Parsifal
James Levine | ||||||
Chor und Orchester der Bayreuther Festspiele | ||||||
Date/Location
Recording Type
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Amfortas | Simon Estes |
Titurel | Matti Salminen |
Gurnemanz | Hans Sotin |
Parsifal | Peter Hofmann |
Klingsor | Franz Mazura |
Kundry | Leonie Rysanek |
Gralsritter | Toni Krämer |
Matthias Hölle |
Ein hundertjähriger Parsifal
Es war der Einstand eines später in vielen Bayreuther Aufführungen souveränen Dirigenten: James Levine dirigierte zum Hundertjahrjubiläum einen musikalisch mustergültigen „Parsifal“. Götz Friedrich inszenierte mit viel Sensibilität.
Es war der Einstand eines später in vielen Bayreuther Aufführungen souveränen Dirigenten: James Levine dirigierte zum Hundertjahrjubiläum einen musikalisch mustergültigen „Parsifal“: ausgehorcht bis in die verschlungensten Melismen und Klangfarben, mit untrüglichem Gespür für die Architektur der monumentalen Partitur fast in ritueller Langsamkeit.
Götz Friedrich, mittlerweile bayreuthgestählt, inszenierte das Bühnenweihfestspiel in seinen delikaten Raum-Zeit-Relationen mit einem magisch-realistischen Bühnenbild von Andreas Reinhardt gewissermaßen nach der globalen Katastrophe, mit viel Sensibilität für die „geheimnisvollen Beziehungen“ der Protagonisten.
25.07.2006
Jubiläum im umgekippten Tempel
Der Schlag war präzise berechnet. Wenige Tage vor dem von der „Gemeinde“ mit aller gebührenden Ehrfurcht und Hingabe begangenen Hundert-Jahre-Jubiläum erschienen die „Musik-Konzepte“, dieses zur Zeit einzig ernst zu nehmende kritische Periodikum in Sachen Musik, mit einem Richard Wagner und dessen vor hundert Jahren uraufgeführtem „Parsifal“ Sachen Musik, Heft.
So wichtig allerdings auch in diesem Band die kenntnisreichen, allenfalls ein bißchen zu lyrifizierten Analysen über die stufenweise Entwicklung der „Parsifal“-Mythologie und ihrer Parallelen vom 9. zum 19. Jahrhundert; die musikalischen, semantischen, psychogrammatischen wie dramaturgischen Studien zur „Parsifal“-Rezeption; die so klugen wie komplizierten, aber für einen nicht mit vorgeschrittener Musiktheorie und Kompositionstechnik vertrauten Leser kaum mehr verständlichen Erläuterungen der Leitmotivik und des musikalischen Satzes im „Parsifal“ – so wichtig also diese keineswegs konventionellen Essays auch sein mögen: Sie alle hätten auch im Programmheft des Festspielhauses stehen können. Nicht aber, was sich als Bombe hinter einer Buchrezension versteckt. Hartmut Zelinsky, Germanist und Politologe, Kunst- und Musikforscher, Essayist mit Scharf- und Tiefsinn, rechnet dort mit Martin Gregor-Dellins vor zwei Jahren erschienener Wagner-Biographie ab. „Rettung ins Ungenaue“ wirft sein Totalverriß der vom Verlag (und nicht nur dort) als „erste umfassende deutsche Wagner-Biographie seit 80 Jahren“ apostrophierten Arbeit vor.
