Der Ring des Nibelungen
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Thielemanns Triumph
Der Mythos umgibt uns. Immer, überall. Er existiert im Alltag, nebenher, unsichtbar für die „normalen“ Menschen. Die gehen vorüber, nehmen nicht wahr, was um sie herum als märchenhafte zweite Sphäre existiert. Es ist die Grundkonstellation ganz ähnlich der Harry-Potter-Doppelwelt, die Tankred Dorsts Sicht auf den Ring des Nibelungen durchzieht, am deutlichsten im Rheingold. Da sitzen die Götter auf den Treppen einer betonierten Plattform, ein scheinbar deplatzierter und leicht clownesker Haufen, und wir Heutigen gehen vorüber, ohne sie wahrzunehmen. Das eine oder andere Graffiti entpuppt sich als Zitat aus dem Rheingold-Libretto. Später werden die Betriebsräume im Keller eines Hochhauses der Zugang zu Nibelheim, das als archaischer Tunnel direkt hinter der gekachelten Fassade liegt – für den Monteur im Blaumann auf seinem Kontrollgang trotz seiner offensichtlichen Existenz unsichtbar. Auf eine einfache Formel gebracht: Tankred Dorst inszeniert die Geschichte des Ring als naives Märchen, das er unvermittelt in unsere trostlose Alltagswelt setzt. Eine Schar Kinder tobt in der Schlussszene des Rheingolds herum, beginnt halbernst eine Rauferei und ahmt damit unwissend den gerade vollzogenen Kampf zwischen Fafner und Fasolt nach. Im Spiel wiederholt sich der Mythos, der latent hinter den Dingen lauert.
Gerade der Ring des Nibelungen ist in der Vergangenheit in so ziemlich alle Richtungen aus- und umgedeutet worden, und längst hat sich ein Gefühl der Übersättigung eingestellt. Die Rückbesinnung auf den Kern der Parabel könnte daher etwas wohltuend Unaufgeregtes haben. Wobei allerdings gerade im neueren Bayreuth auf einen „politischen“ Ring stets eine „naive“ Deutung folgte: Patrice Chereaus bürgerlich-kapitalisticher “Jahrhundert”-Ring 1976 wurde 1983 von Peter Halls naturalistisch romantischer Interpretation abgelöst, auf Harry Kupfers Visionen von der Ökokatastrophe (1988) antwortete das Duo Alfred Kirchner / Rosalie 1994 mit einer harmlos bunt designten Spielzeug- und Insekten-Welt, und Jürgen Flimms Schreibtischtäter-Wotan von 2000 findet seit 2006 in Dorsts mythischem Götter-Paralleluniversum ein unpolitisches Gegenstück. Insofern stellt diese Interpretation gar nicht erst den Anspruch, stilprägend zu sein. Schon gar nicht ästhetisch: Sowohl die durchaus ausdrucksstarken Bühnenbilder (Frank Schlössmann) als auch die Kostüme (Bernd Skodzig) bewegen sich im landauf, landab Ring-bewährten Kanon. Mitunter hat man sogar den Eindruck, dass hier postmodern die Produktionen der Vergangenheit ironisch verfremdet aufgegriffen werden (der Beginn des Rheingolds spielt auf den „Neubayreuther“ Stil Wieland Wagners an, der umgeknickte Telegrafenmast, der in der Walküre die Esche ersetzt, hat sein Pendant in Kirchners Götterdämmerung – etliche Beispiele dieser Art ließen sich anführen).
Es gibt eine Reihe schöner, ja mitunter suggestiver Bildwirkungen, wobei aber ausgerechnet die von Wagner reichlich eingebauten „großen“ Theatereffekte verschenkt werden. Bei allen, wirklich allen Zwischenspielen bleibt der Vorhang geschlossen, und Drachenkampf wie Weltende sind mit etwas Rauch schnell und wirkungslos abgehandelt – wer „naiv“ einen Mythos erzählt, sollte eigentlich gerade solche Momente auskosten. Ziemlich blass bleibt auch, mit Ausnahme des in Teilen stärker ausdifferenzierten Siegfried, die Personenregie, die sich auf konventionelle Gestik beschränkt. Was der Ring aber letztendlich unbedingt braucht (und was über allerlei Banalitäten hinweg sehen ließe), ist ein plausibles Ende (Kupfer ließ eine dekadente Partygesellschaft nichtverstehend auf das mythische Weltende schauen) oder zumindest eine gelungene Schlusspointe (wie Brünnhildes Metamorphose in einen Schmetterling beim Untergang von Kirchners Insektengötterwelt). Tankred Dorst inszeniert zum Finale einen kleinen Hotelbrand, vor dem die Gäste geordnet flüchten können – es bleibt sogar Zeit, das Gepäck mitzunehmen. Wir entschuldigen uns für die Unannehmlichkeiten während ihres Aufenthalts: Das Weltende als kleine Panne der Pauschalreise. Das reicht nicht einmal für einen Fernsehkrimi, geschweige denn für einen Ring. In der lautstarken Ablehnung, die nach der Götterdämmerung über Dorst herein brach, schienen sich Traditionalisten und Modernisierer jedenfalls einig.
