Parsifal

Daniele Gatti
Chor und Orchester der Bayreuther Festspiele
Date/Location
25 July 2008
Festspielhaus Bayreuth
Recording Type
  live   studio
  live compilation   live and studio
Cast
Amfortas Detlef Roth
Titurel Diógenes Randes
Gurnemanz Kwangchul Youn
Parsifal Christopher Ventris
Klingsor Thomas Jesatko
Kundry Mihoko Fujimura
Gralsritter Arnold Bezuyen
Friedemann Röhlig
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Eine kurze Geschichte der Deutschen Nation

Aus der Kuppel schwebt eine weiße Taube herab und verweilt über Parsifals Haupte. So steht es als originale Regieanweisung neben den letzten gesungenen Tönen des Parsifal. Inszeniert worden ist das wohl schon lange nicht mehr so, aus gutem Grund: Schon Nietzsche witterte die Operette im Bühnenweihfestspiel. Jetzt gibt es die Taube wieder, nicht herab schwebend, sondern hoch über der Bühne, als Einfassung eines Strahlers (Zunehmende Dämmerung in der Tiefe bei wachsendem Lichtscheine aus der Höhe), dessen Licht auf das Publikum fällt. Welch ein Kitsch! wird da so manchem Betrachter in den Sinn kommen, wohl auch manchem, der sonst auf Werktreue pocht – aber dieses Schlussbild gehorcht einem komplexen System. Der norwegische Regisseur Stefan Herheim möchte, unter anderem, bei seinem Bayreuth-Debüt erst einmal ganz naiv die Geschichte von Parsifal und dem heilige Gral erzählen Da leuchtet der Gral knallrot auf und der Speer gleißt in weißem Licht, und wenn Gurnemanz vom Verlust des heiligen Speers berichtet, öffnen sich die Wände und man bekommt die passenden Bilder dazu gereicht. Ein Rittermärchen nach Art des Fantasy-Kinos also, naiv und farbenfroh, und es macht deutlich, dass es neben allen intellektuellen Gedankenspielereien eine richtig handfeste Story gibt, die gleichzeitig das Skelett der Inszenierung bildet. Aber dies ist nur eine von mehreren komplex miteinander verwobenen Schichten, aus denen sich diese höchst spannende Regiearbeit zusammensetzt.

Das Licht der Taube fällt in den Zuschauerraum, und das Publikum betrachtet sich zu den Schlusstakten in einem riesigen runden Spiegel selbst – offenbar sind wir es, die hier der Erlösung harren. Das ist die zweite wichtige Ebene: Der Erlösungsgedanke und damit die „Botschaft“, die das Werk durch die Zeiten transportiert. Da ist zunächst die rätselhafte Schlussfloskel „Erlösung dem Erlöser“, bildlich umgesetzt zunächst ganz naiv durch die Darstellung des Amfortas im Christus-Gewand, wobei die Dornenkrone von innen aus dem Kopf heraus zu wachsen scheint. Der prompte Einwand, Christus als Erlöser habe der Erlösung gerade nicht nötig, geht ins Leere: Als erlöst, und sei es in christlichem Sinne, betrachtet Herheim unsere Gesellschaft wohl kaum, vielmehr ist die Figur Chiffre für eine anhaltende Erlösungsbedürftigkeit, und dabei handelt es sich, betrachtet man die Vergangenheit, immer auch um eine eminent politische Angelegenheit. Erlösen wollte Wagner mit seiner Kunst, bereits lange vor dem Parsifal, auch die Nation. Herheim knüpft daran an und wagt einen Parforceritt durch die deutsche Geschichte seit Wagners Geburt, deren Zeitgenossen zu Beginn die Bühne füllen, über den ersten Weltkrieg (dorthin ziehen die Gralsritter-Soldaten am Ende des ersten Aufzugs), über die Katastrophe des Nationalsozialismus und des zweiten Weltkriegs (am Ende des zweiten Aufzugs), der eine Trümmerlandschaft hinterlässt, die sich erst mit dem Karfreitagszauber wirtschaftswunderlich erneuert, sodass die Gralsritter abschließend im alten Bonner Bundestag über das Thema debattieren. Das Verblüffende daran: Was sich auf dem Papier abenteuerlich liest, funktioniert auf der Bühne tatsächlich!