Aber selbst das müßte uns nicht so brennend interessieren, wäre nicht in diesem Aufsatz (und in zwei Selbstvermarktungen in Spiegel und Süddeutscher Zeitung) wiederholt und gewissermaßen wie in einem Brennpunkt zusammengezogen, was mehr oder weniger verstreut, mehr oder weniger diffus und vage, mehr oder weniger unsicher dokumentiert und verifiziert seit hundert Jahren als Vorwurf erhoben wird:
Richard Wagner war Rassist, war Antisemit, seine Äußerungen gipfeln in der Vorbereitungsphase des „Parsifal – und von ihm bis zu den Greueln und dem Völkermord der Nationalsozialisten verläuft eine gradlinige und kausale Entwicklung;
Richard Wagner war fixiert auf sich als den Künder und Gründer einer neuen Religion des frischen Christus“, dessen Ära beginnt nach der „Erlösung durch Vernichtung“ mit der kultischen Emanation im „Parsifal“ – und von Richard Wagners Festspielidee und dem Bau mit „Tempels“ auf dem Bayreuther Hügel führt ein gerader und Wagscher Weg zu den Nürnberger Reichsparteitagen;
Bayreuth, die Bayreuther Festspiele, und „Gemeinde“ und die Kritik versuchten, den Musiker und Theatromanen Wagner zu Festspiele, von seiner Wirkungsgeschichte, indem sie die beiden zuvor genannten Vorwürfe verwischen und verniedlichen – was, nach Hitler und Auschwitz, „ein Licht auf die anhaltenden Schwierigkeiten im Umgang mit der deutschen Geschichte wirft
Zelinsky hat uns diesen Spiegel schon früher vorgehalten. Seine im Bayreuther Jubiläumsjahr 1976 herausgekommene exzellente Dokumentation „Richard Wagner/1876-1976/Ein deutsches Thema“ konnte und mußte sich noch mit Wagners Gesamtwerk beschäftigen, mit seiner Weltanschauung wie seiner Wirkung, in seinem „Traditionszusammenhang mit protestantischer Innerlichkeit, subjektivem Idealismus und der deutschen Revolution des Geistes“. Eingerahmt in einen Essay über „Richard Wagner und die Folgen“ wurde mit Sammlerfleiß und kluger Konzentration, in originalen Typographien und in intelligenter, sich wechselseitig interpretierender Kombination und Gegenüberstellung: die wechselvolle, aber – wie Zelinsky meint – in der Tendenz doch stets eindeutig und gleichbleibend gerichtete Geschichte der Wagner-Rezeption belegt und nachgewiesen.
Im Juli 1978 referierte Zelinsky im ersten Wagner-Heft der „Musik-Konzepte“ – „Wie antisemitisch darf ein Künstler sein?“ – die „ ,Feuerkur’ des Richard Wagner oder die ,neue Religion‘ der ,Erlösung‘ durch ,Vernichtung‘“, wie sie sich für ihn speziell im und um den „Parsifal“ herum manifestiert. Schon damals konnte sich Zelinsky auf Passagen in den soeben edierten Tagebüchern von Cosima Wagner berufen, auf Briefstellen und Äußerungen zeitgenössischer Dritter, vor allem aber auch auf Wagners eigene theoretische Schriften, die ja alle vorlagen, jedoch, verschämt oder mit verfälschenden Absichten, so konsequent nicht ausgewertet worden waren.
Jetzt hat sich all das, was man längst wußte und doch in seiner relativen Distanz nicht wahrnahm, wahrnehmen wollte, wie zu einem Netz zusammengezogen, verdichtet, konzentriert, weil es sich auf ein Stück konkretisiert, dem man einerseits nie ganz nahe kommt, das sich immer wieder neu verfärbt, das aber andererseits doch auch in seinem kunstreligiösen Charakter so fixiert ist, daß es bislang zwar in verschiedenen Zeiten oder seinem hat spielen, nie aber seinen Charakter hat ändern können.
