Der Ring des Nibelungen

Georg Solti
Chor und Orchester der Bayreuther Festspiele
Date/Location
25 July 1983 (R), 26 July 1983 (W)
28 July 1983 (S), 30 July 1983 (G)
Festspielhaus Bayreuth
Recording Type
  live  studio
  live compilation  live and studio
Cast

Das Rheingold

Die Walküre

Siegfried

Götterdämmerung
Gallery
Reviews
Der Spiegel

Soltis schönes, schauriges Scheitern

SPIEGEL-Redakteur Klaus Umbach über die Bayreuther Neuinszenierung des „Ring des Nibelungen“

Schon am Morgen des Eröffnungstages der Bayreuther Festspiele sprühen Unbekannte auf 25 Meter Asphaltweg zwischen Wagner-Büste und Wagner-Weiher politische Frechheiten. Doch bevor noch die ersten Herrschaften auf den Grünen Hügel pilgern, werden die Schmierereien gegen die Verschärfung des Demonstrationsrechtes getilgt.

Als nachmittags die Feingemachten vor Wagners Zitadelle aufkreuzen, tauchen ein paar Punker auf und machen Zoff unter den festlich Gestimmten. Einer der Lauselümmel, mit dem Eisernen Kreuz auf der abgewetzten Lederjacke, setzt sogar einer Dame eine weiße Ratte auf die Schulter. Kaum sind alle Premierengäste zusammen, um den “Meistersingern von Nürnberg” beizuwohnen, da entrollen Polit-Strolche auf der Seitenterrasse des Festspielhauses ein Spruchband: “Wagner ja – Pershing 2 nein”. Natürlich schreitet die Polizei ein, der Grüne Hügel ist schließlich keine Abschußbasis für Spitzen gegen die Nachrüstung.

“Hier gilt’s der Kunst”, hieß schon 1951 der Wahlspruch der Komponisten-Enkel Wieland und Wolfgang. “Wer die Bayreuther Festspiele besucht”, das steht, allen Ernstes, in den Programmheften 1983, “wird zum Gemeinschaftserlebnis aufgerufen”, “geläutert soll er das Festspielhaus verlassen, Teil einer Gemeinschaft von Eingeweihten.”

Im Sinne des Haussegens ist es schlicht ungezogen, Kulturträgern wie Genscher und Stoiber auf dem Weg zum Gemeinschaftserlebnis Buhs entgegenzurufen, wie es sich andererseits schickt, die grüngewandete Begum Aga Khan mit artigem Beifall zu empfangen. Nach Jahren Bayreuther Abstinenz ist ihr Comeback nur dem Auftauchen von Ur-Wala Erda im “Rheingold” vergleichbar.

Daß Bayreuths Attraktion in Wagners 100. Todesjahr, die erste Neuinszenierung des “Ring des Nibelungen” nach dem Boulez-Chereau-Triumph (1976 bis 1980), alle bösen Geister bannen, alle politisierenden Bilderstürmer vertreiben, alle freudianischen Spekulanten ächten würde, kurzum, daß es mit jedweder intellektuellen Deutelei an dem verfluchten “Ring” ein Ende haben sollte, dafür hatte sich der heuer spektakulärste Bayreuth-Debutant schon vorab verbürgt: Sir Georg Solti, 70.

Unter den amtierenden Wagner-Veteranen hat der Dirigent Solti vielleicht die meiste Erfahrung und die reichste musikalische Phantasie, sicher aber auch das heikelste Verhältnis zum Phänomen Gesamtkunstwerk. Nominell hat er in Bayreuth nur den Taktstock, tatsächlich aber den ganzen “Ring” in der Hand. Die Magie aus dem Orchestergraben ist sein Verdienst, aber er haftet auch für das Fiasko auf der Bühne.

Seit Solti im vergangenen Februar in einem SPIEGEL-Gespräch seinen ganzen Unmut über das weltanschauliche Inszenierungstheater in Sachen “Ring” ausgesprochen und für Bayreuth ’83 ein radikales Kontrastprogramm angekündigt hatte, war die Wagner-Gemeinde wieder guter Hoffnung: Der große Schwenk zurück zur Natur schien in Sicht, saubere Wälder sollten wieder grünen, klare Wasser die Rheintöchter nässen – der malträtierte Wagner sollte endlich wieder reingewaschen werden. Schluß mit allen Faxen, mit Wotan im Bratenrock und dem Förderturm hinter Hundings Hütte. Solti: “Kein Marx-Ring.”

