Der Ring des Nibelungen
Tastendonner
An der Deutschen Oper in Berlin inszeniert Stefan Herheim Wagners “Ring” als oft bizarres, nicht immer schlüssiges Riesenspektakel mit Klavier.
“Ein Klavier, ein Klavier” lautet, Loriot ohne Spaß, der Befehlston für den Berliner “Ring des Nibelungen”. Ein ausgewachsener Konzertflügel hat Wagners symphonisches Musikdrama geentert. Regisseur Stefan Herheim ist überzeugt, das größte Opus der Operngeschichte brauche dringend ein Solo-Klavier, als “musikalisch-optisches Tor zur Fantasie”. Nur für die Augen, nicht Ohren: Ab und an setzen sich Wotan, Siegfried und Co. an den schwarzen Kasten, “bespielen” stumm die Tasten, derweil das Orchester unter Chefdirigent Donald Runnicles die Klangwogen bezwingt und die lyrischen Emotionen streichelt.
Der Konzertflügel fristet nur ein symbolisches Dasein, für Herheim bedeutet das stückfremde Instrument, teilt er im Programmheft betroffen mit, “ein Scharnier und ein heiliger Altar der künstlerischen Exekution zugleich”. Am Klavier habe Wagner sein Werk geschaffen, ein Klavier bleibe bei Opernproben unverzichtbar. Den Flügelaltar erklimmen Sänger, auf ihm liegt schlafend Brünnhilde, bevor Siegfried sie aus dem Feuer befreit, aus ihm heraus und von ihm herunter klettert es sich allzu mühsam.
Visuell absurde Wechselbäder, bei denen es nicht nur inhaltlich hakt und knirscht
Akzeptieren soll der Berliner Wagnerianer ein zweites Grundmotiv: die Unmenge zerschlissener Koffer. Sie werden, gleich im “Rheingold”, von einer Statistenlawine – Reisende, Flüchtende – über die Bretter gezogen. Koffer, schlampig verteilt oder massig gestapelt, beherrschen dekorativ und düster die Bühne (Stefan Herheim und Silke Bauer). Koffer sind keine “abgegriffene” ästhetische Theatermetapher? Einspruch Herheim! Den Verdacht vergleicht er im Hausgespräch tagespolitisch mit der “Forderung mancher Parlamentarier im heutigen Bundestag, über ein Kapitel deutscher Geschichte endlich hinwegzukommen”. Doch so dezidiert politisch will er Wagners Drama auch nicht verstehen, alle Kultur sei ja vielmehr ein “Prozess ständigen Raffinierens”, der die Elemente “Resignation, Dekadenz und Perversion” nicht ausschließe.
So musste Stefan Herheims Denk-, Regie- und Bilderkunst 2008 mit dem “Parsifal” zu Bayreuth wagnertauglich werden – in Form einer berauschenden Kolportage zeit- und ideologiekritischer Spekulation zu dem stets als fromm-erhaben gefeierten “Bühnenweihfestspiel”, das er radikalprosaisch mit deutscher Politik und Gesellschaft und dem Nazi-Tiefschlag auf dem Grünen Hügel kurzschloss. Manche empfanden die Aufklärung als Beschädigung, Horror.
Tatsächlich beschädigt erschien der Koffer-“Ring” jetzt durchs Corona-Seuchendrama, das der sinnstiftenden Abfolge der vier Musikdramen einen Defekt verpasste. Herbst 2020: die “Walküre”, vor einem halben Jahr erst das “Rheingold”-Ursprungspiel der Nixen mit dem reinen Gold in Wassertiefe, jetzt “Siegfried”-Premiere, wohlgemerkt nach dem Weltende der “Götterdämmerung”. Und endlich wieder saßen Berlins Wagnerfreunde, geimpft oder genesen mit Lichtbildausweis, mit Masken ohne jeden Abstand, im vollbesetzten Haus.
Das Problem der Herheim-Inszenierung ist keineswegs ihre Absage an die alte Illusionsbühne, der Abstand der Darsteller zu ihrer Rolle, die Brecht-Haltung des 1926 gefundenen “Epischen Theater”. Und keinesfalls die vitale Spiellust und vokale Durchschlagskraft der Gesangssolisten und der Chöre. Herheim setzt mit ihnen ganz aufs Spiel, ihre eminente Präsenz. Wotan und Enkel Siegfried, Alberich oder Erda dreschen ins Klavier, blättern in angeblichen Partituren, finden unsinnige Dirigiergesten. Visuell absurde Wechselbäder, bei denen es nicht nur inhaltlich hakt und knirscht . . . Die Koffermigranten des Beginns greifen gar ins Geschehen ein. Herheim weiß, auf G. B. Shaws Ebene von 1898: “Der Ring ein Drama von heute”. Wieviel präziser, grotesker, launiger, witziger stieß Frank Castorf in Bayreuth den ganzen “Ring” in die Heute-Stellung!