Ohnehin spricht alle Welt, als habe es keine Inszenierung gegeben, längst vom „Thielemann-Ring“, denn die gestalterischen Impulse kommen eindeutig aus dem Orchestergraben. Es gibt derzeit wohl keinen Dirigenten, der auch nur annähernd so differenziert mit dem ausgezeichneten Festspielorchester umgehen kann wie Christian Thielemann. In der ganz eigenen Akustik des Festspielhauses erreicht er eine schier unglaubliche Farbpalette und Klangvielfalt, hebt immer wieder die Mittelstimmen hervor, kostet den Klang der Blechbläser aus, die eben nur in diesem Haus ein wirklich sattes Forte spielen dürfen, ohne alles zu überdecken. Thielemann zelebriert ein derart luxuriöses Rheingold, wie man es kaum einmal gehört hat – mit geradezu impressionistischen Effekten zwischen kammermusikalischer Klarheit und (trotzdem transparent durchhörbarem) pompösem symphonischem Glanz. Im ersten Bild verschwimmen darüber allerdings auch die rhythmischen Konturen, und im bezirzenden Klangzauber tritt die Musik mitunter undramatisch auf der Stelle, wo man ein Vorwärtsschreiten herbeisehnt. Das ist die Kehrseite der Medaille: Hinter so viel Klangsinnlichkeit tritt die Dramatik phasenweise (zu) sehr zurück. Die ersten beiden Akte der Walküre verlieren im opulenten Breitwand-Sound einiges von ihrer Spannung, ebenso manche Teile der Götterdämmerung mit reichlich pathetischem Trauermarsch. Aber auch hier muss man dem Dirigenten zugestehen, dass er stets in großen musikalischen Bögen denkt, jede einzelne Phrase stringent zur nächsten hinführt und bruchlos die „unendliche Melodie“ entstehen lässt, die sich Wagner vorgestellt haben dürfte. Davon lebt auch der Schlussakt der Walküre, den Thielemann in einem großformatigen Spannungsbogen entwickelt. In jeder Hinsicht phänomenal gelingt der furiose Siegfried.
Von den Sängern können nur zwei auf diesem hohen Niveau ohne Einschränkungen mithalten. Famos ist die jugendlich strahlende Sieglinde von Adrianne Pieczonka, bestechend in ihrer stimmlichen wie szenischen Präsenz und in der Leichtigkeit der Stimmführung. Ebenfalls grandios der Mime von Gerhard Siegel, der mit einer für die Partie vergleichsweise „schweren“, dabei aber ungemein differenzierungsfähigen Stimme nicht nur die Schärfe und genaue Artikulation eines Charaktertenors einbringt, sondern auch wunderbar lyrisch singen kann und auch über „heldische“ Schlagkraft verfügt. In dieser Vielschichtigkeit ist er seinem Ziehsohn Siegfried eindeutig überlegen. Selbiger ist als tumber Kraftprotz gezeichnet, der fröhlich und unbeschwert drauflos schlägt, wenn es sein muss. Stephan Gould geht im Siegfried mit kraftvollem, leicht dunkel timbrierten und höhensicherem Tenor zur Sache und stemmt die Schmiedelieder mehr als achtbar. Auch der lyrischere zweite Akt gelingt passabel, wenn auch die Stimme in ihren Differenzierungsmöglichkeiten begrenzt scheint, und im dritten Akt beweist Gould nicht nur Durchhaltevermögen, sondern gestaltet auch nuanciert den kurzzeitig verunsicherten, zuletzt wieder strahlenden Helden. In der Götterdämmerung dagegen schien der Sänger einen schwarzen Tag erwischt zu haben, die Stimme klang von Beginn an fest und gepresst, in der hohen Lage forciert und mit deutlichem Hang, die Töne nur noch herauszuschreien – am Ende ein Zitterspiel. Völlig fehlbesetzt dagegen ist die zweite Heldentenorpartie, der Siegmund, mit Endrik Wottrich, der zwar über eine dunkle, leicht brüchige und dadurch zunächst rollendeckend maskuline Stimme verfügt, aber weder über erforderliche Höhe noch Kraft und schon gar nicht über tenoralen Glanz (offenbar hat man dies auch bei der Festspielleitung erkannt: die weiteren Vorstellungen soll kurzfristig Robert Dean Smith übernehmen).