Darüber ließe sich reden. Nachdem sich die Entrümpler und Neudeuter, allen voran Patrice Chereau, fürs erste ausgetobt haben, sollen ruhig mal wieder die Märchenonkel ran, sollen ganz plausibel die verworrene Geschichte erzählen, mit Ehrfurcht Wagner auch beim Wort nehmen und mit Trinkhörnern, Wurzelwerk und dem lachenden Lenz ansehnliches Theater machen.

Bevor Solti im “Rheingold”-Vorspiel mit mächtigem Rauschen den Strom anschwellen läßt, läuft hinter dem Vorhang ein 55 Zentimeter hohes Schwimmbecken in 52 Minuten voll mit 40 Kubikmeter Leitungswasser. Ein gasgetriebenes Aggregat heizt das Aquarium von acht auf 29 Grad auf, dann tauchen die Rheintöchter ein, nackt wie die Götter sie schufen, der Vorhang geht auf, und eine raffinierte Spiegeltechnik kippt das horizontale Planschbecken verblüffend in die fast bühnenhohe Senkrechte: Woglinde als Esther Williams.

Nun hat Solti, der endlich mal Wasser auf der Bühne sehen wollte, seinen Willen, und während der Rhein in die Zisterne unter dem Festspielhaus abläuft, wird die Trickkiste auch schon wieder zugemacht. Für den Rest hantiert man in der vielzitierten Bayreuther Werkstatt vorzugsweise mit Pappe, Teppichboden, ganzen und halben, belaubten und kahlen, plastischen und aufgemalten Bäumen und natürlich mit der für 500 000 Mark angeschafften Hebehydraulik, deren 120 Atmosphären Druck das Gesamtkunstwerk durch neuartige Zisch- und Knirschlaute erweitern.

Dieses prachtvolle Spielzeug läßt die Urmutter Erda wie in einer alpinen Seilbahn, die Kabine aus Wurzeln geflochten, als Dornröschen unter dem Erdreich schaukeln. Es hievt die Götter wie auf einem fliegenden Teppich in kosmische Gefilde und läßt die Walküren über der Walstatt kreisen: Zur Landung bitte anschnallen und die Gurte festziehen.

Die wenigsten Zuschauer mögen bei solch waghalsigem Manöver noch ein Auge dafür haben, daß unter dem geistigen Höhenflug derweil sieben tote Recken nackt herangeschleppt werden, hingelegt schön in Reih’ und das Glied oben.

Märchen? Romantik? Mythos? Mit Ehrfurcht aus den Anweisungen des Librettos abgelesen? Wagner wörtlich und gleichzeitig mit modernem Bühnenzauber? Alles leere Versprechungen.

Weder halten sich Regisseur Sir Peter Hall und Bühnenbildner William Dudley an die Vorschriften des Textbuches, noch betreiben sie die Augenwischerei so virtuos, wie es Wagner, der ja auch ein Ahn des Breitwandkinos war, verdient hätte. Das einzige, was die beiden unermüdlich ablassen, ist Bühnendampf, der jedoch nicht alles gnädig einhüllt. Jeden Augenblick springt neue Pein ins Auge; noch nicht halb fertig, ist dieser “Ring” schon ein ganzes Debakel.

Das Rheingold, das Alberich klaut, sieht aus wie eine Stallaterne. Der “Riesen-Wurm”, in den er sich verwandelt, eigentlich ein lohnendes Objekt für Märchenmacher, entpuppt sich als mausgrauer Bastard zwischen Wolldecke und Schlummerrolle. Das macht jede Geisterbahn besser. Bei Wagner erschlägt der Riese Fafner seinen Bruder Fasolt mit einem “starken Pfahl”. In Ganz-Neu-Bayreuth haut er ihm einen gülden bemalten Styropor-Klotz, Teil des Nibelungen-Horts, über den Schädel, und mit einem Schlag wie beim Kasperl im Puppenspiel ist der ganze Wagner ein Witz.