Die Juden: Cosima hielt fest, daß Wagner sie vergleicht mit „Fliegen, je mehr man sie verscheucht, um so mehr sind sie da“ (13. September 1880); mit „Ratten und Mäusen“ (19. 2. 1879); daß sie „nur zum Aufsaugen trichinenartig im Körper der anderen da waren“ (30. 9. 1879); „und immer schärfer erkennt R., welchen Schaden sie nicht verursachen, sondern bedeuten; ,in der Wunde eines armen Pferdes oder sonst eines Tiers sieht man gleich einen Schwann Fliegen‘“ (9. 2. 1882); „R. will alle Juden von sich abfallen lassen ‚wie die Warzen‘, gegen welche kein Mittel hilft; nicht, mehr unterbinden, nichts mehr mit ihnen tun“. In einem Brief an Ludwig II., November nicht „…daß ich die jüdische mehr mit den geborenen einem der reinen Menschlichkeit und alles Edlen in ihr halte: daß namentlich wir Deutschen an ihnen zu Grunde gehen werden, ist gewiß, und vielleicht bin ich der letzte Deutsche, der sich gegen den bereits alles beherrschenden Judaismus als vielleicht scher Mensch aufrecht zu halten wußte“. Und noch einmal Cosima: „Ich lese eine sehr gute Rede des Pfarrers Stoecker über das Judentum. R. ist für völlige Ausweisung. Wir lachen darüber, daß wirklich, wie es scheint, sein Aufsatz über die für den den Anfang dieses Kampfes darüber, hat“ (11. 10. 1879). Und schließlich: „Er sagt im heftiden Scherz, es sollten alle Juden in einer Aufführung des ,Nathan‘ Schließlich: „Er 12. 1881). Er sagt es „in heftigem Scherz“, und sie „lachen darüber“ – wenn es uns graust, ekelt, würgt, ist das alles eine viel zu schwache Reaktion.
Diese Sätze sind nicht zu leugnen, nicht aus der Welt zu schaffen, können und sollen nicht wegdiskutiert werden. Und stünden sie allein so da, ohne Kontext, ohne Nuance, ohne auch die Sätze, die fast Gegenteiliges besagen – man verstünde, daß Israelis noch heute einen Total-Boykott auch gegen die Musik Wagners propagieren.
Nicht also um jemanden reinzuwaschen, nicht um auch uns schutzwillig und identifikationsbereit selber „ins Ungenaue zu retten“, wohl aber um nicht auch selber ins Sektiererische zu verfallen, muß gefragt werden, in welchem Zusammenhang der Antijudaismus Wagners entstand. Auch wenn Hartmut Zelinsky dies als einen weiteren Versuch einer falschen Rettung sähe: „Lieber Barbarei als dieser Zustand von jetzt“ – in diesem von Cosima (25. 7. 1878) zitierten Satz ist der ganze Kunst-Rigorismus Wagners enthalten, der gewissermaßen Amok läuft, wenn er nur den Namen Meyerbeer hört, und der Vernichtung predigt als äußerste Konsequenz der Einsicht, etwas Unhaltbares, Unzumutbares, Unkünstlerisches nicht verändern zu können. Auch ein Pierre Boulez wollte einmal „die Opernhäuser in die Luft sprengen“.
Und vielleicht wollte es ja doch wirklich nur der Zufall, daß ganz bestimmte und nicht gerade die unwichtigsten Funktionen im deutschen wie internationalen Kulturbetrieb Männern übertragen waren, die, bekennend oder nicht, praktizierend oder nicht, mosaischen Glaubens waren. Aber nicht einmal darum geht es, sondern: Das Drama von der Erlösung durch Entsagung gehört für Wagner nicht auf jene weit-bedeutenden Bretter, die dem Amüsement, der Frivolität dienen. „Bühnenweihfestspiel“ – dieser neu gefundene Titel sagt es nur zu deutlich.
Das mag simplifizierend klingen. Aber vielleicht ist auch dies aus den Zitaten und ihren Bedingungen zu lesen: Der eigentliche Antisemitismus findet sich nicht bei Wagner, sondern bei jenen Zeitgenossen, die ihn bei ihm erzeugten, forcierten, nutzten – bei Hans von Wolzogen zum Beispiel.
Und: Wenn es jemandem gelingt, eine Prämisse („Wagner war Antisemit“) zu setzen und zu fixieren, ist es nur zu einfach, auch die absurdesten Zitate im Lichte dieser Prämisse zu interpretieren. Daß der Wissenschaftler Zelinsky in dieser Weise die gebotene Präzision in der Kausalitätsbetrachtung immer wieder verliert, ist seinem so wichtigen Anliegen der kritischen Reflektion nicht gerade förderlich.
