Parsifal

Pablo Heras-Casado
Chor und Orchester der Bayreuther Festspiele
Date/Location
12 August 2023
Festspielhaus Bayreuth
Recording Type
  live  studio
  live compilation  live and studio
Cast
AmfortasDerek Welton
TiturelTobias Kehrer
GurnemanzGeorg Zeppenfeld
ParsifalAndreas Schager
KlingsorJordan Shanahan
KundryElīna Garanča
GralsritterSiyabonga Maqungo
Jens-Erik Aasbø
Gallery
Reviews
Neue Frankfurter Presse

Ohne Brille sieht man besser

Bayreuth -Wagner-Fans – viele dürften es in Bayreuth nicht sein -, die nicht nur Opern hören, sondern auch mal „Fifa“, „Cyberpunk“ oder „Call of Duty“ an der Playstation zocken, waren natürlich bitter enttäuscht: So viel Theater um die „Augmented Reality“ (AR), und dann kommt nicht mehr raus als ein paar dornige Äste, Insekten, Eulen, Totenschädel und kantige Körperteile, die durch die Finsternis fliegen und sich ausnehmen, als stammten sie aus der Zeit, da die Videospiele laufen lernten? Ernüchternd.

Nur 330 Zuschauer in den hinteren Reihen tragen bei der Eröffnungspremiere diese teuren schweren Gestelle (Stückpreis: 1000 Euro) auf der Nase, die den Blick in ein sonderbares Paralleluniversum eröffnen. Für die anderen rund 1600 Unbebrillten hat US-Regisseur Jay Scheib, Theater- und Technikprofessor am sagenumwobenen Massachusetts Institute of Technology, nur eine konventionelle Inszenierung eingerichtet. Anfangs spielt sie auf einer archaischen leeren Fläche mit blinkendem Stahlturm und schwebendem Lichtkranz, setzt sich fort in einem üppigen, grellbunten Pop-Art-Dschungel-Zauberreich mit saftigen Blättern, obszön schwellenden Blüten und lasziven Blumenmädchen. Das Ganze endet in einer ausgemergelten Endzeitlandschaft mit giftig trübem Teich und rostigen Maschinentrümmern aus dem Tagebau (Bühne: Mimi Lien).

Leider kommen die virtuellen und analogen Welten dieses „Parsifal“ nie zu einer sinnvollen Deckung. Im Gegenteil schiebt sich das zweite Universum meist verdunkelnd vor das erste, so dass man am besten die Brille absetzt. Mal verdoppelt die „Augmented Reality“ lediglich plump das Geschehen, bebildert es kulissenhaft mit Wald, Mond oder Unterwasserfelsen. Mal lässt es beliebig Zeichen, Embleme, Symbole des Unterbewussten irrlichtern, deren Bedeutung platt, beliebig oder nicht zu entschlüsseln ist. Weder trägt das Treibgut von Fliegen, Schmetterlingen, Blutkörperchen, Batterien, Sturmgewehren und Plastiktüten zur Deutung bei, noch erweitert es intellektuell oder ästhetisch die Horizonte. Es wirkt unbeholfen, dilettantisch – wie freies naives Assoziieren, beiläufiges Brainstorming: Verwirrung durch Überreizung.

Sollte sich Scheib intensiv und ausdauernd mit Wagners letztem Werk (1882) beschäftigt haben, lässt er es das Publikum nicht merken. Auch nicht, welche Geschichte er überhaupt erzählen will – sein Personal steht viel herum. Womöglich die einer müden, absterbenden, sinnentleerten Männergesellschaft, die sich Frauen vom Leib hält, in alten Ritualen erschöpft, dabei den Planeten ausbeutet und in eine unwirtliche Wüstenei verwandelt? Dafür haben Bebrillte AR-Hinweise wie schwebende Plastiktüten und Granaten. Am Ende aber – „Erlösung dem Erlöser“ – stehen Kundry und Parsifal Hand in Hand. Gralsgoldverklärt steigt virtuell eine Taube auf, als mystisches Symbol. Fader Disney-Kitsch.