Walhall, Wotans pompöses Domizil, hat sich Wagner als “eine Burg mit blinkenden Zinnen” ausgemalt. Eine pfiffig genutzte Bühnenmaschinerie könnte da hübsch was vorgaukeln. Aber im Guckkasten Halls und Dudleys ist die Bastion mit dem Einfaltspinsel auf einen Prospekt gemalt, wird weder sinn- noch wirkungsvoll illuminiert oder eingedunkelt, und die Regenbogenbrücke, auf der die Götterschar heim stolzieren soll, führt groteskerweise nicht zu diesem Hochsitz hin, sondern daran vorbei.

Wenn in der “Walküre” der Wälsung Siegmund das Schwert aus der Weltesche zieht, wuchtet sich das Orchester zu einem prachtvollen Kraftakt hoch; schließlich gilt es, ein schmiedeeisernes Symbol der Macht an den Mann zu bringen. Hier aber zieht Siegmund die Waffe so sacht aus dem Stamm wie ein Buttermesser aus dem Streichfett.

Die Musik gerade der “Walküre” ist so stark, daß sie böse Patzer auf der Szene durchaus mildern kann. Aber es geht auch anders: Selbst poetischster Wagner läßt sich, wenn man sich nur ernsthaft genug bemüht, kaputtmachen.

Wenn es zwischen den Wälsungen-Geschwistern richtig gefunkt hat, springt laut Textbuch “die große Tür auf, außen herrliche Frühlingsnacht; der Vollmond leuchtet herein”. In Bayreuth haben wir da neuerdings keine Tür, sondern eine für des Hüttenbesitzers Hunding Verhältnisse geradezu luxuriöse, mit Mosaiken oder Ikonen dekorierte Pforte wie aus Sarastros Weisheitstempel.

Die knallt auch ganz schön laut auf, Licht fällt auf die Stätte der Lust, doch während das Orchester den kommenden Inzest längst in den schönsten Farben ausmalt und allen optischen Firlefanz überflüssig macht, hebt die neue Hydraulik erst einmal Hundings Hüttendach ab und kippt es geräuschvoll nach hinten, und dann fahren auch noch ein paar Leinwände umständlich nieder, auf die die obligatorischen Bäume projiziert werden. Nicht nur den sich liebenden Zwillingen kann da die Lust vergehen.

Der Feuerzauber am “Walküren”-Ende findet nach Wagners Anweisung “auf dem Gipfel eines Felsenberges” statt, links Felshöhle, rechts Tannenwald. Diese Szene ist nicht nur ein pyrotechnischer Knüller, sondern auch musikalisch eine einzige Waberlohe.

Kein Felsenberg, folglich kein Gipfel, keine Höhle, kein Tann – die Gralshüter der Werktreue haben abgeräumt und zur Abwechslung einmal Wieland Wagner karikiert. Da ist sie wieder, die runde, schmucklose Scheibe. Wotan, der Gott, steht darauf wie ein Ölgötze und legt die ungehorsame Brünnhilde mitten in den Kahlschlag. Dann schreitet er das Rund ab, und im Rhythmus des elektrischen Schaltplans flackert es im Kreis rot auf.

Während die Musik immer weiter glüht, fährt der ganze Grill dank der wunderbaren Hydraulik himmelwärts, doch der Feuerzauber, der ja nun eigentlich eine halbe Ewigkeit weiterbrennen soll, wird energiesparend ausgeknipst, bevor noch der Vorhang über so viel Peinlichkeit fällt. Georg Solti hat letzte Woche im Festspielhaus einen vom lyrischen Schmelz bis zum aggressiv dramatischen Brio aufgefächerten “Ring” dirigiert, den farbigsten, der hier seit sehr langem zu hören war. Er hat auch Tropenhitze und das Wagnis, viele Bayreuth-Debütanten singen zu lassen, halbwegs achtbar überstanden. Er hat immerhin mit zwei Stimmen, Jeannine Altmeyer als Sieglinde und Hildegard Behrens als Brünnhilde, verdient Triumph gefeiert. Musikalisch hat es sich ausgezahlt, daß Bayreuth so lange um ihn gebuhlt hat.

