Parsifal

Kent Nagano
Chor der Staatsoper Hamburg
Philharmoniker Hamburg
Date/Location
16 September 2017
Staatsoper Hamburg
Recording Type
  live  studio
  live compilation  live and studio
Cast
AmfortasWolfgang Koch
TiturelTigran Martirossian
GurnemanzKwangchul Youn
ParsifalAndreas Schager
KlingsorVladimir Baykov
KundryClaudia Mahnke
GralsritterJürgen Sacher
Denis Velev
Gallery
Reviews
Spiegel Online

Passt schon, Parsifal!

Wie man Wagners “Parsifal” locker nimmt, zeigt Regie-Veteran Achim Freyer an der Staatsoper Hamburg: bunte Lichter, Totenköpfe und salopper Ideenklau bei Kollegen. Nur Dirigent Kent Nagano erweist sich als Spaßmuffel.

Das Licht! Von Beginn an ließ Regie-Altmeister Achim Freyer keinen Zweifel daran, dass ihm die bildhafte Verbindung von Erleuchtung und Erlösung in seiner neuen Hamburger “Parsifal”-Inszenierung extrem wichtig war – mehr als rein inhaltliche Ausdeutung.

Der Publikumsraum blieb zum Vorspiel erst mal hell, langsam verdunkelte sich die Sicht auf das Tableau von Richard Wagners “Bühnenweihfestspiel”, dessen werkgerechte Aufführung der eigentliche Zweck des ganzen Bayreuth-Unternehmens war. Von Kunst zu Religion.

Und der “reine Tor” Parsifal als Inkarnation von Wagners Kunst: Dessen Weg zu Wissen und Wahrheit muss man bei aller seiner philosophischen Wucht heute wohl mit einigen Körnchen Ironie-Salz nehmen. Was Achim Freyer dann auch tat.

Schlichte, zupackende Bilder

Nicht ohne Respekt. Die Bühne – schließlich ist Freyer auch ein erfolgreicher Bildender Künstler und Schüler von Bertolt Brecht – hat der Regisseur gleich mit konzipiert, wie auch Licht und Kostüme. Er baute einen großen, halb gerundeten Raum, der bis an die Bühnendecke reichte. In dessen Etagengängen gaben sich die Gralsritter, der verwundete Amfortas, der böse Zauberer Klingsors und Retter Parsifal die Klinke in die Hand, das Weltenrund eben, zu dem alle gehören.

So kann alles bildlich binden, was zusammengehört. Und niemand kann daraus wirklich entfliehen: eines der schlichten, aber zupackenden Bilder, die Freyer für seinen “Parsifal” erdachte.Vor dieser Bühne spannte sich eine Gaze-Wand, die Raum für Projektionen bot. Mal Wassergewalle, mal Kernbegriffe der Inszenierung. “Gnade”, “Mitleid”, “Schmerz” – für alle Fälle, damit niemand im Publikum den Anschluss verlöre. Ein Hauch von Volkshochschule wehte durch die Staatsoper, aber auch die Art von Humor, die Achim Freyer für die Konterkarierung der Weiheveranstaltung, Marke Wagner, vorgesehen hatte.

Der alle verbindende Gral: ein Licht, mehr nicht. Und von diesem Gral trägt jeder Ritter einen Teil mit sich, ein schlichtes, aber schlüssiges Bild. Diese Macht der schlichten Bilder kultivierte Achim Freyer bereits in seiner legendären Hamburger Inszenierung von Helmut Lachenmanns epochaler Oper “Das Mädchen mit den Schwefelhölzern”, die dem Haus an der Dammtorstraße 1997 einen bescheidenen Skandal bescherte.