Der Gedanke der Volkserlösung, praktischerweise durch die eigene Kunst am heiligen Ort Bayreuth, ist ja nicht ganz unproblematisch. Kritische Autoren aber haben in dem Gedankengebäude des Dichterkomponisten nicht nur hehre Weltentwürfe, sondern reichlich unverarbeiteten freudianischen Ballast entdeckt, unter anderem in der Fülle von mutterlosen Figuren in Wagners Werk (darunter Siegfried, Tristan und natürlich Parsifal). Auch das greift Herheim auf, und lange Zeit ist dies das beherrschende Thema der Inszenierung. Zu den Tönen des Vorspiels bereits öffnet sich der Vorhang, und in einem Bett sieht man eine sterbende Frau, daneben ein Knabe – und das alles unverkennbar in Wagners eigenem Haus, der Villa Wahnfried. Das zielt weniger auf Wagners Biografie ab als vielmehr auf den Grundkonflikt des Erwachsen-Werdens, der Ablösung von der Mutter (darum geht es ja auch im Parsifal, auch wenn die Mutter nur in Erzählungen existiert). Kundry und Gurnemanz kann man zunächst als Hauspersonal in diesem bürgerlichen Ambiente verstehen, womit die Sphäre des bürgerlichen Trauerspiels gestreift wird; allerdings verweigern sich die Figuren zunehmend einer eindeutigen Zuordnung, überlagern sich und verschmelzen mit anderen. Völlig enträtseln kann und will auch Herheim den Parsifal mitnichten. Aber er schafft ein derart bildmächtiges Geflecht von Assoziationen, dass es für drei, ach: für zehn konventionelle Inszenierungen gereicht hätte. So viel zu sehen und erleben war im Festspielhaus noch nie. Bildreich war ja auch Christioph Schlingensiefs gerade abgesetzter Parsifal, aber während jener locker-assoziative, daher oft auch beliebig scheinende Bilder zeigte, bleibt Herheim, so aberwitzig das im Detail auch sein mag, sehr eng am Werk. An vielen Stellen hat das den Charakter einer Revue, durchaus mit Sinn für Humor: Der Gralstempel („Dem Heiltum baute er das Heiligtum“) ist das Festspielhaus selbst, von Gurnemanz den Knappen und Rittern liebevoll vorgeführt.

Virtuos springt Herheim zwischen den verschiedenen Ebenen hin und her; Kundrys Verführungsversuche etwa zeigen neben dem erotischen und ödipalen Aspekt auch die politische Verführbarkeit des Knaben, stellvertretend für eine Generation wie für die Nachkommen des Komponisten, konkret hier die Verführbarkeit durch die Ideologie des Nationalsozialismus. Da werden in Wahnfried die Hakenkreuzfahnen aufgezogen (vereinzelt heftiger Unmut im Parkett), und auf Kundrys Fluch fallen die Bomben. Da wird quasi im Vorübergehen der dunkelste Punkt der Bayreuther Festspielgeschichte angesprochen.

Ein Bruch vollzieht sich zwischen dem actionreichen zweiten und dem meditativen dritten Aufzug: Nachdem vorher ständig etwas passiert ist, hinterlässt die jetzt ruhigere Erzählweise mitunter auch den Eindruck, dass hier die Regieeinfälle weniger stark als zuvor gesprudelt sind. Auch verliert sich der Handlungsstrang um den Knaben des Beginns; statt Wahnfried ist jetzt das Festspielhaus selbst, dessen Säulen auf die Bühne fortgesetzt werden, Ort des Geschehens. Ein paar bunte Lämpchen sind für den Karfreitagszauber arg wenig, gemessen an dem Spektakel zuvor. Auch fehlen den Personen die mysteriösen, märchenhaften Adlerflügel, die sie zuvor getragen haben. Auch wenn sich das im Einzelfall alles begründen lässt, bleibt der Eindruck, dass der dritte Aufzug das außerordentlich hohe Niveau der vorangegangenen beiden nicht ganz halten kann.