Aber da war eine Katze im Sack. Geplagt von dem Trauma seines geplatzten “Ring” in Paris (der wohl auch an der radikalen “Rheingold”- und “Walküre”-Regie Peter Steins und Klaus Michael Grübers scheiterte), angestachelt wohl auch von Ehrgeiz, dem Gespann Boulez-Chereau eine konservative Alternative entgegenzusetzen, versteifte sich der alte Herr auf ein dubioses Konzept von Märchenromantik und Genrebildern aus grauer Vorzeit, das nicht aufging, weil es nie ein Konzept, sondern ein Potpourri aus Verlegenheiten war.

Wenn am Ende der “Götterdämmerung” das Mobiliar der Gibichungenhalle zur Brandstätte für den toten Siegfried aufgestapelt wird, markiert dieser Scheiterhaufen, wie unzählige Peinlichkeiten zuvor, nur eines: Soltis Scheitern. Der großartige Wagner-Dirigent hat sich unter der Tarnkappe des Regisseurs am “Ring” überhoben.

Klaus Umbach | Der Spiegel 31/1983

Die Zeit

Geometrie und viel Gewölk

„Der Ring des Nibelungen“, inszeniert von Georg Solti und Peter Hall

Vielleicht, hatte mir ein wohlwollender Kenner verheißen, würde ich süchtig werden. „Wagner ist eine Droge.“ Ich habe sie genossen – den ganzen Nibelungen-Ring

ohne freilich schon den Rausch zu spüren. Wahrscheinlich war ich mehr mit mir selber als mit der Droge, viel zu neugierig mit ihrer Wirkung beschäftigt. Nein, ich bin nicht high gewesen. Kein Klangzauber ließ mich über dem harten Holzstuhl schweben, es blieb anstrengend genug, die Aufmerksamkeit im hitzedampfenden Saal auf die Bühne zu lenken. Lag es daran, daß ich die neunzig Leitmotive nicht wie Vokabeln auswendig gelernt hatte und sich mir manche Anspielung nicht eröffnete? Lag es an der Aufführung, die „Der Ring des Nibelungen“ durch Sir Georg Solti, den Dingenten, und Sir Peter Hall, den Regisseur, gerade in Bayreuth erfahren hat?

*

Natürlich hatte man lange vorher schon etwas von der Bayreuther Kehrtwende geahnt. Man wußte, daß der „Ring“ diesmal ganz anders aussehen werde: Solti wie Hall wollten keine neue Eskapade des Regietheaters, sie bekannten ihren Überdruß an intellektuellen Deuteleien. Sie wollten Chéreau nicht übertreffen, sondern ihn, ganz im Gegenteil, vergessen machen. Sie suchten den Weg zurück zu Richard Wagner, zu seinen Regieanweisungen. Naiv sollte es werden, romantisch, nach Kräften naturalistisch.

Als das „Rheingold“ zu Ende ging, war klar, was die Inszenatoren wollten. Nach der „Götterdämmerung“, dem letzten Teil der Tetralogie, zeigte sich, daß Romantik als Konzept nicht genügt und daß selbst das Gefühl ohne einen intelligenten Gedanken nicht zufrieden ist, sondern sich langweilt. Der „Ring“, ein Märchen? Ein Stadttheater-Opernzyklus, der sich unter einer oft hilflosen, nur graphisch gefaßten Regie verläppert. Als nach der „Götterdämmerung“ der amphitheatralische Saal unter dem Beifall dröhnte, wußte man, daß das Publikum in die Musik und ihre Interpreten verliebt war, in die meisten. Meine Vermutung nach dem „Rheingold“, daß es dem Regisseur Peter Hall und seinem Bühnenbildner William Dudley um den Hals fallen werde, könnte es ihrer habhaft werden, war ganz falsch: Als sich die beiden zum „Ring“-Schluß am Sonnabendabend zum erstenmal zeigten, vorsichtshalber von der ganzen, auf der Bühne versammelten Künstlermannschaft in die Mitte genommen, wurden sie laut mit Buhs überschüttet. „Warum haben die“, hatte ein Zuschauer schon nach der „Walküre“ gefragt, „den ‚Ring‘ denn nicht gleich konzertant aufgeführt?“