Die „reine Christuslehre“: „Erlösung dem Enlöser“, singt der Chor am Schluß des „Parsifal“ – wer ist der Erlöser, der durch wen und wie und wovon, vielleicht auch wozu erlöst wird? Für Zelinsky ist klar, daß Wagners eigenes Verständnis lautet: Der Erlöser Christus muß von einer „der schrecklichsten Verwirrungen der Weltgeschichte“ erlöst werden, daß „der Gott unseres Heilands uns aus dem Stammesgotte Israels erklärt werden sollte“ – Jesus muß arisiert werden. Für die Gemeinde der so Glaubenden wird als Tempel des zu feiernden Zentralkultes das Festspielhaus gebaut. Als einigendes Kultstück ist das Blut-Mysterium „Parsifal“ bestimmt. Cosima schreibt (5. 1. 1882) auf: „Wie ich Ihnen sage, daß ich soeben an Parsifal gedacht und mich gefreut, daß dieses letzte Werk auch sein Meisterwerk, erwidert und unterbricht er mich sehr erregt: „Nein, nein, ich habe mir heute gesagt, es ist doch sehr merkwürdig, daß ich mir dieses Werk für die höchste Reife habe erspart; ich weiß, was ich weiß und was darin ist; und es kann die neue Schule, Wolz u. a., sich daran halten’; er deutet mehr an dann, als er ausspricht, dem Gehalt dieses Werkes, ,Erlösung im Erlöser’ – und wir schweigen, nachdem er noch gesagt: ‚Gut, daß wir allein sind.“
In einem Brief an eben jenen Hans von Wolzogen aber schreibt Wagner von dem „für alle Zukunft wahrhaft erkannten, von aller alexandrinisch-judaisch-römisch despotischen Verunstaltung gereinigten und erlösten, unvergleichlich erhaben einfachen Erlöser in der historisch erfaßbaren Gestalt des Jesus von Nazareth“. Weiter davon, daß wir „Kirche, Christentum, ja die ganze Erscheinung des Christentums in der Geschichte schonungslos darangeben“ müssen (sollen, wollen), um den Christus „in seiner vollen Reinheit, seiner absoluten Unvergleichlichkeit und Kenntlichkeit… uns erhalten“ zu können. Schließlich: „Deshalb bitten wir um feinfühlige Besonnenheit im Ausdruck, um nicht mit den Juden und für die Juden zu arbeiten.“
Aber eben nicht nur Reinigung und Erlösung von „judaischer“, sondern auch von „alexandrinischer“ wie „römischer despotischer Verunstaltung“, von alttestamentarisch eifernden urkirchlichen Vorstellungen also von der bald zu errichtenden Weltherrschaft wie vom modernen Caesaropapismus. Knapp einhundert Jahre später hätte Wagner eine der tragenden Kräfte der „Theologie der Revolution“ oder einer der Verfasser des holländischen Katechismus sein können in dieser Besinnung auf ein humanisiertes Christentum der Nächstenliebe und Toleranz. Wenn der „Parsifal“ auch nur eins predigt, dann dieses „Umdenken“, die Abkehr vom elitären Machtprinzip und die Rückkehr zur offenen, unterschiedslosen, auf Mitleid und Wissen und Einfachheit gründenden überkirchlichen Struktur einer Gemeinde von Gleichen.
Und schließlich: Hartmut Zelinsky scheint zu wenig in die Noten geschaut und in die Musik hineingehört zu haben. Um es an einem von Ihm immer wieder als Beweis zitierten Detail festzuhängen: Cosima in ihrem Tagebuch (3. 2. 1879) „Ich komme herauf, um dir zu sagen, daß der Eintritt der g-Pauke das Schönste ist, was ich je gemacht habe‘. Ich begleite ihn hinunter, er spielt mir die Salbung Parsifals durch Titurel mit dem wunderbaren Kanon und die Taufe von Kundry mit dem Vernichtungsklang der Pauke; „Vernichtung des ganzen Wesens, jedes irdischen Wunsches‘, sagt R.“
Umdenken in Bayreuth
Der „Vernichtungsklang“ als „das Schönste“ hat es Zelinsky angetan. Aber sowohl die Dynamik wie die Harmonik, das Sicheinfügen der Pauke unter einen statischen Akkord – dieser Klang vernichtet nichts Kreatürliches. (Wohingegen ich im Augenblick eine Reihe von Klängen im Ohr habe, mit denen Menachim Begin durchaus vernichten läßt – aber das gehört wohl nicht hierher.)
