Der Ring des Nibelungen
Was vom Mythos übrig blieb
Touristen mit Fotoapparat, ein Heizungsmonteur, Radfahrer, eine Familie, die vor dem Gewitter in ein Abbruchhaus flüchtet, immer wieder Kinder: Sie nehmen die Götter und Helden nicht wahr, die um sie herum sind. Umgekehrt scheinen die betonierten Zeichen unserer Gegenwart, Absperrbänder und halbfertige Autobahnbrücken, das Wagnersche Personal nicht weiter zu stören. Die Diskussionen um Tankred Dorsts Inszenierung ebben im vierten Jahr gewohnheitsgemäß ab, gleichzeitig ist die Festspielleitung bemüht, durch erläuternde Texte im Programmheft und inszenierungsbezogene Einführungsvorträge, die vor jeder Aufführung im Chorsaal des Festspielhauses angeboten werden, dem Publikum den Zugang zu erleichtern.
Der Grundgedanke, dass unsere Kultur von Mythen durchsetzt ist, der Mythos einen Subtext zum Gegenwartsalltag bildet, ist sicher nicht falsch, wenn auch ein wenig banal. Entscheidender ist die Tauglichkeit als szenisch relevanter Regieansatz. In Dorsts Inszenierung liefert das Konzept letztendlich nicht mehr als die Rechtfertigung, die Geschichte konventionell nachzuerzählen und sich einer über das Drama hinausgehenden Deutung zu enthalten. Interessanter ist die ästhetische Brechung, die sich aus dem Konzept ergibt. Die Elemente unserer Zeit, die es in jedem Bild gibt, bewirken eine Brechung der Märchen- und Mythenwelt, die dadurch immerhin weniger verstaubt wirkt als in rein „konventionellen“ Inszenierungen.
Ein anderes, größeres Problem ergibt sich daraus, dass der Ring ja keineswegs eine rein mythische Erzählung ist, sondern eine reichlich vielschichtige und heterogene Angelegenheit. Richard Wagner hat den Mythos psychologisiert, teilweise auch überpsychologisiert, und ihm hochkomplizierte Argumentationsstrukturen untergeschoben (die dann doch für unsere Zeit interpretiert sein wollen). Zudem vermischen sich Götter- und Menschenwelt, was das Regiekonzept zunehmend unplausibler macht. Letztendlich entscheidet sich der Erfolg einer Opernproduktion aber in erster Linie durch die unmittelbare (ästhetische) Wirkung. Frank Philipp Schlössmann hat eine Reihe atmosphärisch stimmiger Bühnenbilder gebaut, die von den Darstellern mit ihrer Bühnenpräsenz (meistens) gut ausgefüllt werden. Auch schiebt sich die Inszenierung nicht vor die Musik.
Nach wie vor steht dieser Ring ganz eindeutig im Zeichen des Dirigenten Christian Thielemann. Er entwickelt mit dem insgesamt vorzüglichen, in den Bläsern hier und da etwas ungenauen Festspielorchester einen raumspezifischen Mischklang, der eben nur hier im Festspielhaus möglich ist und bei dem die einzelnen Instrumente zu einem Klangteppich von unerhörter Farbpracht verschmelzen. Thielemann bettet die Sänger in einen fließenden symphonischen Klang ein, der sie allerdings auch mitunter zum Forcieren verleitet. Oft wirkt der Orchesterklang weniger als Begleitung der Sänger, sondern mehr wie ein wortloser Kommentar zum Geschehen. Dem Rheingold als rezitativisch geprägtem Konversationsstück kommt dieser symphonische Zugang nicht immer entgegen, hier dürfte das Orchester weniger flächig, dafür kurzgliedriger auf die Sänger und auch flexibler auf den Text eingehen. Aber von der Walküre an ist das ganz große Oper. Die Musik steht bei Thielemann nie still (auch über die wirkungsvollen Generalpausen hinweg) und ist von großer innerer Spannung Mit ebenso großer Gelassenheit wie innerer Spannung breitet Thielemann die Tetralogie wie ein riesiges Panorama vor dem Hörer aus.