Musikalisch allerdings bietet dieser „Parsifal“ wirklich Großes. Pablo Heras-Casados Debüt am Bayreuther Pult meidet blechern dröhnendes Pathos, verschleppt nichts, lässt aus dem Graben differenziert die Farben aufscheinen, die in der flackernden virtuellen Realität nur wirre bunte Reize bleiben. Der Spanier öffnet Raum für Sängerinnen und Sänger. Erstaunlich, wie Orchester und Gesang ohne Irritationen zusammenfinden. Jubel am Ende für Georg Zeppenfeld als Gurnemanz, der so präzise artikuliert, dass man fast jedes Wort versteht. Jubel für Elina Garanca (Kundry) und Andreas Schager (Parsifal), beide nach Absagen eingesprungen, denen im zweiten Aufzug im langen Duett die berührendsten, innigsten Szenen dieses Abends gelingen, eingefangen von einer Livekamera, stummfilmartig tragisch vergrößert. Bejubelt wird eine beglückende sängerisch-musikalische Gemeinschaftsleistung des Ensembles und der wohlklingenden Chöre. Einige Buhs schlagen dem Regie-Team entgegen. Es wäre ein Missverständnis, es dafür zu bestrafen, dass es etwas Neues gewagt hat. Es ist ihm nur nicht gelungen, das Neue klug und intelligent genug einzusetzen, um die Möglichkeiten, die das Verwandlungswunderwerk „Parsifal“ eröffnet, auszuschöpfen und den Raum ästhetischer Erfahrung zu erweitern. Vielleicht wird sogar erst die neue Technik das ganze magische Potenzial der Musikdramen des Zauberers Richard Wagner erschließen. In Bayreuth ist sie sicherlich am richtigen Ort. Aus dem Festspielhaus muss ja kein Multiplex-Kino mit Liveorchester werden. Aber bislang gilt: Ohne Brille sieht man besser.

Michael Kluger | 26.07.2023

Saarbrücker Zeitung

Parsifal mit Kassengestell

Mit dem Einsatz von Augmented Reality im neuen „Parsifal“ will man in Bayreuth die Oper mit Macht ins 21. Jahrhundert schubsen. Doch Jay Scheib inszeniert eine eher einfache Öko-Dystopie. Und was man durch die AR-Brille zu sehen bekommt, erinnert stark an Bildschirmschoneroptik von vorgestern. Wirklich modern ist dagegen das Dirigat von Bayreuth-Debütant Pablo Heras-Casado – und grandios präsentiert sich das Sänger-Ensemble um Andreas Schager und Elina Garanca.

Jede Wette: In jeder zweiten Kritiken-Überschrift zum neuen „Parsifal“ in Bayreuth steht irgendwas mit Brille. Dann wollen wir hier (siehe oben) auch keine Ausnahme machen. Aber noch ’ne Wette: Das Selbstbildnis mit AR-Brille aus dem Festspielhaus hat garantiert beste Chancen in der Wahl zum Selfie-Motiv des Jahres.

Einfach jeder, der zu den happy few Bebrillten zählte, lichtete sich selbst samt dunkler Gläser ab, die einem die Bühnen-Realität mit digital Eingespeisten erweitern. Die Promi-Logen mit Söder, Merkel und Von der Leyen sahen zur Premiere manchmal aus wie ein Mafiosi-Treffen; ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Über 1000 Euro Stückpreis pro Brille
Genau genommen waren es aber nur 330 mehr oder minder Glückliche unter knapp 2000 Premierengästen. Zu mehr hatte bei über 1000 Euro Stückpreis pro Brille die Festspielkasse einfach nicht gereicht.

Augmented Reality also in Richard Wagners heiliger Halle. Ausgerechnet dort, wo alles noch so ist, wie es der Meister des vollendet verschmelzenden Klanges wegen vor anderthalb Jahrhunderten befahl, also immer noch ohne Lüftung, Klimaanlage und mit bretthartem Gestühl. Just dort schubst man jetzt die Oper ins 21. Jahrhundert, will mit Macht zeitgemäßer werden mit einem Professor des renommierten Massachusetts Institute of Technology als Regisseur.

