Parsifal
Christian Thielemann | ||||||
Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin | ||||||
Date/Location
Recording Type
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Amfortas | Philippe Rouillon |
Titurel | Reinhard Hagen |
Gurnemanz | Matti Salminen |
Parsifal | Gösta Winbergh |
Klingsor | Lenus Carlson |
Kundry | Violeta Urmana |
Gralsritter | Marc Clear |
Friedrich Molsberger |
Alptraum im Labyrinth der Symbolik
In wiederholten Anläufen hat Götz Friedrich schon die Faszination belegt, die von Wagners “Parsifal” auf ihn ausgeht. Nun hat er das Bühnenweihspiel an der Deutschen Oper Berlin abermals in Szene gesetzt, reicher denn je, aber er hat es darüber unglücklicherweise gleichzeitig verarmt. Er hat über ein Jahrhundert der “Parsifal”-Exegese in die drei Akte zu packen versucht, und so treibt die Aufführung auf dem hohen Meer der Gedanken und Überlegungen dahin, die nicht, wie beabsichtigt, den “Raum zur Zeit”, sondern die Zeit zum Alptraum werden lassen: zum Labyrinth der Symbolik. Friedrich dichtet tiefsinnig vor sich hin und sein Bühnenbildner Andreas Reinhardt hilft ihm nach Kräften dabei. In weiten, grauen Räumen siedelt er das Geschehen an. Geschlossene Vorhänge scheinen Friedrich inzwischen ein Greuel. Statt den Hörer die Meditationsmusik Wagners in ihrer tiefen Ruhe aufnehmen und bedenken zu lassen, überrascht er ihn mit einem steinern dahindämmernden Gurnemanz hinter transparenten geometrischen Mustern, die später auch komplett den Wald ersetzen. Der von Parsifal geschossene Schwan stürzt gewissermaßen aus dem Tiefkühlfach nieder. Um der lieben Konzentration willen, opfert Friedrich radikal alle Anschaulichkeit. – Aber gerade die war Wagner seit eh und je lieb und teuer, hat ihn unendliche Überlegungen gekostet. Sein künstlerisches Wollen war nachweislich auf Versinnlichung aus, nicht auf die Fadheit einer Geistigkeit aus zweiter und dritter, im wahrsten Sinne des Wortes erlesener Hand. Es ist ein Glück für die Aufführung, daß sie als Gurnemanz Matti Salminen besitzt, einen Sänger von Fleisch und Blut, wie geschaffen, mit seinem unerschöpflich strömenden Baß nicht nur Ritter und Knappen zu unterweisen. Immer, wenn er den Mund auftut, wozu er gerade im ersten Akt reichlich Gelegenheit hat, beginnt die Inszenierung zu atmen, Lebendigkeit zu gewinnen, Nachdruck, Macht, Eindringlichkeit. Sie strömt der Aufführung zu aus Wagners Musik; nicht aus der geschmackvollen, dekorativen Scheuheit, dem Modernismus der Szene, der mit schwingenden Lamellenvorhängen sich immerfort für Wagners musikalische Bildhaftigkeit zu schämen und zu entschuldigen scheint. Christian Thielemann am Pult des Opernorchesters schämt sich für Wagner mitnichten. Er nimmt den ersten Akt fast gemächlich wie ein gewaltiges Exposé. Erst mit dem zweiten beginnt es unter seiner Hand im Orchester zu brodeln. Die Blumenmädchen blühen einzig im Graben auf. Ihre verführerisch süßen Reize, auf die sich Wagner innig verstand, singen sich zwar mit den ausgewählten Stimmen der durch die Bank beglückend jungen Sängerinnen heraus, aber ansichtig wird man ihrer erst kurz und knapp am Ende der Szene, wenn Violeta Urmana als Kundry die Stimme erhebt. Sie ist das Ereignis der Aufführung. Die Litauerin hat bislang im Mezzofach Aufsehen zu erregen verstanden. Nun aber stellt sich heraus, daß ihre Stimme die wunderbare Leuchtkraft des Sopranregisters besitzt, Frau Urmana nicht nur über die finstere, satte Tiefe verfügt, sondern eben auch bruchlos und imposant über die hochklingenden Glücksregionen des Soprans – und dies bei aller Reife des Ausdrucks mit bewunderungswürdiger Frische. An dieser Kundry wird sich die Wagner-Welt nicht so schnell satt hören. Und wenn man weiß, daß sich Frau Urmana inzwischen der Isolde entgegenreckt, beginnt man sofort zu bedauern, nicht ihr Tristan zu sein. Gösta Winbergh jedenfalls war an ihrer Seite ein vorzüglicher Parsifal, Lenus Carlson gab markig (und leider nacktbäuchig) den Zauberer, Reinhard Hagen sang mit beeindruckend junger Stimme den Greis Titurel auf dem Sterbelager. Den Vogel, der in diesem Falle kein Schwan war, schoß Philippe Rouillon ab, der Amfortas aus Frankreich, ein Nobel-Bariton der Spitzenkategorie, stimmlich gestaltungsmächtig und wohllautend immer zugleich: ein Rollen-Debüt der lange nachwirkenden Art. Aus eher pauschalem Beginn führte Thielemann sein hingebungsvolles Orchester zu immer detaillierterem Musizieren. Während die Bühne immer stärker zerspellte, bis sie im dritten Akt die Welttrümmer wie Eisschollen Caspar David Friedrichs türmte und Parsifal den Gral wie mit mennigrot strahlenden Händen aus dem Boden grub, spielte man im Orchestergraben weiterhin voller Inbrunst und unverstelltem Verständnis “Parsifal”. Alles umsonst. Vielleicht, weil Karfreitag war, wurden viele mit Buhrufen ans Kreuz geschlagen: Friedrich und Reinhardt, aber auch Thielemann und sogar, wenn auch in milderer Form, Winbergh und Rouillon. Nur Frau Urmana und Salminen blühte der Karfreitagszauber mit unverkürztem Bravogeschrei auf.