Seine Bemerkung faßte eine ärgerliche Beobachtung vor allem aus der „Walküre“ und dem „Siegfried“ zusammen: Wenn Hall viel szenische Handlung findet mit vielen agierenden Personen, ist ihm wohl; dann setzt er das Märchen in Gang, bunt und üppig – wenngleich ihm auch nicht so sehr viel mehr in den Sinn kommt als vielen anderen Opernregisseuren auch, Posse und Klamauk inklusive. Geizt Richard Wagner aber, was er oft genug tut, mit bewegter Aktion, bewegt auch Hall nichts mehr; er läßt die Sänger singen, er läßt sie dabei irgendwie herumstehen, ihre Gebärden wirken hilflos, zufällig, stereotyp, man erkennt zwischen Wortsinn, Gemütsbewegung, Haltung, Position und Bewegung selten einen Zusammenhang. Eins könnte das andere entbehren, ohne daß man etwas vermißte. Fast immer, wenn die Handlung nur in Monologen besteht, in Gedanken, Gefühlen, Befehlen, Berichten oder moralischen Erörterungen, verweigert sie sich den Augen.

Aber, natürlich, mit Georg Solti hatte die Musik einen leidenschaftlichen, gefühlsbewegten, um Klarheit bemühten, die Musiker offensichtlich mitreißenden Dirigenten bekommen. Mit ihm hatte das ganze Spektakel dieses Bayreuther Sommers (und noch einiger Sommer mit diesem „Ring“ – mehr) auch begonnen.

*

Er hatte nach Peter Steins Inszenierung in Paris niemals wieder einen „Ring“ dirigieren wollen. „Alles“, beklagte er in einem Interview, „war dieser schrecklichen, politischen Produktion geopfert.“ So habe er sich gesagt: „Okay, niemals, wieder.“ Doch dann lockte ihn Wolf gang Wagner, er dürfe getrost „etwas völlig anderes als Chéreau machen, einen „Ring“, der „romantisch gedacht“ ist, in dem „die Dinge sind, was sie sein sollen: Feuer ist Feuer, ein Wald ist ein Wald, ein Schwert ist ein Schwert… ein Pferd ist ein Pferd“. So wörtlich kann Solti es aber wohl doch nicht gemeint haben, denn auch jetzt ist der Wald aus Pappe und Grane, Brünnhildes Roß aus Holz. Man sieht es auch nicht so oft, wie Richard Wagner es wollte, sondern nur am Schluß, wenn die Heroine zum (tatsächlich) lodernden und knisternden Scheiterhaufen der verderbten Welt galoppiert. Der Amboß Mimes ist mehr ein Musikinstrument als ein Werkzeug, die Schmiede eher eine Montagehalle. Die Lohe, die Brünnhildes Verbannungsplatz umlodern soll, ist ein mäßig glühender Wulst, kein „wildes Feuer“, sondern domestizierte Glut, sie geht auch bald aus. Und Notung fällt dem Wälsungen Siegmund aus einem Türsturz fast entgegen.

Eigentlich gibt es nur wenige Szenen, in denen man glauben möchte, was man sieht: Siegfrieds Tod, zum Beispiel, wurde eine der bewegendsten, „echtesten“ Szenen dieses „Rings“, auch wenn Wagner sie etwas anders vorgeschrieben hat.

*

Nach dem „Siegfried“ lud die Festspielleitung zur Pressekonferenz. Die Atmosphäre war, nach den Dürftigkeiten und den szenischen Ungereimtheiten von „Walküre“ und „Siegfried“, gespannt. Wolfgang Wagner, ein rührend tolpatschig taktierender Künstlervater, hätte sie, wenn sie schon notwendig war, am liebsten allein geregelt.