Ein Licht, mehr nicht

Für die Klammerung von Respekt und Distanz ließ Freyer seine Protagonisten im Regen der Regie-Disziplin stehen, buchstäblich. Den mächtigen Ritter Gurnemanz, wichtiger Erklärer und Zeremonienmeister jeder “Parsifal”-Inszenierung, platzierte Achim Freyer meist sängerfreundlich und friedlich im vorderen Bühnenraum oder an der Rampe stehend, was dem großartigen Bass- und Bayreuth-Erfahrenen Kwangchul Youn bestens gefiel: Seine mächtige und tiefgründige Stimme füllte und formte die Rolle in Vollendung.

Andreas Schagers Parsifal, mit einem schwarz-weißen Harlekin-Kostüm (ein “Narr” halt, zunächst!), schwarz-weiß geschminkt als Früh-Punk, musste sich tenoral mächtig aufpumpen, um gegen diesen Fels zu bestehen – was ihm im Laufe der Inszenierung immer besser gelang. Volle Punktzahl.

Durch diese Statik der Personenregie bekam man auch ausreichend Gelegenheit, das verschrobene Outfit der zunächst bösen Zauberin und Intrigantin Kundry zu bewundern. Von Kopf bis Fuß mit wuchernden Glitter-Dreadlocks über ihrem schwarzen Gewand behaftet, wirkte sie beim sängerischen Herumstehen stets wie ein glamouröser Gothic-Baumstumpf, verschmolz auf diese Weise aber bestens mit der Schwarzkittel-Versammlung der Rittersleut, deren Totenkopf-Gesichtsbemalung ebenfalls noch ein paar weitere Punkte auf der nach oben offenen Freyer-Skala der Ironie anzeigten. Dazu passte in seiner optischen Schrillness auch das Blumenmädchen-Ensemble, das Achim Freyer als B-Movie-Truppe aus einer Bunny-Ranch ausstaffiert hatte, Russ-Meyer-Busenträume inklusive.

Glitter-Dreadlocks und Gothic-Ritter

Wären da nicht die fortwährenden Licht-Einfälle gewesen, man hätte depressiv werden können. Aber der weite Gaze-Raum brachte nicht nur Begriffe, sondern auch reinigende Wasseranmutungen – und damit immer neue Suggestionen. Das Schwert, das die Wunde des todkranken Amfortas schließen soll, ist ein Lichtschwert, die Star-Wars-Fans kennen und lieben das: Es schwebt als Damokles-Waffe über der Szenerie, denn auch der neue, “reine” König Parsifal, zu dem er am Ende gekrönt wird, ist nicht für alle Zukunft sicher.

Das Krönchen aber, das der Ironiker Achim Freyer seiner Inszenierung als Insider-Joke aufsetzt, sind Zitate – von geklaut mag man bei der Offensichtlichkeit nicht reden – von illustren Kollegen, die sich ebenfalls dem Parsifal gewidmet hatten. So steht der Harlekin-Tor im plakativen Handzeichen-Modus auf der Bühne herum (die letzte Hamburger Inszenierung von Robert Wilson lässt grüßen), da marschiert das legendäre Schlingensief-Häschen über die Bretter (Bayreuth 2004) und am Ende malträtiert Freyer das grandiose Spiegel-Schlussbild von Stefan Herheims überragender Bayreuther Parsifal-Version 2008.

Das allerdings so kasperhaft vergrützt, dass einen der Witz schon wieder nervt. Klar, Spaß muss sein, aber warum dann “Parsifal”? Passt schon, möchte man sagen. Der Weihe ist genug getan, nun muss das Leben weitergehen. Oder so ähnlich.

Wiedersehen mit dem Schlingensief-Häschen

Irgendwie schien auch Maestro Kent Nagano im Orchestergraben diese Welle von Witz einen Tick zu weit gegangen zu sein, denn sein bis zum Exzess dezentes Dirigat grenzte stellenweise an Dienst nach Vorschrift, was für die Sänger und die Inszenierung letztlich eine höchst diplomatische Lösung war.