KLAUS GEITEL | 14.04.1998
Raum und Zeit, rein dargebracht
“Den Code für eine Inszenierung des Parsifal enthalten Gurnemanz’ Worte: Du siehst, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit.” – behauptet Götz Friedrich, routinierter Parsifal-Exeget. Mit seiner Osterinszenierung 1998 schließt sich seine Reihe von Wagnerinterpretation an der Deutschen Oper; durchaus gelungen, was einmal mehr auch erstklassigen Solisten zu danken ist.
Raum und Zeit hat Immanuel Kant als Formen unserer Anschauung reklamiert, Götz Friedrich läßt ihn im Programmheft zitieren. Die Zuschauer seiner Inszenierung erfahren Räumlichkeit und Zeitlichkeit schon im Vorspiel als Erfahrungen: In äußerster Langsamkeit wechselnde Lichteffekte lassen zunächst einen tiefen, perspektivischen Raum erscheinen, der sich über Minuten als Gazevorhang erkennen läßt, hinter dem Gurnemanz hockt – um am Ende des Vorspiels wieder als Raum zu wirken.
“Der reine Raum und die reine Zeit sind Formen, in denen uns die Sachen zur Erscheinung kommen” paraphrasiert Friedrich Kaulbach (Berlin / New York 1982) den alten Kant und man kann verstehen, daß der auch schon in die Jahre gekommene Götz Friedrich dies für einen charmanten Interpretationsansatz hält. Es gelang prächtig, ohne aufdringlich zu wirken, die drei Dimensionen des Raums auf die drei Parsifal-Akte zu verteilen. Akt 1: schwarze, senkrechte Lamellenvorhänge. Akt II: Vertikale Teilung der Bühne (hinten: Zinnen der Burg / Klingsors Angriff, unten: Heraufkunft der Blumenmädchen) und schwarze Jalousien. Akt II schließlich: alles ist irgendwie schräg, Parsifal kommt von hinten rechts unten zur Mitte vor nach oben oder so.
An vielen Details könnte man ein bißchen herummäkeln: man könnte etwa die Art und Weise, wie christliche Symbolik eingesetzt wird (Amfortas nicht in einer Sänfte, sondern unter einem stützenden Kreuz!balken; Christusbild im Zielpunkt des perspektivischen Raumes, sich unter Kundrys Selbstanklage weitend etc.) übereifrig finden oder pädagogisch. Doch meistens paßt’s, selten ist es so arg pathetisch wie leider am Schluß. Kurzum: Mir hat’s gefallen, weil Götz Friedrich viel erzählt und erklärt.
Musikalische Einwände sind schon stärker geltend zu machen, vor allem was Orchestergraben und Chöre betrifft. Wunderbare Holzbläser und ergreifende Streicher gibt’s genug, auch im Orchester der Deutschen Oper. Die Publikumsbegeisterung für Thielemanns ordentliche Leitung und sein eben nur teilweise herausragendes Orchester habe ich nicht verstanden und er wohl auch nicht, wenn ich sein Kopfschütteln vor dem Vorhang man frech so interpretieren darf. Falls er mit der Geste ausdrücken wollte: “Daß die so gut spielen können, hätte ich gar nicht gedacht” – was wahrscheinlicher ist – , sollte er mal wieder hineinhören, wenn Gastdirigenten am Werk sind.
Noch rasch zwei Sätze zu den Solisten. Violeta Urmana als Kundry dürfte derzeit nicht zu übertreffen sein. Sie verbindet musikalische Perfektion mit gestalterischer Wandlungsfähigkeit aufs allerfeinste. Salminens Gurnemanz ist ebenfalls perfekt, Winbergs Parsifal tadellos. Die Chöre sind es wieder einmal nicht, Timing und Intonation stimmten einfach nicht allzu oft.
FAZIT:
Hinhören! Da in dieser Spielzeit (nach lediglich vier Vorstellungen!) keine weiteren Aufführungen geplant sind:
Pfingstsonntag, 31. Mai 1998, ab 19:40 gibt’s bei Deutschlandradio den rezensierten Abend als Mitschnitt.
Tilman Lücke | Rezensierte Vorstellung am 3. Mai 1998