Solti: „Ich kann die politische Deutung von Opern nicht mehr hören und sehen. Wir kamen nach Bayreuth, um einen ‚Ring‘ zu machen, der nichts enthält als das, was der Komponist hineingeschrieben hat. Ich wollte einmal in meinem Leben einen romantischen, einen naturalistischen, einen Wagner-,Ring’ sehen und nicht einen Marx-‚Ring‘.“ Ein paar Weine Buhs bekam er dafür.

Peter Hall: „Wagner war einer der progressivsten Komponisten überhaupt, und wenn er eine Oper über die Barrikaden von Dresden hätte schreiben wollen, dann hätte er eine Oper über die Barrikaden von Dresden geschrieben. So aber hat er Opern verfaßt, die von Göttern und Riesen, von Diebstahl und Mord handeln, und diese Opern habe ich zu inszenieren versucht.“

Was aber verstehen die zwei unter Romantik? Und unter Naivität? Hall weiß nur verschwommene Gedanken zu formulieren: Sie solle Leidenschaften ausdrücken, starke Gefühle zur Geltung kommen lassen, den Mythos im „Ring“ hervorkehren. Solti deutet das Romantische als den „Versuch, ein musikalisches Bild auf der Bühne widerzuspiegeln“, etwas, das, wie er selber weiß, so schwer ist, „daß das Unternehmen an Wahnsinn“ grenze, Naivität bedeutet beiden, das Menschliche zu spielen, und es sei töricht, ihm gleich wieder irgendwelche Bedeutungen unterzuschieben. Das Thema sei der Konflikt zwischen Macht und Liebe. Ganz richtig.

Seit der Pressekonferenz weiß man nun auch über die Rheintöchter, daß sie im „Rheingold“ zugleich schwimmen und singen, wie der Komponist es verlangt hat; daß das schillernd an die Rückwand gespiegelte Wasserbecken mit einer „zur Aufnahme von Öl und Benzin“ entwickelten Haut ausgeschlagen ist; daß die auf 29 Grad erwärmten 40 Kubikmeter Wasser in knapp einer Stunde eingelassen und noch schneller in die schon von Richard Wagner angelegte Zisterne entleert werden können.

*

William Dudley hat für diese Inszenierung eine raffinierte und ziemlich gewaltige Bühnenbildmaschine konzipiert. Diese unsichtbare, manchmal hörbare Mechanik (aber was tut das schon bei der vielen Musik, die Wagner hier ausbreitet) – sie dreht und wendet die Bühnenplateaus, holt sie von hinten nach vorn, läßt sie oben oder unten verschwinden; sie wippt sie, wenn darauf gespielt wird, leicht nach hinten, damit sich darunter Höhlen bilden können, oder neigt sie nach vorn, damit das Spielfeld besser zu sehen ist.

Sie hat eine halbe Million Mark gekostet. Gewiß ist sie das Ergebnis künstlerischen Willens. Aber ebenso gewiß hat sie, einmal vorhanden, die Inszenierung mit bestimmt. Richard Wagner, der ein Bühnenmaschinen-Fex war, hätte sie interessant gefunden. Nur ist es zweifelhaft, ob er diesen Bühnenwechselapparat so gewollt hätte – einen, der es zum Beispiel erlaubt, die in tiefen Schlaf versetzte Brünnhilde mit dem Gesicht nach unten an der Spielfläche festzuschnallen, ehe sie mit dem ganzen Plateau herumgedreht wird, auf daß Siegfried sie erwecke. Nur zweimal machte die Mechanik augenfällig Sinn: wenn der Leichenzug in der „Götterdämmerung“ nach hinten und in der Höhe verschwindet und wenn die Gibichungen-Halle einstürzt, sie wird, denkt man, zermalmt.

William Dudley hat gute Einfälle, aber er hat auch Lust zu Arrangements, deren Opernstaub die hellen, fröhlichen Farben nicht unsichtbar machen. Und die Geometrie gibt seinen Bildern eine verspielte Ordnung.

Es gibt betörend schöne Bilder: Das Regenbogenbild im „Rheingold“ zählt dazu, in der „Götterdämmerung“ sind es Gunthers Halle und der Wald. Es gibt viele rätselhafte Erfindungen wie die vom Wanderer herabgerufene Erda, die, wie die Madonna im Rosenhag, im Wurzelwerk der Weltesche kauert, oder Fafners Planschbecken, eine giftgrüne Pfütze im Wald, die nur das Possenhafte der Szene steigert: kein kühner Held erlegt das Untier, sondern ein übermütiger alter Knabe.