Die Inszenierung lebt von den großen Bildern, die Herheim sowie Bühnenbildnerin Heike Scheele und Kostümbildnerin Gesine Völlm mit genauem Ohr für die Musik entstehen lassen. In weiten Passagen ist der Bühnenraum fast permanent in Bewegung, fließend und beinahe schwebend (wobei mancher der höchst komplizierten technischen Abläufe sich noch einspielen muss). Dies korrespondiert sehr gut mit der musikalischen Interpretation durch Daniele Gatti, der das Stück aus dem Blickwinkel der „unendlichen Melodie“ dirigiert: Jedes Motiv, jede melodische Linie hat sich dem Gesamtplan unterzuordnen. Fast impressionistisch fließt die Musik in einem großen Bogen dahin. Das Tempo ist sehr getragen, wirkt aber, wenn man gleichzeitig die Bilder sieht, deshalb nicht langsam (die hier beschriebene zweite Aufführung war, wenn der Eindruck nicht täuscht, eine Spur flüssiger als die Premiere). Gatti arbeitet mit dem vorzüglichen Festspielorchester viele Klangfarben heraus, und er „trägt“ die Sänger. Der Beginn des zweiten Aufzugs dürfte allerdings mehr „Biss“ haben, müsste auch im Gesamtklang ausgewogener sein (hier dominiert das Blech zu sehr), und im Karfreitagszauber des dritten Akts wünschte man sich doch mehr Sinn für die einzelne Melodie.

Gesungen wird auch, wobei es die Sänger gegen die bildmächtige Szenerie naturgemäß schwer haben. Das unprätentiös singende, insgesamt erfreulich deutlich artikulierende Ensemble ordnet sich dem denn auch bereitwillig unter. Klangprächtig, berückend schön und mit vielen Nuancen singt der von Eberhard Friedrich hervorragend einstudierte Festspielchor – für diese Oper eine Bank. Das gilt auch für den klaren und kraftvollen Gurnemanz von Kwangchul Youn. Uneinheitlich dagegen der Parsifal von Christopher Ventris, bei dem jede Vokalfärbung auch mit einer veränderten Klangfarbe einher geht, was die musikalische Linie eintrübt. Zudem schont sich Ventris (zu) sehr für die „großen“ Stellen, die zwar kraftvoll gesungen sind, aber eben auf Kosten mancher scheinbar unbedeutenden Passage. Insgesamt fehlt der Stimme ein charakteristisches Timbre, mit dem die Figur stärker konturiert gestaltet werden könnte. Detlef Roth ist ein nüchtern-sachlicher Amfortas mit klar geführter, nicht allzu großer, dennoch zupackender Stimme. Ähnliches gilt für den Klingsor von Thomas Jesatko, der manchmal unnötig stark in Sprechgesang verfällt, dann aber mit kraftvollen Ausbrüchen aufwarten kann. Die jugendlich unverbrauchte Stimme kann noch nicht immer das Dämonische vermitteln, das der Figur (mit barocker Perücke, Anzugjacke und Strapsen als rätselhaftes Zwischenwesen gezeichnet und von Jesatko brillant gespielt) anhaftet. Faszinierend dunkel mit interessantenter metallischer Beimischung klingt die Stimme von Mihoko Fujimura, allerdings auch mit unangenehmen Zischlauten und einer teilweise scharfen Höhe.

FAZIT

Eine über weite Strecken grandiose, mitreißende Inszenierung voller Ideen – mit einem Dirigenten, der vieles, aber nicht alles der Partitur einlösen kann. Sängerisch eine akzeptable, keine glanzvolle Besetzung.

Stefan Schmöe | Rezensierte Aufführung: 4. August 2008

Rating
(5/10)
User Rating
(3/5)
Media Type/Label
Premiere, PO
Technical Specifications
320 kbit/s CBR, 44.1 kHz, 654 MByte (MP3)
Remarks
Broadcast from the Bayreuth festival
A production by Stefan Herheim (premiere)