Gründe genug was zu tun, gibt es reichlich: Nicht erst seit diesem Jahr sind nicht mehr alle Vorstellungen ausverkauft. Politik, Sponsoren, Fördervereine hinterfragen mittlerweile unverblümt Art und Höhe der Unterstützung für das Wagner-Imperium, das nach wie vor von einer Wagner, einer Urenkelin des Komponisten, geführt wird. Festspielchefin Katharina Wagner, deren Vertrag noch bis 2025 läuft, dreht darum schon länger am Rad der Zeit, um jüngeres Publikum zu gewinnen. Dazu gehört etwa ein kostenloses Open Air zum Start der Festspielsaison, Wagner für Kinder und pseudo-hippe Gastronomie – „Wahnfood“, frei nach Richard Wagners einstigem Domizil Villa Wahnfried.

Richard Wagner war selbst auf Innovation aus
Da kommt der US-Prof vom MIT, einem Gral für IT- und Technik-Forschung; aber auch für Kultur und Gesellschaftswissenschaften, gerade recht. „Über die Bühnenkante hinaus“, erklärte der 53-Jährige, wolle er seine Regie treiben. Richard Wagner selbst hätte solches Ansinnen wohl behagt. War der Gesamtkunstwerker doch geradezu süchtig nach Innovation. Tonal sowieso, aber auch bei Technischem. So ließ als einer der Ersten das Licht im Theatersaal löschen, auf dass sich die Magie der Bühne potenziere.

Digitaler Zusatzzauber enttäuscht
Allerdings: Über den Status des interessanten Experimentes, kommt der digitale Zusatzzauber selten hinaus. Meist schwirrt bloß irgendwas durch die Gegend: Speere, Schwäne, Pfeile. Wovon gesungen wird, das visualisiert sich auch virtuell. Schlicht gedacht und überraschenderweise auch so gemacht. Die eckigen Animationen, die zudem nervig oft vor den real singenden und spielenden Menschen tanzen, ja das eigentliche Pfund der Theaterkunst, könnten glatt noch aus den Teenagertagen der Computergames stammen. Es fehlte nur noch, dass sich Pacman durchs Festspielhaus knabbert. In dieser Hinsicht trägt Parsifal bloß ein AR-Kassengestell.

Einmal nur wird es wirklich spektakulär. Im dritten Akt zieht einem die AR-Brille plötzlich den Boden unter den Füßen weg. Man schaut auf kahlen, toten Meeresgrund. Im Wasser treiben Flaschen, Tüten, Plastikmüll, alte Flachbildfernseher, der Schrott einer keine Grenzen kennenden Zivilisation.

Was er im „Parsifal“ sieht? Wohl eine Öko-Dystopie in der Ressourcen, unsere Lebensgrundlagen, gnadenlos ausgebeutet werden. Und Menschen ihre Energie im Gegeneinander verschwenden. Er übersetzt den Heiligen Gral für unsere Zeit mit der Energie, die alles unter Strom setzt, mit der sich die Gesellschaft – gleich den nach ewigem Leben gierenden Gralsrittern – wieder auflädt. Früher war das Öl der Brenn- und Schmierstoff. Jetzt sind es Lithium oder Kobalt – ohne die das digitalisierte Zeitalter nicht funktioniert, Mobiltelefone schwarz blieben, E-Autos keinen Zentimeter führen. Und für die Land wie Meere genauso geplündert werden wie für Kohle und Öl. Mahnend verrottet in einer kalten, vergifteten Landschaft da ein mit Schrämwalzen bewehrter Förderbagger. Relikt eines maßlosen Zeitalters – und ein auch klassisch starkes Bühnenbild von Mimi Lien.

Scheibs Ansatz wirkt da so naheliegend wie vordergründig überzeugend. Nur, dass sich nicht alle Akte des Bühnenweihfestspiels problemlos in dieses Muster fügen wollen. Titurels Zaubergarten der Lüste und Verführung verkommt so zur schlicht, netten Flower-Power-Gegenwelt. Alles blüht, sehr floral-vaginal, wie von einer Georgia O’ Keffee auf Droge gemalt. Kein Wunder, dass sich Parsifal von so offenkundig inszeniertem Sex nicht becircen lässt, und selbst Kundry mit ihrem Zauber bei ihm auf Granit beißt.

