Tags darauf starten Die Meistersinger von Nürnberg unter verschärften Bedingungen: Dirigent kurzfristig ersetzt, ebenso Hans Sachs (und Magdalena überdies). Im bögenlos behäbigen, fast trampeligen Vorspiel ist gar das Schlimmste zu befürchten; ebenso regiebezüglich in den ersten zerfaserten Eindrücken von der 2022er Inszenierung des Trios Wieler/Viebrock/Morabito, die ich bisher nicht gesehen hatte.
Doch die Regie wird, nachdem sie auch im zweiten Aufzug viel Turbulenz, aber nur frustrierend schlappes Timing bietet, zumindest im dritten Akt starke Momente haben, zumal in der (zurückhaltend formuliert) problematischen Schlussszene, wo Wagner in einer auch musikalischen Fehlleistung dem Sachs plötzlich tagesaktuelles Franzosenhassgift in die Rede mengt. In der großen finalen Affirmation sehen wir da den einen Meistersinger unerwartet grotesk strammstehen, einen anderen hingegen sich gebrochen abwenden, einen weiteren entsetzt aus dem Raum fliehen, wie es zuvor librettowidrig Walter und Eva schon taten. Das ist von beklemmender Wirkung, wie auch vorher ein Gespensterschatten-Intermezzo beim deutschfröhlichen Einzug der Zünfte auf die Festwiese.
Zudem darf im dritten Aufzug sogar mal gelacht werden, etwa über das Beifallfüßeln der Menge in quietschbunten Hartgummi-Crocs. Dass der Schuster Sachs, der die längste Zeit barfuß auftritt, ausgerechnet und ausschließlich mit dieser Art »Schuhe« beschäftigt ist, hat durchaus seinen schön schrägen Reiz; wie auch das seltsame leitmotivische Fußweh, das hier das gesamte Bühnenpersonal plagt. In den ersten beiden Akten macht sich bei mir aber schon ein gewisser Gram über komödienwidrige Bühnensteifheit, über Spielunwitz und abgedroschenes Grimassieren breit. Ort der Handlung ist hier eine »Musikschule«, mutmaßlich in den 1950er Jahren. Das funktioniert nur sehr mäßig. Was aber für mich ein wirkliches Ärgernis darstellt, ist die Tatsache, dass hier das große Opernhaus die magere, vernachlässigte, doch fürs Musikleben unendlich wertvolle Institution Musikschule in einer solchen Ansammlung von Klischees auf die Bühne bringt, als einen Ort voller verklemmter Mauerblümchen, farbloser C&A-Jacken und mieser Schleimscheitel. Das haben unsere tüchtigen Musikschulen nicht verdient, und von einer millionenschweren Oper schon gar nicht. Ungeachtet des narrativen Konzepts ist das schlicht respekt- und instinktlos.
Ungebrochenere Freude macht die sängerische Besetzung. Mit James Rutherford als kurzfristigem Ersatz für den erkrankten Johan Reuter steht ein rollendeckender Hans Sachs zur Verfügung, ohne altfränkische Kernigkeit, sondern kultiviert bis feingeistig, Typus Liedsänger. Elena Tsallagova gibt eine helle, sehr jugendliche Eva von geradezu vögleinhafter Vibrato-Finesse. Philipp Jekal ist ein starker, differenzierter Beckmesser. Unbedingt hervorzuheben ist Ya-Chung Huang als David, eine Darbietung von bemerkenswerter Diktion, schauspielerisch flott überdies. Und mit Magnus Vigilius steht als Walter von Stolzing ein ganz herrlicher Tenor auf der Bühne. Sein ansprechendes Timbre erinnert durchaus ein wenig an Klaus Florian Vogt, aber technisch mit selbstverständlicherem Legato und Vibrato (nur gelegentliche überraschend unelegante Einsätze trüben den Eindruck ein wenig, aber nicht sehr).
Was schließlich den Dirigenten John Fiore angeht, bestätigen sich die Befürchtungen aus dem wenig musikalischen Vorspiel nicht. Das Orchester, wiewohl gelegentlich krachend, kommt in sichere Fahrwasser, in den einzelnen Stimmgruppen entfaltet sich auch mal Glanz. Da Fiore erst wenige Stunden vor der Vorstellung für den erkrankten Ulf Schirmer eingeflogen wurde, ist es Leistung genug, dass die Vorstellung überhaupt stattfindet und dank Fiore der musikalische Laden solide zusammengehalten wird. Selbst in der großen, anspruchsvollen Prügelfuge des zweiten Aufzugs kommen die Chorgruppen hart geprüft, aber dennoch gemeinsam am Ziel an.
Albrecht Selge | 28. November 2023