Ganz gleich, wie karg oder wie üppig, wie romantisch (oder wie altmodisch) die Bühne dekoriert ist: Oft nimmt die Regie davon gar keine Notiz. Die Figuren halten singend Fensterreden. Sie kommunizieren nicht miteinander, sie stehen nur irgendwo nebeneinander. Statt einander anzuschauen, wenden sie sich ans Publikum, als erhofften sie dort kopfnickende Bestätigung: Wotan warnt die Walküren – aber er starrt an ihnen vorbei in den Saal; Hagen macht König Gunther einen ziemlich wichtigen Vorschlag – aber er teilt seine Empfehlung nicht ihm und Gutrune, sondern den Zuschauern mit. Oder ist es der Dirigent, mit dem sie so intensiv Zwiesprache halten?

Wenn sich hier schon nichts sichtbarlich bewegt, wissen Hall und Dudley sich freilich Rat: Sie blasen Nebel in die Bilder. Es dampft der Rhein unablässig, um der Götter Häupter bildet sich Gewölk, die Schwaden zwirbeln sich, steigen auf und nieder, ballen sich und zerstieben, sie füllen am liebsten die ganze Bühne und wälzen sich hinab in den Orchesterkeller und ins Auditorium. Wenn der Nebel rot ist, weiß man: die Lohe, die wilde! Da auch der Gaze-Vorhang nicht fehlt, wallen und wogen die Schleier aus Licht, Schatten auch noch dort auf und nieder.

Von allen Stücken der Tetralogie ist Peter Hall nur die „Götterdämmerung“ eindrucksvoll geraten. Sie ist wirklich durchgearbeitet, sie hat Statur, sie ist lebendig, in ihr wird auch am überzeugendsten gesungen und gespielt. Im dritten Akt hat das Drama sogar etwas, woran es bis dahin gefehlt hat: Poesie.

Hier zeigt sich besonders eindrücklich auch eine interessante Eigenart Peter Halls, die sich wenigstens in den belebten Szenen zeigt: eine graphisch operierende Regie, die mit William Dudleys Liebe zur Geometrie korrespondiert. Sie ist, bewußt oder nicht, ein ästhetisches Ordnungs-, Bewegungsprinzip.

Fast alle Bühnenbilder sind symmetrisch gebaut, der U-förmige Rhein mit dem Riff in der Mitte und Hundigs riesige Hütte, die Gibichungen-Halle und die Neidhöhle, in der Fafner lauert. Selbst wenn eine Möbel- oder Personengruppe aus der Bühnen-Achse gerückt ist, bildet sie in sich eine symmetrische Figur, verwandelt sich manchmal sogar in eine neue. Bringen dramatische Turbulenzen solche Figurenbilder durcheinander, werden sie mit ästhetischer Delikatesse wieder geometrisch geordnet: linear, in großen, flachen oder engen Dreiecken; die lösen sich bisweilen auf, werden zu Diagonalen und finden dann (wie in der „Götter-Diagonalen mit einem Jäger, mit Gunther, Siegfried, dann auch Hagen) ihre Fortsetzung sogar noch in der Seitenwand des Saales.

Wie faszinierend diese ästhetische Ordnung der Inszenierung auch wirken kann – mit ihr lassen sich weder die szenischen Unterlassungen noch die possenhaften Szenen kompensieren – und die fehlende Idee der Inszenierung ersetzt sie auch nicht. Das Wagner-„Märchen“ verlangt, nach einem Hintergrund.

