Vera Nemirova bis zum Finale auf der Festwiese durchjongliert. Erst ganz zum Schluss kriegt sie die Kurve. Allein und verlassen hält Sachs seine Ansprache, die ja als Diskursangebot viel Bedenkenswertes bietet und nur als Rede vorm Volk aus dem Ruder laufen kann (die Erfurter können derzeit, öfter als vielen lieb ist, live studieren, wie so war funktioniert). Doch dann steht der Chor plötzlich rechts und links neben uns und donnert von da aus seine Zustimmung so laut in den Saal, dass es Sachs in den Ohren gellt und er sich vor Schmerzen krümmt. Dieses „Die Geister, die ich rief …“ ist eine treffende Schlusspointe, zu der man gerne auch die komplette Inszenierung gesehen hätte.
Am Ende Jubel für die Interpreten, unter die sich deutliche Buhs fürs Regieteam mischten.
Joachim Lange | 31.05.2016
Zu viel und doch zu wenig
Richard Wagners Die Meistersinger von Nürnberg gehört zu den aufwendigsten Werken des Musiktheaters. Ein großer Chor, ein großes Ensemble und viele Statisten sind zu besetzen, einzustudieren, manchmal auch zu bändigen – aber auch einzukleiden. Aufwand und Kosten sind erheblich, da bietet sich eine Koproduktion nebeneinanderliegender Häuser wie dem Opernhaus Erfurt und dem Deutschen Nationaltheater Weimar geradezu an. Seit mehr als einem halben Jahrhundert hat es in Erfurt keine Meistersinger mehr gegeben. Vielleicht auch deshalb findet die Premiere dieser erstmaligen Gemeinschaftsproduktion mit Mitgliedern beider Ensembles, Gästen und den vereinten Chören im Erfurter Haus statt, das man sicher zu den schönsten Theaterneubauten der letzten Jahrzehnte zählen kann.
Für die Regie zeichnet Vera Nemirova verantwortlich, die in den letzten Jahren vor allem mit dem Frankfurter Ring auf sich aufmerksam gemacht hat. Doch wer gehofft hatte, dass sie sich den Meistersingern ähnlich nähert wie der Tetralogie, wurde überrascht und zum Teil auch enttäuscht. In den Bühnenbildern von Tom Musch und den Kostümen von Marie-Thérèse Jossen werden Statements abgegeben, Ideen angehäuft, Albernheiten und Haarsträubendes gezeigt, von dem sich vieles nicht erklärt und sich manches Rätsel auch nicht auflöst. Spannende, natürliche und obskure Personenregie wechseln einander ab, aber den feinen Humor, die dezent versteckten Andeutungen und Lebensweisheiten, das Feinsinnige sucht man in dieser Produktion so gut wie vergebens. Auch ein roter Faden lässt sich nicht ausmachen, es sei denn, man sieht ihn im Bühnenbild, das zunächst einen Saal in einem Museum oder Informationszentrum zeigt, dessen halbdurchsichtige Fenster mit ähnlichem Material geflochten sind wie die Seiten der Sitzmöbel, die im zweiten und dritten Akt den Innenhof einer Wohnanlage umgrenzen. Die wird durch Klinker- und Fliesenverkleidungen angedeutet und bietet mehrere Spielebenen nebst einem auf der rechten Seite in den Raum ragenden Balkon. Sachsens Werkstatt ist nicht nur mit einem Schuh und dem Namenszug des Schusters gekennzeichnet, sondern auch flexibel auf dem Fischgrätparkett-imitierenden Einheitsbodenbelag in den Raum schiebbar.
Vor dem Vorspiel tritt ein Mädchen mit einem Luftballon vor den Vorhang und sagt den unsäglichen Satz „Wo gesungen wird, da lass dich nieder, böse Menschen haben keine Lieder“. Nur einen Schritt weitergedacht, erinnert man sich an die Verwendung und den Missbrauch von Musik in faschistischen oder totalitären Staaten. Vielleicht als logische Folgerung wird zum Vorspiel im schon beschriebenen Saal vor kopfhörertragendem Publikum ein schwarz-weißer Informationsfilm gezeigt, der die Zerstörung von Städten im zweiten Weltkrieg und die Aufräum- und Wiederaufbaumaßnahmen speziell der Theaterbauten zeigt – man erkennt das Berliner Schillertheater und die Wiener Staatsoper – und eine festliche Wiedereröffnung mit einer Aufführung der Meistersinger. „Da zu dir der Heiland kam“ singt die Museumsgemeinde, von Beckmesser dirigiert, und eigentlich könnte sich jetzt Sachsens Schlussansprache anschließen „…im Drang der schlimmen Jahr’ blieb sie doch deutsch und wahr; und wär’ sie anders nicht geglückt, als wie, wo alles drängt und drückt, Ihr seht, wie hoch sie blieb in Ehr’! […] zerging’ in Dunst das Heil’ge Röm’sche Reich, uns bliebe gleich die heil’ge deutsche Kunst! “. Doch bis dahin fließt noch fast 6 Stunden Wasser die Gera hinunter.