Er begleitet den vor Intensität berstenden Klingsor des vitalen Vladimir Baykov mit Kraft und Fülle, flankierte die etwas kehlig-kalte aber intensive Kundry von Claudia Mahnke gewissenhaft und ließ dem Leiden von Wolfgang Kochs zuverlässigem Amfortas alle Ausdruckskraft. Der Chor, von Bayreuth-Meister Eberhard Friedrich gewohnt perfekt geführt, konnte in jeder Phase begeistern, ein ungeheurer Aktivposten im Hamburger Opernhaus.

Manchmal, vor allem im zweiten Aufzug der grell-traurigen Klingsor-Welt, ließ Nagano es mehr blühen, wobei auch das perfekt eingestimmte und hochmotivierte Orchester noch besser aufschimmerte: Glanz bis ins letzte Details, ein großer Abend in Sound und Dichte.

Langweilig wurde es jedenfalls nie, auch wenn Achim Freyers altersmilde, fröhlich-freundliche Weiheveranstaltung ein wenig zu sehr dem Lächeln frönte: Dem Premierenpublikum gefiel es. Es feierte Ensemble und Solisten, wie auch die Musiker. Beifall kann nicht ironisch sein, aber hier hätte man sich dieses “Parsifal”-Wunder gewünscht.

Werner Theurich | 17.09.2017

Neue Zürcher Zeitung

Erlösung in der Himmelsspirale: Achim Freyer deutet Wagners «Parsifal»

Der Bühnenverzauberer Achim Freyer hat an der Hamburgischen Staatsoper eine Bilderwelt erfunden, die es an Suggestionskraft mit Wagners Wunderwerk aufnehmen kann.

Der Komponist Maurizio Kagel träumte davon, die Musik des «Parsifal», Wagners «Sehnsucht nach dem Absoluten», in Bayreuth einmal in der radikalsten Inszenierung der Musik verwirklicht zu sehen, die man sich vorstellen kann: auf vollständig dunkler Bühne, als einen «Triumph der reinen Vorstellungskraft». Darin steckte fraglos auch eine Polemik gegen das ermüdende Steh- und Rampensingtheater, das lange Zeit die Inszenierungstradition beherrschte. Tatsächlich aber grenzt die Aufgabe, den im «Parsifal» auskomponierten Innenwelten eine szenische Entsprechung zu geben, ans Unlösbare.

So fluide ist das motivische Netz aus Vorahnungen und Erinnerungen, das Wagner hier beziehungszauberisch webt, so abgründig, morbide und stets nah an der Auflösung bewegt sich diese Musik in ihrer Neigung zur harmonischen Verflüssigung und zur Verräumlichung der Zeit, dass die Versuche, sie in einem Bühnengeschehen bildlich zu fixieren, meist unendlich banal und wie ernüchternde Begrenzungen wirken. An der Hamburgischen Staatsoper hat nun der tiefsichtige Bühnenverzauberer Achim Freyer eine szenische Bilderwelt erfunden, die es an Suggestionskraft tatsächlich mit Wagners «einzigem Wunderwerk» (wie Alban Berg die «Parsifal»-Partitur nannte) aufnehmen kann.

Auf der Via dolorosa

Das Geschehen spielt auf den verschiedenen Ebenen einer grossen Spirale, die sich durch Spiegelungen nach oben und unten ins Unendliche fortzusetzen scheint. Zahlen und Buchstaben an verschiedenen Stationen des Spiralweges erinnern an eine astronomische Zeichnung. Zugleich erscheint dieses Welterklärungsmodell auch als Leidensweg, als eine Via dolorosa. Auf den schwarzen Bühnenwänden haben die Protagonisten sich mit ihren Obsessionen und Wünschen in Graffiti-ähnlichen Kritzeleien verewigt.

Projektionen auf einem transparenten Vorhang, Lichteffekte und Farbwechsel schaffen auf schwindelerregende Weise die Illusion einer Bewegung in je neue Dimensionen dieses zugleich in sich geschlossen und grenzenlos erscheinenden Kosmos hinein. Es ist ein in sich stimmiger und doch utopischer Raum, der sich wie eine der perspektivisch unmöglichen Unendlichkeitsspiralen von M. C. Escher in die Höhe schraubt. Sinnfälliger kann man den Entwicklungsweg der nach Erleuchtung strebenden Gralsritter kaum zeigen, suggestiver lässt sich Wagners Verräumlichung der Zeit optisch kaum entsprechen.