Sängerisch steht eine gute, keine ganz große Besetzung bereit. Bei fast allen Sängern würde man sich eine genauere Artikulation wünschen – auf Textverständlichkeit kommt es offenbar hier nicht weiter an. Linda Watson ist eine insgesamt souveräne und kraftvolle Brünnhilde mit bruchloser Höhe, im Forte mitunter etwas ungenau fokussiertem Vibrato, was sich auch auf die Intonation niederschlägt. In manchen Phrasen erhält das ansonsten warme Timbre eine unangenehme metallische Beimischung. Vieles gelingt ihr sehr schön, etwa der Schluss der Walküre. Albert Dohmen nimmt den Wotan im Rheingold noch zurück, überlässt hier dem Loge die Führung, trumpft dafür in der Walküre umso mehr auf. Dohmen teilt sich die Partie klug ein und gestaltet sie sehr umsichtig, auch durch genaue Artikulation, weicht mitunter in Sprechgesang aus, ist aber klanglich voll präsent, wenn es darauf ankommt, mit prägnanter heldenbaritonaler Attitüde. Mitunter wünscht man sich etwas mehr sonore Wärme; auf der anderen Seite gestaltet er den Abschied von Brünnhilde bewegend – ein gebrochener, aber keineswegs kraftloser Gott mit vielen Zwischentönen. Auch die tückisch hohe Wanderer-Partie im Siegfried meistert er souverän.
Christian Franz ist ein Siegfried mit nicht zu schwerem, leicht eingedunkeltem Tenor mit sicherer, durchaus glanzvoller Höhe. Ermüdungserscheinungen in der Mammutpartie zeigen sich weniger am stimmlichen Verschleiß als an ungenauerem Singen. Leider neigt er bei den Schmiedeliedern zu undifferenzierter Schreierei, ebenso im (allerdings für den Tenor mörderischen) Finale des dritten Akts. Da wäre auch der Dirigent stärker gefragt. Etwas wacklig ist das Piano. Überzeugend spielt Franz im Siegfried den naiven Jungen, der sogar Trauer um Mimes Tod zeigen darf und seine Hilflosigkeit gegenüber der erwachenden Brünnhilde überzeugend ausspielt. Über manchen „gemogelten“ Ton, auch in der Götterdämmerung, muss man allerdings hinweghören.
Endrick Wottrichs brüchiger, baritonal gefärbter Siegmund hat an Profil gewonnen und zeichnet einen düsteren Helden nicht ohne Reiz. Für die zweite Hälfte des ersten Walküren-Aktes („Winterstürme wichen dem Wonnemond“) fehlt es der Stimme an Glanz, und einige wegbrechende Piano-Töne zeigen, dass der Sänger doch an die Grenze seiner stimmlichern Möglichkeiten stößt. Eva-Maria Westbroek singt eine eindrucksvolle Sieglinde von hoher Intensität. Die durchaus große, mit recht starrem Vibrato nicht sehr flexible Stimme fordert allerdings eine sehr breite Linienführung. Herausragend ist Kwanchul Youn als Hunding mit abgründiger Schwärze, ohne an stimmlicher Beweglichkeit und Präsenz zu verlieren (und überzeugt ebenso als Fasolt).
Sehr engagiert spielt, spricht, schreit, krächzt und singt Albert Shore den Alberich, wobei die Stimme selbst matt und farblos bleibt. Wolfgang Schmidt, der in Bayreuth den Siegfried so oft gesungen hat wie kein anderer Tenor; jetzt kehrt er als kraftvoller Mime zurück, nicht ganz so grell wie andere Sänger in dieser Partie, aber sehr differenziert. Hans-Peter König ist ein sonor-volltönender Hagen von hoher Präsenz. Christa Mayer zeigt als Erda und Waltraute (in der Götterdämmerung zwar durchaus interessante Klangfarben, die Stimme klingt aber schnell forciert und angestrengt. Der Loge ist mit dem Charaktertenor Arnold Bezuyen ziemlich leichtgewichtig besetzt, die Stimme klingt weniger lyrisch als in früheren Jahren, wobei Bezuyen gestalterisch viel aus der Partie macht und zum Mittelpunkt der RheingoldAufführung wird; ein paar dramatische Reserven fehlen indes zum ganz großen Loge. Klangschön und homogen singt das Rheintöchterterzett (Christiane Kohl, Ulrike Hetzel, Simone Schröder); mit leuchtendem, zwar recht lyrischem, aber intensiv geführtem Sopran überzeugt Edith Haller als Frei und noch mehr als Gutrune. Etwas verwackelt ist der schlanke Bariton von Ralf Lukas (Donner, Gunther), recht ältlich und angestrengt die Fricka von Michelle Breedt. Die weiteren Partien sind solide besetzt. Glänzend disponiert ist der Chor in der Götterdämmerung.
FAZIT
Musikalisch ist vieles absolut Festspielwürdig, vor allem das Dirigat von Christian Thielemann – auch wenn sich über seine teilweise „undramatische“ Interpretation im Detail streiten lässt. Szenisch ist dieser Ring mehr Hausmannskost, nicht ganz schlecht, aber ganz sicher auch kein nennenswerter Beitrag zur Rezeptionsgeschichte.
Stefan Schmöe