Das Eingangsbild bleibt ohne Folgen, steht als Statement im Raum. Stolzing ist ein ungeschlachter Nonkonformist mit schlechten Manieren, Eva ein braves Mädchen, das von diesem Außenseiter wohl fasziniert ist – warum auch immer? Magdalene ist eine hochsinnliche Frau mit Ludertendenzen und David der brave Lehrbube, der von den andern gehänselt wird („David ist doof“ haben sie auf die Merkertafel geschrieben). Die Meistersinger bringen zwar Musikinstrumente mit, treffen sich aber hauptsächlich zu vielfältiger sportlicher Betätigung zwischen Boxkampf und Ergometertraining. Dazu ziehen sie sich umständlich verschiedene Sportkleidungen an, bis sie sich am Ende in ihren schicken Vereinsanzügen präsentieren. Hans Sachs erscheint gleich in diesem edlen Sportdress und widmet sich feinfühlig einiger dem Tai Chi ähnlichen Übungen. Dieser Sachs ist ein distinguierter Schönling, vielleicht auch Schöngeist, aber auf jeden Fall ein sehr auf sein Äußeres achtgebender Mann. Eine eitler reicher Möchtegern-Intellektueller, der eher auf einen Golfplatz gehört als in eine Schusterstube. Sympathisch macht ihn das nicht und überzeugend schon gar nicht. Was nun folgt, zeigt, dass die Regie bei der Personenregie häufig Komödie mit Klamotte verwechselt, was weder komisch noch lustig, sondern überwiegend peinlich ist, vor allem, wenn es bedeutsam sein soll, wie das Unvermögen Beckmessers, einen Notenständer aufzustellen. Und dann dieses künstlich jungenhafte Rumgehampel der Lehrbuben… Dass Beckmesser Stolzing am Ende des ersten Aktes einen leidenschaftlichen Kuss auf den Mund gibt, ist einer jener Knalleffekte, die sinnlos verpuffen. „Pause“ schreibt er auf seine Merkertafel. Die braucht man dann auch.
Wenn Pogner im zweiten Akt mit dem Fahrrad auf die Bühne fährt und Eva wie ein Hundchen hinter sich herlaufen lässt, verdeutlicht das die Umgehensweise mit der als Gesangswettbewerbspreis ausgelobten Tochter. Sachsens Schusterstube besteht aus einer historischen Ledernähmaschine und einem Metallleisten, er widmet sich zum Fliedermonolog aber zunächst einem umzutopfenden Mini-Fliederbusch. Stolzing trägt nun auch die schwarze Strickzipfelmütze der Lehrbuben (Achtung: Bedeutung!) und Beckmesser bringt seine Verstärkeranlage nebst Mikrofon aus dem 60ern mit. Seine Sportvereinsjacke hat er elvismäßig aufgeglittert, aber erst nachdem er im Streitgespräch mit Sachs auf Kindersenderniveau „ich mag keine Schuh’“ und dergleichen gejammert hat, singt er sein Ständchen, zu dem die verkleidete Magdalene auf dem Balkon strippt und damit doch ihre wahre Identität preisgibt. Aber das ist ihr wahrscheinlich egal, vielleicht fehlt ihr der Stadtschreiber ja noch in ihrer Raupensammlung. Der wälzt sich auf dem Boden zu Eva, die eben noch mit Stolzing hinter einem der Sofas ziemlich eindeutig kopuliert hat. Zuvor hatte der mit einem akkurat zusammengeklappten Notenständer aus seinem Bündel „Da hin gehör’ ich“ erklärt. Eva wälzt sich zu Beckmesser und es beginnt ein skurriler Tanz, dessen Sinn sich mir nicht erschließt. Vielleicht ein absurdes Einsprengsel des Theaters um des Theaters willen. Nicht in Prügellaune, sondern als Fans des „coolen“ Sängers Beckmesser erscheinen die jüngeren Leute, aber auch die anderen prügeln sich nicht, sondern drohen nur mit Baseballschlägern, Backsteinen, Sofapolstern und Verkehrsschildern. Umgeworfen werden sie dann durch eine Explosion, deren Ursache aber trotz hellen Feuerscheins im Dunkeln bleibt. Beckmesser nimmt sich den Schuh vom Leisten und setzt mit Kreide die Merkerzeichen auf die Sohlen, die Sachs erklärtermaßen mit dem Hammer hineinschlug. Nach dem Schusterhammer also auch noch der Holzhammer.