Überragende Elina Garanca
Dabei setzt Elina Garanca alles ein, betört, verführt, droht gar, probiert es auf die sanfte wie die harte Tour, wirft ihr gesamtes überragendes Stimmmaterial in die Waagschale, lockt mit feinsten Mezzo-Farben, aber sie glänzt auch im Spiel, ja, auch eine Charakterdarstellerin. Grandios. Und in Andreas Schager, der kurzfristig erst als Parsifal eingesprungen ist, findet sie einen kongenialen Widerpart. Kraftvoll, sich durchsetzend, geradezu verschwenderisch singt er – so wie man sich einen reinen Tor, der Parsifal zu Beginn noch ist, auch stimmlich wünscht. Auch die Kühnheit, mit der Parsifal – Amfortas erlösend – die Bürde des Gralskönigs (ab)nimmt, braucht exakt diesen Ton. Dass Schager überdies sich aber auch auf sensible Nuancen einlässt, mit denen er Parsifals Reifung zeichnet, lassen ihn zurecht im Applaus des Publikums baden.

Die Festspiele in Bayreuth sind dezidiert auch zur Förderung junger Musikerinnen und Musiker gedacht. Daher schicken die Richard-Wagner-Verbände regelmäßig Stipendiaten zum Grünen Hügel, die dort Aufführungen besuchen und ihre Kenntnisse zu Wagner und seiner Musik vertiefen können. Der Saarbrücker Richard-Wagner-Verband (RWV) zählt traditionell zu den besonders aktiven. Seit Gründung, so der Vorsitzende Dr. Wolfgang Schug, habe man bereits „über 600 jungen Menschen das Erlebnis der Festspiele ermöglicht“. In diesm Jahr schickt der saarländische RWV sechs Stipendiaten – zum Vergleich: der Pariser Verband schickt nur eine Stipendiatin. Aus dem Saarland sind diese Mal dabei der Bariton Max Dollinger und der Kapellmeister Nathan Blair vom Staatstheater, sowie von der Musikhochschule der Bassbariton Chanjang Choi, die Sopranistin Anna Major, der Fagottist Nicolò Biemmi und der Pianist John Carson.

Überhaupt präsentiert sich das Ensemble durchgängig mit individueller Klasse, aber eben auch exzellent aufeinander eingestimmt. Derek Weltons weltenmüder, zugleich jedoch immer noch energischer Amfortas, wie auch Tobias Kehrer, der Titurel mit Ironie würzt und der in Bayreuth viel gefragte und Bass-Alleskönner Georg Zeppenfeld als Gurnemanz – alle sie punkten.

Starkes Bayreuth-Debüt des spanischen Dirigenten
In zwei Jahren, 2026, feiern die Bayreuther Festspiele ihr 150-jähriges Bestehen. Viel war schon spekuliert worden, dass man quasi eine „neue“ Wagner komponieren lasse. Doch davon war jetzt in der Pressekonferenz keine Rede mehr. Allerdings soll 2026 auch „Rienzi“ gespielt werden, ein Novum, weil das Festspielhaus eigentlich Wagners letzten zehn Opern vorbehalten ist.

Schon 2025 wird aber Musicalexperte Matthias Davids die „Meistersinger von Nürnberg“ inszenieren (Dirigent: Daniele Gatti). Davids, heute Leiter der Musicalsparte am Linzer Theater, ist saarländischen Theaterfreunden gut bekannt. In diversen Musicals von „Jesus Christ“ bis „Rocky Horror Show“ sang und isnzenierte er in den 1990ern am Saarländischen Staatstheater. Sozusagen mit dem früher am Staatstheater engagierten Bariton Olafur Sigurdarson (aktuell als Alberich) und DRP-Chefdirigent Pietari Inkinen („Ring“) ein weiterer „Saarbrücker“ in Bayreuth.