Die Jubiläums-Inszenierung des hundertjährigen „Parsifal“ im Festspielhaus durch Götz Friedrich in den Bildern und Kostümen von Andreas Reinhardt muß für Hartmut Zelinsky ein weiterer Versuch Bayreuths sein, sich und den Meister „ins Ungenaue zu retten“ – weder die Antisemitismus-These noch die Vorstellung von der neuen Religion der Erlösung durch Vernichtung spielen auch nur die geringste Rolle. Wohl aber das „Umdenken“.
Friedrich/Reinhardt lassen es stattfinden in einem „umgekippten Tempel“, einer Chiffre für die aus dem Lot geratene Welt- und Gesellschaftsordnung. Boden, Wände und Decke zeigen die um neunzig Grad gedrehten Tempelfassaden aus Rundbogen-Nischen. Das System kann sich schließen zum „mächtigen Saal der Gralsburg“, kann sich öffnen zum „Wald“ und zur „Au“ wie zum „Zaubergarten“, und wenn die Decke sich noch einmal nach hinten neigt, ergibt sich eine Gruft, eine Krypta, in der Ritter ihre Toten (Titurel) beisetzen, die aber auch sich zum demokratisierten Forum ausweiten kann (Schlußbild).
Die Ritter:eine egozentrische, im Wesentlichen nur auf ihre Selbsterhaltung im Gral-Kult konzentrierte und damit entmenschlichte Schein-Elite. Wenn sie, in den oberen beiden Nischen-Reihen wie in Logen stehend, auf den wie in einer Arena mit sich und seiner Aufgabe kämpfenden Amfortas blicken oder später, ungerührt von den Qualen des an seiner Wunde wie an seiner Sünde Leidenden, ihr Abendmahl-Ritual begehen, ohne daß er teilnehmen kann, wird deutlich, daß ihnen bereits das erste zur Erlösung tragende Kriterium fehlt: Mitleid.
Also der Gegensatz-Parsifal: ein Grüner, ein Alternativer, besser wohl: ein Ursprünglicher, der, wenn er in den Kreis des Grab eingeführt wird, dieses „Mitleid“ zwar schon besitzt, aber noch nicht „wissend“ ist, also zunächst wieder hinaus muß, in die „Welt“, aber nicht nur in die Verlockungen der triebhaften Sexualität in Klingsors Zaubergarten, sondern in zahlreiche und nicht genannte Prüfungen und Erfahrungen. Und so tritt Parsifal im dritten Akt zunächst als der „schwarze Ritter“ auf, der all den irdischen Dreck“, alle menschlichen Niederungen erfahren hat. (Er ähnelt damit, und das fügt die beiden Werke zusammen, dem Lohengrin, der die Gralserzählung singt und wieder zurück muß in die Welt, um erneut den Gral zu suchen.)
Der Gral: ein Konzentrationsobjekt für die, die sich seiner Ideologie anschließen. Merkwürdig, daß der Protestant Götz Friedrich sich (wie der Protestant Wagner) vom katholischen Ritus so faszinieren läßt, daß er vom sakramentalen Kult der Oblaten und des Wein-Bechers nicht loskommt, im Gegenteil, im dritten Akt die Gral-Monstranz, wie gehabt, zur Anbetung aussetzt und Verzückungsattitüden häuft, die einem Andachtsbildchen weit besser anstehen als dieser Gegen-Utopie. Gerade die bewußte Opposition gegen jede „Neue-Religion“-Ideologie, diese Frontstellung gegen eine sektiererische Formation – „Nicht soll er mehr verschlossen sein“ – müßte für die neugewonnene soziale und humane Aufmerksamkeit eine angemessenere Chiffre als diese vorkonziliare Betschwestern-Frömmigkeit finden können.