Albert Dohmen gestaltet den Wotan sehr sorgfältig, artikuliert genau und differenziert. Die Stimme ist jederzeit kontrolliert und hat, obwohl nicht übermäßig groß, auch die erforderliche dramatische Kraft. Je nach Vokalfärbung wird der Klang allerdings flach, verstärkt dadurch, das Dohmen ohnehin die Vokale oft stark verkürzt und überhastet von Konsonant zu Konsonant springt, was zwar zu ordentlicher Textverständlichkeit führt, aber der Gesangslinie etwas übermäßig Geräuschhaftes verleiht (so im Mittelakt der Walküre). Überzeugend gelingt die Wanderer-Rätselszene im ersten Aufzug des Siegfried; für den dritten Akt, in dem es um nichts Geringeres als das Götterende geht, dürfte die Stimme aber imposanter sein. Im Rheingold wirkt er neben dem lyrisch grundierten, aber mit charakteristischen tenoralen Schärfen pointierten Loge von Arnold Bezuyen recht unscheinbar. Ambivalent die Brünnhilde von Linda Watson: Auf der einen Seite ein schönes, tragfähiges und weiches Piano bruchlos bis in die hohe Lage, das sich gut mit dem Orchesterklang mischt, und ein zupackendes Forte (das allerdings mitunter zu einem flackernden Vibrato führt), auf der anderen Seite fehlt die unmittelbare Präsenz, die ihre Bayreuther Vorgängerin, Evelyn Herlitzius, auszeichnete, vom Text ist nur wenig zu verstehen – und immer wieder trifft sie die Töne nur ungefähr.
Hans-Peter König hat eine volle, wunderbar sonore und weiche Bassstimme, aber für den Hagen fehlt es an Schwärze und Gefährlichkeit. Und auch als Fafner dürfte die Artikulation genauer und schärfer sein – Kwanchul Youn als Fasolt (und in der Walküre als eleganter, etwas zu braver Hunding) singt zupackender und präsenter. Andrew Shore spielt, singt, spricht und schreit mit hohem Einsatz einen sehr intensiven Alberich, wobei es der Stimme an klanglicher Substanz fehlt. Ein geheimnisvolles, sehr interessantes Timbre hat Mihoko Fujimura, sehr eindringlich als entrückte, glasklare Erda im Rheingold, angestrengter in den dramatischen Passagen im Siegfried und als Waltraute in der Götterdämmerung – wenn sie forcieren muss, flackert die Stimme doch gehörig. Ralf Lukas bleibt als Donner unauffällig, als Gunther muss er sich erst frei singen, um dann der Rolle mit schlankem, aber prägnanten Bariton und kluger Artikulation Profil zu verleihen. Edith Haller singt mit jugendlich klarer Stimme eine etwas verhaltene Freia und eine zunehmend selbstbewusstere, aufleuchtende Gutrune (und ist zuvor eine klangschöne dritte Norn, dort mit Simone Schröder und Martina Dike überzeugender als das leichtgewichtige Rheintöchter-Terzett). Michelle Breedt gestaltet mit unausgeglichener, flackernder Stimme eine ziemlich unsympathische Fricka.
FAZIT
Tankred Dorsts Regiekonzept, ohnehin reichlich banal, verwässert zusehends bis hin zu einem geradezu desaströsen Finale. Von einer wirklich großen Sängerbesetzung kann man trotz mancher guter, vereinzelt herausragender Gesangsleistungen nicht sprechen – wobei hier noch einiges Entwicklungspotential vorhanden sein dürfte. So fällt aller Glanz auf das Festspielorchester und seinen Dirigenten. Christian Thielemann macht diesen Ring, allen szenischen Unzulänglichkeiten zum Trotz, zum festspielwürdigen Ereignis.
Stefan Schmöe