Und für sie alle öffnet Bayreuth-Debütant Pablo Heras-Casado mit bemerkenswerter Weitsicht Räume, lässt ihnen Zeit. Obwohl der Spanier, der reichlich Erfahrung in historisch informierter Aufführungspraxis vorweisen kann, bis dato einer der fixesten „Parsifal“-Dirigenten auf dem Hügel ist. Zügig aber nie gehetzt, kraftvoll aber ohne Pathos und übermächtiges Blech legt er sein Dirigat an. Klar und entschlackt tönt das, souverän verbunden mit dem Chor. Zumindest in der Musik geht so auf Wagner auf die beste Weise – und überzeugend modern.

Oliver Schwambach | 26.07.2023

Tagesspiegel

Brillen im Blumengarten

Nanu, denkt man sich, falsches Stück? Eigentlich war doch „Parsifal“ annonciert, doch was die Natur hier auf dem Grünen Hügel aufführt, fühlt sich eher an wie der Beginn von „Walküre“: Ein monströses Gewitter entlädt sich kurz vor 16 Uhr, die traditionellen Blechbläser auf dem Balkon fallen aus, gewaltige Wassermassen ziehen in Sturzbächen den Hang hinunter. Trotz Dankbarkeit für jeden Regen: Wer kann, rennt, rettet, flüchtet sich in Abendgarderobe unters nächste Vordach oder gleich ins Festspielhaus. Buken vergangene Julitage in Bayreuth häufig in brutalem Sonnenschein und nahm einem die Hitze im aus Denkmalschutzgründen unklimatisierten Saal die Luft zum Atmen, ist dieses Jahr alles anders: 23 Grad, eigentlich perfektes Festspielwetter. Prominente wie Ursula von der Leyen werden halt von einer Schirmphalanx eskortiert, Markus Söder harrt im Auto aus und zeigt sich dann nur kurz der trotzdem wartenden Menge.

Zu den zahlreichen Mysterien des Festspielhauses gehört, dass es keine Aufenthaltsräume gibt, dass das Publikum vor Spielbeginn und in den Pausen im Freien steht, dass der Betrieb ohne die Außenanlagen gar nicht funktionieren würde. Schwierig, bei diesem Wetter. Und so drängen sich jetzt alle in den Treppenhäusern, die dafür gar nicht auslegt sind – um einem anderen Mysterium entgegenzublicken, Wagners letzte Oper, in der er Christus in zwei Figuren aufspaltet, in Amfortas, den Leidenden und in Parsifal, den Erlöser. Dieses „Bühnenweihfestspiel“ hat eine besondere Bedeutung für Bayreuth, ist es doch als einziges der zehn kanonischen Opern explizit für die akustischen Bedingungen hier geschrieben und durfte bis zum Auslaufen der Rechte 1913 auch ausschließlich hier aufgeführt werden, was die Mystifizierung noch zusätzlich gesteigert hat.

Ein kosmisches Dirigat
Pablo Heras-Casado dirigiert als Hügel-Debütant die elfte Inszenierung seit der Uraufführung 1882, und wenn es noch irgendeines Beweises bedurft hätte, dass Attribute wie „leidenschaftlich“ oder „feurig“ für Spanier nur blöde Klischees sind, hätte ihn dieser Abend geliefert: Im allerbesten Sinne ausgewogen und umsichtig, trotz raschem Tempos ganz bei sich und hochinspiriert, quasi in die Breite verströmend, ja: kosmisch und damit sehr gut zur Gralsmusik passend ist das, was aus dem Graben dringt, ein fantastisches Parsifal-Dirigat. Und ein großes Glück, denn es kompensiert zumindest teilweise, was die Szene auf offener Bühne schuldig bleibt.

Bayreuther Festspiele Wird Bayreuth jetzt endlich reformiert? Eröffnung mit Merkel und von der Leyen Wobei der Begriff „offene Bühne“ hier nicht gut funktioniert, denn es gibt zwei Bühnen, eine reale und eine zusätzliche, die man nur sieht, wenn man Augmented Reality (AR)-Brillen aufsetzt, das große Ding in diesem Jahr, doch offenbar aufgrund der hohen Kosten nur für wenige Besucher verfügbar, rund 300 von 2000 Plätzen sind so ausgestattet. Jay Scheib heißt der amerikanische Regisseur, der die Technik mit einem Team um Joshua Higgason entwickeln hat lassen. Die Geräte haben ein gewisses Gewicht, drücken auf die Ohren und erwärmen sich. Eingespeist werden die Informationen mittels Kabel.