Auch Hamburgs Generalmusikdirektor Kent Nagano hat das Geheimnis dieser Partitur, ihren paradoxen Umgang mit der Zeit, genau verstanden. Trotz insgesamt überwiegend zügiger Tempi klingt sein «Parsifal», als sei er den chronometrischen Gesetzen der Dauer auf wundersame Weise enthoben, zugleich jedoch ungewohnt ernst, nachdenklich, introvertiert. Und das Philharmonische Staatsorchester spielt transparent, nuancenreich und beseelt, als wolle es noch den letzten Rest Erdenschwere abstreifen und das musikalische Gewebe gänzlich in Licht und Farbe auflösen.

Trickfilmreif

Freyer hält nichts von Aktualisierungen, und doch blickt er mit seinen puppenhaft drastisch geschminkten und kostümierten Bühnenfiguren tiefer in das Rätsel dieser pseudoreligiösen Entwicklungsgeschichte um den «reinen Toren», als mancher andere. Seine überdeterminierten Bilder öffnen weite Assoziationsräume. Da ist die sinnenfeindliche Welt der schwarz uniformierten Gralsritter, die allesamt mit Werkzeug in der Hand am grossen Ganzen des Weltentwurfs arbeiten.

Gurnemanz ist ihr Superhirn: ein mit höherer Vernunft begabter doppelköpfiger Denker, der das Modell der Spirale auf seinem Kopf trägt. Kwangchul Youn verleiht ihm imposante Basswärme. Titurel erscheint als gesichtsloser Greis im Rollstuhl, dem der Kopf unter der Last seines übergrossen Papsthutes wegknickt. Und der leidende Amfortas (mit prägnant rauer Tongebung: Wolfgang Koch) schleift seinen verwundeten Leib als Puppenköper vor sich her. Die Arme zur Kreuzsymbolik ausgebreitet, wird er von zwei Ku-Klux-Klan-Rittern gestützt. Später legt er den Puppenleib ab, reisst sich die blutigen Laken vom Leib, bis sich die Wunde trickfilmreif schliesst.

Blumenmädchenbuntheit

Klingsor (Vladimir Baykov) ist ein böser Varieté-Zauberonkel mit Teufelshörnern und obszön heraushängender Zunge. Er trägt seine grosse rosa Krawatte vor seiner Kastrationswunde wie ein Exhibitionist und manipuliert die Welt per Fernbedienung. Die Blumenmädchen beginnen auf sein Kommando als rosa Sex-Schweinchen mit aufgeblasenen Brüsten zu tanzen.

Aber nicht nur das pornografisch aufs Sexuelle fixierte Klingsor-Reich, sondern auch die lustfeindliche Gralsritterwelt wird von perversen Missbrauchsritualen beherrscht. Der Tod persönlich schiebt hier in einer Schubkarre einen Kinderkopf über die Bühne. Wenn der Gral enthüllt wird, überquert ein Kind im weiss leuchtenden Reifrock die Bühne in entgegengesetzter Richtung. Man erahnt ein gruseliges Selbstverjüngungsritual der Gralsritter.

Einzig Kundry (intensiv und durchdringend: Claudia Mahnke) und der narrengleiche Parsifal des heldentenoral strahlenden Andreas Schager vermitteln zwischen den Welten. Mit dem Karfreitagszauber kehrt etwas von der Blumenmädchenbuntheit auf sublimierter Ebene wieder. Kundry stirbt nicht, sondern wird von Parsifal gekrönt. Als Paar tragen sie am Ende die Last der Welt, wenn die ganze Spiralkonstruktion in sich zusammenfällt. «Anfang» steht in grossen Lettern auf dem Gazevorhang. So hoffnungsvoll hat man dieses Ende noch nicht gesehen.