Selbstverständlich hatte die Inszenierung, genauer: die Bühnenregie diesmal wieder die größte Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Aber es ist gar keine Frage, daß es viele zauberhafte Momente gab, in denen sich die Musik entfaltete, und andere, in denen die Darstellung überzeugend war. Ich muß nennen: Hermann Bech, der aus dem Alberich eine etwas nervöse, aber aus dem Untergrund strahlende Figur machte; Jeannine Altmeyer (vor allem sie) und Siegfried Jerusalem wurden als die Geschwister Sieglinde und Siegmund die eigentlichen Stars der „Walküre“ (wenngleich die Regie uns weismachen wollte, ihr Sproß Siegfried sei das Ergebnis einer Zeugung in der Retorte); Manfred Jung, schon der Loge im „Rheingold“, war für den Siegfried ein etwas betagter Springinsfeld, aber da er in der Rolle erfahren ist, überspielte er das Manko mit ziemlicher Bravour; Aage Haugland war mit seinem feinen schwarzen Baß ein wuchtiger Bilderbuch-Hagen.

Aber eine überstrahlte sie alle, und das war Hildegard Behrens, eine Brünnhilde, mit der Bayreuth Staat machen kann. Sie war schon in der „Walküre“ beklemmend groß, aber ihren Höhepunkt hatte sie, wie Siegfried, im letzten Akt der „Götterdämmerung“: bewegende Szenen von überwältigender Schönheit.

Dersicherste Posten dieser Inszenierung war natürlich Georg Solti, war auch das Orchester. Er kostete die Partitur aus, er ließ die Musik drohen und leuchten, er gab ihr strenge rhythmische Präzision und überspielte damit die vermischende und verwischende Akustik des alten, sehr räumlich klingenden Saales. Mitunter bekam die Musik kammermusikalische Durchsichtigkeit, und wo immer es ging, präzisierte Solti die Klangfarben,und beileibe nicht nur die der Bläser. Es gab freilich auch Partien, in denen das Orchester abgelenkt schien oder dicklich klang, seltsam ungefüge. Und wenn die Szene oben den Dirigenten mißmutig machte, trumpfte er auf und machte selbst so starke Stimmen wie die Siegfrieds unhörbar. Machmal dachte ich, der eigentliche Regisseur war er.

*

Jemand fragte Georg Solti, ob diese Inszenierung Signalwirkung haben werde. „Das interessiert mich nicht“, war seine Antwort, selbstverständlich. Aber Bayreuth ist ja ein Spiel: Es reagiert auf Anregungen (und Moden), es gibt Anregungen (und inauguriert Moden), es empfängt welche. Was sonst gäbe dieser Institution auf dem (immer noch erstaunlich grünen) Grünen Hügel ihren Sinn, wenn sie ihr Thema bis zum Überdruß nicht immerzu aufs neue variierte, Bayreuth ist ein Ritual, bei dem „unsere Zuhörer“, wie Cosima Wagner 1906 empfand, „eine Gemeinde bilden .. ., welche sich hierher flüchtet“, um „das geweihte Werk zu schützen“, selbst bei 38 Grad im Schatten. Auf ein paar Orchesterpatzer hingewiesen, sagte Georg paar „Es war so schlimm, daß ich nicht mal mehr die Partitur lesen konnte, so lief mir der Schweiß das Gesicht hinunter.“

Das männliche Publikum hatte weder so farbenprächtig wie das weibliche noch in Hemd und Shorts wie das Orchester kommen mögen. Doch es lockerte die Schlipse, und selbst der Fürst aus Liechtenstein zog, der Hosenträger nicht achtend, die Jacke aus. Ein Herr der Turnschuhgeneration hatte die Stirn, der schwülen Hitze mit Jeans und Streifenhemd (aber einem von Armani, die Umhängetasche aus feinem Leder) zu trotzen, ein anderer, viel jünger noch, ertrug sie im Gehrock, von den kleinen Extravaganzen wie einem blauen Tafthemd oder einem Brokat-Paletot nicht weiter zu reden: Allemal bemerkt man auch bei den Herren in Bayreuth die Lust, dem Smoking ein Schnippchen zu schlagen, wenn auch nur mit einer neuen Strangulierung, dem Vatermörder. Er ist sehr in Mode.

Manfred Sack | 5. August 1983

Rating
(6/10)
User Rating
(2.7/5)
Media Type/Label
CA, Fiori, PO
Technical Specifications
192 kbit/s CBR, 44.1 kHz, 1.2 GByte (MP3)
Remarks
Broadcasts from the Bayreuth festival
A production by Peter Hall (premiere)