In den ersten Minuten wäre „nett“ wahrscheinlich die passendste Bezeichnung. Zu Wagners galaktischer Musik sieht man Sterne vorbeifliegen, oder sind es Glühwürmchen, wer hat eigentlich, siehe Insektensterben, das letzte Mal reale Glühwürmchen gesehen? Auch Planeten, Bäume, später ein Fuchs surren umher, man muss das nicht unbedingt verstehen, lieber immer wieder mal die Brille abnehmen, um das Geschehen auf der Bühne pur zu sehen. Setzt man sie wieder auf, sind da immer noch die Sternchen, man verpasst nichts.

Manchmal gibt es eine zusätzliche Ebene des Verstehens
Das Ganze entwickelt sich kaum weiter. Die Motive sind meist illustrierend, erlegt Parsifal den Schwan, flattert da ein Schwan, das virtuelle Blut tropft in die Tiefe. Nur manchmal emanzipiert sich die AR, bietet eine zusätzliche Ebene des Verstehens. Wenn Kundry ruft: „Seine Mutter ist tot“, dreht sich ein Fachwerkhaus, das erst aufzugehen scheint wie ein Kuchen und schließlich anfängt zu brennen: drastische Verdeutlichung, dass Parsifal in jenem Moment auch noch das letzte bisschen Heimat verliert, das er glaubte, gehabt zu haben. Doch solche Augenblicke sind selten.

Die tatsächliche Bühne (Mimi Lien) ist relativ karg ausstaffiert, sieht man mal von Klingsors (Jordan Shanahan) in psychedelischen Bildern gemalten Zaubergarten im zweiten Aufzug ab, und natürlich huschen hier, man hat nichts anderes erwartet, viel virtuelle Blumen vorbei. Ansonsten Leere, als Gralsburg muss ein riesiger Neonröhren-Kranz genügen. Fast wirkt es so, als sei diese Nüchternheit Konzept, um der Augmented Reality einen möglichst großen Auftritt zu ermöglichen. Ungünstig, wenn man keine Brille hat. Auch nicht viel besser, wenn man eine hat. Im Grunde liefert Jay Scheib eine völlig konventionelle Inszenierung.

Ist es das wert? Kann Oper mit AR ein neues Publikum locken, das den zur Selbstverständlichkeit gewordenen Dauerbeschuss digitaler Reize so gewohnt ist, dass es eine „normale“ Bühne und „einfach nur Musik“ als leer und langweilig, ja als Zumutung empfindet? Vielleicht – eine Tür ist geöffnet, das Potential ist da. Aber man müsste es kreativer, intelligenter auch nutzen als das, was am Dienstagabend präsentiert worden ist.

Guten Gesang wird hoffentlich keine AR, keine KI jemals ersetzen. Einspringer Andreas Schager beweist als Parsifal erneut seine Verlässlichkeit. Der Österreicher ist kein genialischer Tenor, der an beiden Enden brennt, aber er besitzt enorme Kondition, auch wenn die Rolle längst nicht so herausfordernd ist wie etwa die des Siegfried, den er ja ebenfalls singt. Humor hat Schager auch – Mikrofonprobleme bei der digitalen Pressekonferenz am Vortag kommentiert er mit den Worten „Dass man mich einmal nicht hört!“

Elina Garanca begeistert den Saal, weil sie als Kundry durch alle Tiefen der Hölle geht, Georg Zeppenfeld ist erneut ein fantastischer, großartig textverständlicher, mit resonierendem Bass singender Gurnemanz, Derek Welton ein stimmlich aufwühlender, optisch allerdings kaum an seiner Wunde laborierender Amfortas. Tobias Kehrer windet sich als Titurel kreaturengleich auf dem Boden, so dass es mächtige Effekt macht, wenn eine gewaltige Stimme diesem Körper entfährt.