Julia Spinola | 19.9.2017

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Harlekin besucht die Gralsritter

An der Hamburger Staatsoper verrätselt Achim Freyer den schon sehr rätselhaften „Parsifal“ von Richard Wagner noch mehr. Das Beste sind die Bässe.

Während der Arbeit am „Parsifal“ bemerkte Richard Wagner zu seiner Frau Cosima: „Ich habe einen philosophischen Satz komponiert; ,hier wird der Raum zur Zeit“. Tatsächlich aber sagt Gurnemanz, mit Parsifal auf dem Weg in die Welt des Grals: „Zum Raum wird hier die Zeit.“ Nicht nur für Wagner war es „ein verfluchtes Thema“, sondern auch für Theatermacher, die das zeitliche Geschehen durch die Kategorien des Raumes sichtbar machen wollen. Bei seiner Hamburger Inszenierung nähert sich Achim Freyer als Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner dem Rätselwerk mit einer szenischen Verrätselung – einer Folge mythischer Bilder, kryptischer Zeichen und symbolischer Zahlen.

Auf dem Gespinst des Vorhangs erscheinen Worte wie Werk und Nacht und Schlaf und Schwarz und andere Signalbegriffe, die mit der Ideenwelt des Werks verbunden sind. Durch das Nachtdunkel des surrealen Schattenreichs bewegen sich aus mythischen Welten zurückkehrende Figuren. Jesus und Franz von Assisi, Joseph und Pontius Pilatus, König und Narr, Gevatter Tod und eine Gralsfigur auf dünnen Beinchen, mit einem lichtdurchfluteten Röckchen und einem Schwellkopf – sie und viele, viele andere, so bemerkt Freyer in seinen Arbeitsnotizen, spielen ihre Rolle. Nur welche? Mit Gurnemanz gesprochen: „Das sagt sich nicht.“

Der rothaarige Teufel mit der Trump-Krawatte

All die mythischen Urwesen sind dick-maskenhaft, wie im Kabuki-Theater mit Kumadori, geschminkt. Aus dem Nacken des Gurnemanz rankt sich ein Spiralgebilde, Chiffre wohl für das Weltgebäude, in dem die Gesellschaft des Grals umher irrt. Amfortas wird vom Kreuz abgenommen und, wie bei einem Prozessionsritual, als Christusfigur aus Pappmaché herumgetragen. Ein Flugwesen stürzt, szenisch ein brillanter Coup, auf die Bühne hinunter und verwandelt sich in Kundry.

Klingsor erscheint schon im ersten Akt während der Erzählung des Gurnemanz als rothaariger Comic-Märchenteufel mit vergrößerter Trump-Krawatte, hinter der er seine Selbstkastration vollzieht. In diese „Spiralkugel dieser sinnsuchenden und wahnhaft erstarrten Gesellschaft“ (Freyer) dringt ein artistisch radschlagender Parsifal ein, Wiedergänger des Arlecchino im weißen Anzug mit rotem Pfeil auf der Brust und der Miene eines tumben Toren.

Figuren werden umgedeutet

In dieser Bilder-Träumerei gibt es für die Handlung keine psychologische Motivation, für den Zaubergarten nicht die Sinnlichkeit üppigster Blumenpracht. Die Blumenmädchen nahen sich nicht in zartfarbigen Schleiern, sondern kommen als Wiedergängerinnen von Federico Fellinis riesenbrüstigen Frauen daher. Mag dies als Versuch eines verfremdenden Updates gelten, so wird die Kundry des zweiten Aktes radikal umgedeutet. Sie erscheint nicht „in durchaus verwandelter Gestalt als jugendliches Weib in leicht verhüllender, phantastischer Kleidung“, sondern, wie schon im ersten Akt, als Zottelwesen, das so aussieht, als ob sie mit der Sünde gleich auch die Strafe mitliefere.