Melancholie, Scheu, Sanftmut
Kundry: Friedrich erinnert an die letzten Worte des noch sterbend schreibenden Wagner, nach dem der „Prozeß der Emanzipation des Weibes nur unter ekstatischen Zuckungen vor sich“ gehe. Schon Elisabeth/Venus in „Tannhäuser“, Elsa in „Lohengrin“ – bei Friedrich sind es keine „entschiedenen“, konsequenten, eindeutigen, sondern schillernden, sprunghafte, gebrochene Figuren. Auch Kundry hat diese Brüche, dokumentiert vielmehr Trauer und Schmerz als Verführungslust und -kraft. Wenn sie in Klingsors Zaubergarten „angesetzt“ wird auf die Verführung des Knaben Parsifal, verbirgt sie sich im schwarzen Gehäuse des Klingsor-Turmes, öffnet dann die Vorhänge zu ihrer eher krippenartigen Bett-Höhle, und wenn sie bald darauf schwarze Tücher in alle Himmelsrichtungen ausbreitet, baut sie damit die Symbolfigur einer kriechenden Spinne, entwickelt aber auch die Chiffren für Attraktion durch Distanz.
Der Speer schließlich: Ursprünglich war er ja, wie für Wotan im „Ring“, allenfalls ein Symbol, Kennzeichen der Kraft des Gral. Die Sünde des Amfortas war es, ihn als Waffe benutzt zu haben – seine Wunde ist nur das strafende Relikt dieses Fehlverhaltens. Wenn Parsifal den Speer seiner ursprünglichen Bedeutung wieder zurückgewinnt, reserviert er damit das ganze Stück für die Idee einer waffenfreien Existenz. Weit überspitzt formuliert: Im hundertsten Jahr ist der „Parsifal“ in Bayreuth den Ideologen entrissen und den Sanften, Friedfertigen, den Stillen und Einfachen (zurückgegeben (und hat dabei in manchem Kunstgewerbe-Schnickschnack doch verbesserungsfähige Strecken).
Diese Tendenz wird, in manchmal noch nicht erfüllter, über weite Strecken jedoch für mich sensationeller Weise gestützt durch die Orchesterführung durch James Levine. Bei gelegentlich extrem gedehnten Tempi, mit vier unvorstellbar langen, daher gefährlichen, aber meist intensiv spannungsgeladenen Pausen, mit außerordentlich weichen, runden, unaggressiven Klängen, mit wunderbaren Piano-Passagen und -Linien einzelner (Holzbläser und geradezu samtenen Streichen Akkorden entlarvt er geradezu die kapellmeisterlichen wie die kühl-abstrakten Interpretationen, gelegentlich holt er die Partitur in die Nähe Bruckners, dann wieder, bringt er sie zu mendelssohnischer Einfachheit, weist auf Schönberg/Alban Berg hin oder erinnert an die Getragenheit mittelalterlicher Bläsersonaten.
Ein Ensemble kraftvoller Stimmen. Am überzeugendsten für mich der Amfortas von Simon Estes, der mit heller, direkter Tonfarbe die ganze Gequältheit einer unerlösten und kranken Kreatur sich aus dem blutenden Körper singt, der dazu in jeder Phase seiner Partie die ausdrucksvollsten Szenen bietet; und der Gurnemanz von Hans Sotin, der mit Ruhe und Klarheit singt, expressiv in den langen Linien und nie nur vordergründig effektvoll. Franz Mazura als Klingsor, dieser zum Astrophysiker und Magier emporgekletterte Renegat, zwingt mit kraftvollem Bariton ebenso in den Bann wie durch die Blitz- und Dampfkunststücke. Als der junge Alternative, auch im stimmlichen Ductus bewußt gegen die Herrschenden abgesetzt, Peter Hofmann als Parsifal. Mit großen dramatischen Ausbrüchen faszinierend, in den lyrischen und tieferen Piano-Phasen erfolgreich vorsichtig Leonie Rysanek als Kundry.
Der so präzise berechnete Schlag auf den „Parsifal“ hat also im Jubiläumsjahr getroffen, aber doch keine, jedenfalls nicht die beabsichtigte Wirkung gezeigt. Götz Friedrich formuliert sie so – und alle Bayreuther Musiker führen es aus: „Wir andern haben das Recht und die Pflicht, die Melancholie, die Scheu, die Sanftmut des ‚Parsifal‘ herauszustellen, die der bessere Teil der Wagnerschen Herausforderung der Utopie ist – damals, und heute vielleicht noch viel mehr.“
Heinz-Josef Heribort | 30. Juli 1982