Für AR-Brillen-Besitzer tanzt im letzten Aufzug eine Plastiktüte vor den Augen: Soll es die Taube sein, das Zeichen göttlicher Gnade? Wenn ja, wäre es bitterer Sarkasmus, die im Ozean treibende Plastiktüte ist ja vielmehr Symbol des Umwelthorrors, den Homo Sapiens (der „weise“ Mensch) auf seinem Heimatplaneten entfacht hat. Parsifal lässt am Ende den Gralskelch einfach fallen, er „zerdeppert“ ihn, wie man in Franken sagt, und zieht mit Kundry davon. Ein Schockmoment, die folgenden Minuten nehmen dadurch eine andere Bedeutung an: Singen die Gralsritter von Erlösung, meinen sie dann Erlösung von dem Götzendienst, den die Anbetung des Grals bedeutet hat? Da wird es dann doch nochmal interessant. Insgesamt reicht aber, was Spannung betrifft, nichts an den Sturzregen zu Beginn des Abends heran.

Udo Badelt | 26.07.2023

New York Times

Wagner Would Have Liked AR, but Not This ‘Parsifal’

For Richard Wagner, the latest technology was crucial to staging his operas.

In Bayreuth, Germany, where he opened a hilltop theater in 1876 to realize his vision for his works, he promised that “the most up-to-date artistic resources will be used to offer you scenic and theatrical perfection.”

That year, the Rhinemaidens at the start of his “Ring” were supported behind the scenes by wheeled machines that made them seem to swim. A projector with prisms tried to create the effect of gods walking across a rainbow. The auditorium was dimmed — unusual at the time — to focus the audience’s attention and enhance the illusions.

Nearly 150 years later, cutting-edge technology has come again to Bayreuth: augmented reality, which adds a dense, often impenetrable layer of surreal imagery to Jay Scheib’s new production of “Parsifal,” which opened on Tuesday.

This medium could hardly be further from the creaky machinery and gas lighting of the 19th century. But the goal is the same as Wagner’s: to create “scenes such as you might imagine had come from an ideal world of dreams.”

But there’s a catch.

After a squabble within the notoriously squabbling Bayreuth Festival about funding the expensive augmented reality, or AR, glasses, money was allotted for 330 sets in a theater of 1,925 seats.

So 83 percent of the audience just experiences the old-fashioned article: Wagner’s operatic mystery play about a young man who ends up redeeming the ailing rituals of a corps of Holy Grail knights, straightforwardly staged and superbly sung, and conducted with muscular solidity by Pablo Heras-Casado. A much smaller group, including critics, gets the glasses, which superimpose on that live staging a crowded AR environment that is constantly in motion.

Are the 83 percent missing much?

They miss the space between them and the stage seeming to fill with twinkling stars as the soft prelude begins. The bare trees rotating in the ether. The motion-capture outlines of figures walking, embracing and suddenly ablaze. The asteroids. The fly that seems to land on the outside of the AR lenses.

Later, the flocks of birds, blood-red globules and spiky strawberries. The slithering snakes and spinning, silently cackling skulls. The blossoming flowers. The arrows, spears, machetes, axes, grenades and severed arms. The forlornly quivering plastic bags and the bounding fox. The rocky ledge that appears to fill the area beneath the seats in the third act.

In AR style, the 3-D images don’t move with you as you move your head. Rather, you seem to be able to pan across an environment that surrounds you: not a realistic landscape but a galaxy of disembodied elements floating in the darkness, a free-association, stream-of-consciousness panoply linked, to varying degrees, to the plot.

Some of the images’ textures are photorealistic, but most emphasize their computer-generated unreality, their unnatural angles and fake finishes, their eerie weightlessness. The aesthetic — with its collagelike excess of uncanny juxtapositions and its flat affect — evokes the digital art that has sometimes been winkingly called post-internet.

But for those wearing the glasses, the union of the production’s AR and live aspects isn’t generally happy. The lenses are tinted, so the live performance looks considerably dimmed, and the staging’s frequent video projections are almost invisibly faint.