Dritter Akt. Der freie Platz zwischen den Häuserfronten, in deren Linie sich auch Sachsen Stube brav eingereiht hat, ist mit den Stühlen und Notenpulten eines Orchesters vollgestellt. Beckmesser dirigiert das Vorspiel vor den leeren Stühlen. Vom gegenüberliegenden Balkon aus schaut ihm David zu. David und Beckmesser, die sich als einzige wirklich geprügelt haben, stehen sich lädiert und mit verbundenen Wunden gegenüber. Sachs sitzt vorn rechts auf einem der Sofas und liest in einer Partitur. Zum Wahnmonolog erscheint wieder das Mädchen, diesmal aber mit einer Geige. Das Preislied wird wie in einer Einzelprobe verfasst: Sachs am Dirigentenpult und Stolzing auf dem Platz des Kapellmeisters. David ist auch Notenwart, doch die Notenblätter, die er verteilt, sammelt Beckmesser wieder von den Pulten und kämpft mit sich, ob er das von Sachs ganz bewusst aufs Dirigentenpult gelegte Blatt mit dem Preislied anschaut. Dann zückt er eine Pistole und spielt russisches Roulette – und erwischt eine leere Trommel. Die Schuhprobe wird zu einem sinnlichen, wadenerotischen Erlebnis für Sachs und Eva gleichermaßen und die Frage „Was nun?“ wird ganz sinnfällig angedeutet, wenn Sachs mit Eva und Stolzing „auf der Banke“ sitzt…
Aus den mit bunten Wimpeln geschmückten Häusern jubelt man den vom Proszenium auftretenden (betrunkenen) Zünften zu, die ein großes Brimborium und einen Mordslärm veranstalten. Die Meistersinger treten aus dem hinteren Bereich des Parketts auf, von wo sie vom Volk abgeholt werden, das den „Wach auf“-Chor dann von den Seitengängen singt, was einen unglaublich starken Eindruck macht, auch wenn die Idee nicht neu ist. Für einen Moment muss man sich zusammenreißen, nicht mitzusingen – und erfährt einmal mehr, wie stark die Macht der Musik mit allen ihren positiven und negativen Verführungs- und Mitreißfaktoren sein kann (soviel nochmals zum Thema „Wo gesungen wird…“). Die Meister trinken derweil auf der Bühne eine Maß, wohl auch auf das Wohl des Geburtstagskindes, das – natürlich formvollendet im Smoking – auf dem Balkon seines Hauses erscheint. Beckmesser kann mit der Technik seiner Verstärkeranlage nicht wirklich umgehen, beginnt sein Lied aber sehr kultiviert, um sich dann überzogen ins Absurde zu steigern und schließlich in Verzweiflung erst Magdalene und dann auch David von hinten zu vergewaltigt und Sachs die Pistole an die Schläfe zu halten. Mit den Worten „Aber ich liebe Euch doch alle“ rennt er von der Bühne und spätestens mit diesem eingefügten Erich Mielke-Zitat wird klar, dass Beckmesser hier immer und überall die Fäden zieht und die Kontrolle haben will. Statt einer Meisterkette wird Stolzing ein Vereinstrainingsanzug angeboten, den er aber dankend ablehnt und mit Eva davonläuft. Die Schlussansprache singt Sachs zum wiederum im Zuschauerraum stehenden Chor, während Beckmesser mit einem roten Luftballon im hinteren Teil der Bühne umhergeistert. Der Schlusschor wiederholt nur den Text, den Sachs zuvor selbst gesungen hat – aber das kann er nicht ertragen, versucht es abzuwürgen und Einhalt zu gebieten. Der Text ist ihm offensichtlich peinlich – wie er so vielen peinlich ist, die ihn nicht aus dem geschichtlichen Zusammenhang des Librettos, sondern nur von der (zum Teil verheerenden) Rezeptionsgeschichte her sehen. Aber hier geht es nicht um ein politisches Nationalgedümpel, sondern um eine sprachlich-kulturelle Angelegenheit. Da waren wir auf der Opernbühne inzwischen eigentlich schon viel weiter. Nein, überzeugen kann diese Inszenierung nicht und nebenbei bemerkt: Pistole, Notenständer, moderne (im dritten Akt geschmückte) Häuserfronten und Pogner im zweiten Akt (ob nun mit dem Auto oder mit dem Fahrrad auf die Bühne kommend) und einiges mehr… Besuchern, die auch die neuen Münchner Meistersinger gesehen haben, kommt das sehr bekannt vor. Besser wird es dadurch nicht.