Das aber widerspricht dem Sinn jener zentralen Szene, in der Parsifal durch den Verführungskuss Kundrys „welthellsichtig“ wird. „In ihrer qualvollen Zweiheit und Zerrissenheit als instrumentum diaboli und heilssüchtige Büßerin“ ist Kundry, so Thomas Mann in seinem berühmten Wagner-Vortrag, „mit einer klinischen Drastik und Wahrheit, einer naturalistischen Kühnheit im Erkunden und Darstellen schauerlich kranken Seelenlebens gemalt, die mir immer als etwas Äußerstes an Wissen und Meisterschaft erschienen ist“.

Der Schrei wird nicht gesungen

Dass Kundry nach dem Kuss auch für sich Mitleid einklagt und zugleich mit dem Geständnis ihrer Urschuld, nämlich Christus am Kreuz verlacht zu haben, ein Liebesstündchen anbietet – diese seelische Verschlungenheit, von Wagner aus der Verschränkung mythischen und psychologischen Denkens entwickelt, wird gänzlich eskamotiert. Musikalische Chiffre für die Schuld der Kundry ist der „grässliche Schrei“, den sie, von Klingsor als „Urteufelin“ und „Höllenrose“ aus dem Schlaf herauf gerufen, ausstößt.

In der Rolle des „wunderbar weltdämonischen Weibes“ (Wagner über Kundry) ließ sich Claudia Mahnke nicht auf das Wagnis ein, diesen komponierten Schrei, der durch einen Tonraum von fast zwei Oktaven in das Inferno von Schuld- und Angstgefühlen stürzt, zu singen. Er ist in der Tat auf das Gelingen des Unmöglichen abgesehen – wie all jene Passagen, in denen Kundry nur mehr schreien-wüten-toben-rasen kann und dies doch, ein typisches Wagner-Paradox des Ausdrucks, singend beglaubigen muss. Ungeachtet vieler eindringlicher Momente, gerade in Piano-Phrasen, wurde Claudia Mahnke in dieser schwierigsten aller Sopran- oder Mezzo-Partien der Einheit von Deklamation und Gesang nur bedingt gerecht.

Die Spannung fehlt

Für den Parsifal brachte Andreas Schager ein wie von Siegfried geschmiedetes Stimmschwert mit, das er forte-fortissimo schwang und ausgerechnet nach dem Kuss – „Amfortas, die Wunde“ – in einem veristischen Schrei wie in einer Oper von Pietro Mascagni klirren ließ. Warum nur nehmen Dirigenten heute alle ästhetischen und stilistischen Missgriffe einfach in Kauf, wenn ein Tenor nur den musculus vocalis schwellen lassen kann? Als Titurel musste Tigran Martirossian mühsam nach den Tönen für „Amfortas, mein Sohn“ suchen.

Eindringlich Wolfgang Koch als Amfortas, dem nur bei den Rufen nach „Erbarmen“ die expressive Verzweiflungskraft fehlte; und imponierend der russische Bassbariton Wladimir Bajkow in der gesanglich außerordentlich sperrigen Partie des dämonischen Magiers Klingsor. Dass Gurnemanz das Beste aus seinen Sängern herausholt, bewies einmal mehr der koreanische Bass Kwangchul Youn, gerade in den vielen Piano-Passagen seiner Partie. Man muss wohl hinnehmen, dass aus einem offenen Orchestergraben kein auratischer, die Orchesterstimmen legierender Klang emporsteigen kann wie aus dem „mystischen Abgrund“ in Bayreuth, weniger aber, dass der von Kent Nagano dirigierten, mild enttäuschenden Aufführung trotz sehr zügiger Tempi jene Spannung fehlte, bei der die Zeit zum Raum wird.

Jürgen Kesting | 18.09.2017

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Media Type/Label
Technical Specifications
320 kbit/s CBR, 44.1 kHz, 543 MByte (MP3)
Remarks
In-house recording
A production by Achim Freyer (premiere)
Also available as video