The AR elements (designed, along with the video, by Joshua Higgason) often block the onstage action, even as those elements are fragmented enough to suggest they are offering a complement to that action, rather than a self-sufficient alternative.

However dreamlike, the resulting visual confusion doesn’t convey the hypermaximalist, proudly absurdist overload of Bayreuth productions like Christoph Schlingensief’s 2004 “Parsifal” or Frank Castorf’s 2013 “Ring.” This is because Scheib’s sensibility — in both the virtual and live spheres — is basically plain and direct.

When I peeked below the glasses to watch bits of the performance without AR, there was nothing particularly imaginative or illuminating about this “Parsifal.” The first act takes place in a spare, slightly ominous, vaguely sci-fi landscape — the sets were designed by Mimi Lien — with a halo of flashing lights that brings to mind the spaceships of “Close Encounters of the Third Kind” or “E.T. the Extra-Terrestrial.”

These Grail knights wear stylish, contemporary clothes — long tunics, yellow skirts, boldly patterned hoodies — designed by Meentje Nielsen. The sorcerer Klingsor’s enchanted garden in Act II is a psychedelic pool party in “Barbie” colors. After Parsifal destroys the garden, the third act is set in a lonely desert encampment, alongside a machine on the blurry line between war and industry: maybe an earthmover, maybe a tank.

The tenor Andreas Schager is tirelessly passionate and convincingly boyish as the guileless Parsifal, and the bass-baritone Derek Welton is mournful yet reserved as Amfortas, the wounded king of the Grail. The bass Georg Zeppenfeld is an elegiac Gurnemanz, who oversees the knights; the baritone Jordan Shanahan, a brooding Klingsor.

The mezzo-soprano Elina Garanca sounds luxurious — lean yet velvety — as the ambiguous, ambivalent Kundry, cursed to shuttle forever between the realms of Klingsor and the Grail and a role too often screamed. Bayreuth’s chorus, directed by Eberhard Friedrich, is, as ever, poised and powerful. On Tuesday, the orchestra didn’t quite bring out the exquisite transparency and delicacy of some important passages, but Heras-Casado’s conducting was vibrant, even-keeled and well-paced.

There were a few memorable AR moments. At the end of Act I, a boy in jeans seems to walk through the space, slowly flapping wings attached to his arms — perhaps a melancholy nod to the winged children in Stefan Herheim’s celebrated 2008 “Parsifal” here, just as the dam we seem to be at the bottom of at the start of Act II may be a reference to the hydroelectric plant that opened Patrice Chéreau’s centennial “Ring” at Bayreuth in 1976.

Yet there is something bland and empty at the production’s core. It’s not clear what Scheib thinks the nature of the sickness is at the root of this Grail cult, so it’s not clear what Parsifal’s climactic redemption offers. If the final AR image of plastic bags, echoed by one onstage, gestures toward a critique of environmental despoliation, it’s a wan gesture.

This means the augmented reality has little profound substance to support, just a jittery desire to stimulate — to ornament and impress — which is just what Wagner didn’t want from stage technology. Scheib’s AR decorations rarely inspire emotion or a sustained sense of wonder: the impression, as Gurnemanz says to Parsifal, of time becoming space.

The inadvertent result of all the lavish resources is to prove the superiority of the live over the digital — to keep us sneaking back under our glasses from the augmented real to the really real. The closest parallel in the opera to contemporary technical wizardry is Klingsor’s false garden; it feels rather perverse to extend those artificial seductions to the rest of a piece that’s condemning them.

We have come a long way from this opera’s premiere at Bayreuth in 1882, when Gurnemanz and Parsifal stepped in place as a painted backdrop scrolled by, turned by hand on rollers, to create the illusion they were walking. “The simplest of means,” one observer wrote, “had brought about an overwhelming effect.”

For all its ambitions and expense, Scheib’s “Parsifal” never overwhelms.

Zachary Woolfe | July 26, 2023

Rating
(6/10)
User Rating
(3/5)
Media Type/Label
Technical Specifications
640 kbit/s VBR, 48.0 kHz, 1.1 GiB (flac)
Remarks
In-house recording from the Bayreuth festival
A production by Jay Scheib (2023)