Erfreulicher sieht da die musikalische Seite aus. In Erfurt dirigiert Joana Mallwitz und schafft es, diese Meistersinger gleichfalls leicht und festlich und immer wieder brillant klingen zu lassen. Ihr schwungvolles, fein akzentuiertes, transparentes ja, quicklebendiges Dirigat reißt mit und begeistert, auch wenn die zum Teil aberwitzigen Tempi im ersten Akt schon mal die Lehrbuben aus dem Takt kommen lassen („wird das dem Herrn Ritter beschie-ie-ie…den sein“). Es gelingt ihr, trotz eines recht raschen Tempos, auch das Vorspiel zum dritten Akt sehr stimmungsvoll und bezaubernd zu formen. Nur schade, dass durch die Beckmesserdirigat-Idee davon abgelenkt wird. Bei „O Schuster, voll von Ränken“ erschrickt man regelrecht über die energische Wut, die aus dem Graben tönt. Das Orchester ist mit hörbarem Engagement dabei, auch, wenn nicht alles blitzsauber gelingt. An den exakten Einsätzen, die die Dirigentin gibt, kann das nicht liegen. Ausgesprochen klangvoll, klangschön und dabei höchst homogen klingen die vereinigten Chöre aus Erfurt und Weimar, im „Wach auf“-Chor und im Schlusschor sowieso, aber auch in der verzwackten Prügelfuge. Dafür ein Extralob.
Frank van Hove debütiert als Sachs und zeichnet auch stimmlich eine ganz andere Figur, als man den Schusterpoeten in den letzten Jahren überwiegend auf der Bühne erlebt hat. Immer mal wieder leicht näselnd unterstreicht er, dass der Sachs hier auch ein bisschen snobistisch gezeichnet wird. Die mörderisch lange und anspruchsvolle Partie fordert ein kluges Einteilen der Kräfte, gerade, wenn man noch keine Bühnenerfahrung mit ihr hat. Er schont sich hörbar in den ersten beiden Akten und erscheint dadurch oft blass und uncharismatisch, kann dann aber fehlendes Volumen durch sehr gute Artikulation wettmachen. Im dritten Akt steigert er sich und lässt runde und satte Töne hören. Man darf gespannt sein, wie er sich in dieser Partie weiterentwickelt. Auch Heiko Börner gibt als Stolzing sein Rollendebüt, hat schöne Töne, wenn er in der Mittellage mezzoforte singt, stemmt aber die meisten Spitzentöne mit hörbar viel Kraft – trifft sie aber auch. Am meisten kann er mit dem Preislied in der Schusterstube überzeugen. Dem Affen ein bisschen viel Zucker mit einer überzogenen Gestaltung gibt Bjørn Waag als Beckmesser auch stimmlich – muss es sicher regiegefordert auch. Dass er weit mehr Stimmkultur besitzt, zeigt der Beginn seines Preisliedes auf der Festwiese. Ilia Papandreou ist eine herrlich leicht klingende und mit reichlich Stimmsubstanz gesegnete, ganz entzückende Eva – besonders, wenn sie energisch wird und ihr Sopran vielfarbig aufleuchtet. Stéphanie Müther ist eine köstliche Magdalene, die die hier geforderte männerverschlingende, lustvoll lebende Frauenfigur nicht nur schauspielerisch, sondern auch mit sinnlichem Mezzo überzeugend gestalten kann. Mit sonorem Bass singt Vazgen Ghazaryan den Pogner, Alik Abdukayumov ist ein wohltönender Kothner und Sebastian Campone ein vollklingender Nachtwächter.
FAZIT
Ein fantastisches Dirigat und eine Inszenierung mit zu vielen haarsträubenden Anteilen. Aus etwas feinsinnig, tiefsinnig und niveauvoll Komischem eine Klamotte zu machen und die Bedeutung der Schlussansprache weit hinter das bereits Erreichte zurückzukatapultieren – das ist ein bisschen zu wenig.
Bernd Stopka | Premiere am Theater Erfurt am 29. Mai 2016