Was der Regisseur souverän beherrscht: Menschenkonflikte
Das Problem dieser Interpretation ist ihre Bild- und Sinnkonzeption, einschließlich der historisch buntscheckigen Kostüme von Uta Heiseke. Mime, die Judenkarikatur mit Wagner-Mütze und KZ-Kleidung (Ya-Chung Huang), Erda, die dämoniefreie Haus(ur)mutter (Judit Kutasi), Siegfried, der dicklich starke Kindskopf (Clay Hilley), die Gibichungen, Spießer aus den Fünfzigern (Alle Asszonyi, Thomas Lehmann), Hagen, smart-böse (Albert Pesendorfer). Ein Pfund der Waldvogel, lustiger Psycho-Knabe aus Siegfrieds Seelentiefe. Der Statistenhaufen erscheint in Alltagskleidung oder, im “Siegfried”-Finale rasender Paarliebe, zu Massensex-Getue in Unterwäsche. Traute Herheim der internen Wucht von Wagners symphonisch erotischem Erdbeben nicht über den Weg?
Verwandlungszaubereien besorgen weiß wallende Flattertücher, die den höchsten Gefühlen Raum und Licht zuführen. Oder blutrote Farborgien als Surrogate für Fafners Drachentod (Tobias Kehrer). Weniger wäre oft mehr gewesen, wir denken an “Nothingtoseeness” in Berlins Akademie der Künste, die Schau “Leere/Weiß/Stille”, die noch bis 12. Dezember zu sehen ist.
Was dieser Regisseur souverän beherrscht: Menschenkonflikte auf der Bühne gezielt, spannend entwickeln. Wenn Waltraude (Okka von der Damerau) und Brünnhilde (Nina Stemme), wenn Alberich (Jordan Shanahan) und der Wotan-Wanderer (Iain Paterson) aufeinanderprallen, fliegen die musikalischen, die vokalen Funken. Dann wieder Ernüchterung: Schleudert Brünnhilde “Jammer! Jammer!” heraus, tiefstes Unglück, kommt von rechts, wie furchtbar!, Loriots Klavier auf die Bühne gefahren.
Wolfgang Schreiber | 15. November 2021
Zum Unterwäsche-Fremdschämen
Woher und wohin? Man weiß es nicht. Stefan Herheims Inszenierung von Wagners „Ring“ an der Deutschen Oper in Berlin scheitert kläglich. Götz Friedrichs Fußstapfen bleiben unerreicht. Nur ein Einziger sticht hervor.
Rundet sich heute überhaupt noch ein „Ring“? Vermag ihn ein Inszenator noch allein zu schmieden? Stuttgart ging ja weltweise schon von 1999 an mit einem Regie-Quartett an den Start, Hannover zog später nach, Chemnitz überließ vier Frauen die Aufgabe.
Wiederum in Stuttgart startet in Kürze ein „Ring der Vielen“: Nach Stefan Kimmig für „Rheingold“ zeichnet allein in der „Walküre“ pro Akt ein Mastermind oder gar Kollektiv verantwortlich.
Inszenierungen von Wagners Tetralogie im Alleingang waren zuletzt in Paris (Calixto Bieito) und Bayreuth (Valentin Schwarz) geplant, beide wurden durch die Pandemie auf mindestens 2022 verschoben. An Berlins Deutscher Oper wurde nun inmitten der Corona-Monate, verspätet und um die chronologische Stückreihenfolge gebracht, ein neuer Nibelungen-„Ring“ geschmiedet.
Was besonders dadurch erschwert wurde, weil er die mythisch verklärte, mehr als 30 Jahre gespielte Götz-Friedrich-Produktion in Peter Sykoras immer noch gültig starkem Zeittunnel-Einheitsbühnenbild ersetzen musste.
Der hatte sein optisches Vorbild als Zufallsfund in den Bahnhöfen der U-Bahn in Washington. So hätte ja auch aktuell etwas Großes entstehen können aus einer kleinen Vorlage.
Doch der Friedrich-Schüler Stefan Herheim, als Norweger dem dortigen Sagenkreis nahe, zudem mit einer der besten, weil vielschichtigsten Bayreuther „Parsifal“-Produktionen in der Referenzenmappe, er konnte auch zum wüst bebuhten „Ring“-Finale die allzu hohe Latte nicht reißen.
Er bewegte sich noch nicht einmal auf Augenhöhe, er flutsche einfach so durch: enttäuschend schlicht, platt, meist aber vor allem konfus. Und weit unter seinem einmal erreichten Deutungsniveau.
Was sich schon bei der „Walküre“ als schwächstem Regieteil im vergangenen Herbst andeutete, beim, „Rheingold“ zum sommerlichen Spielzeitende fortsetzte, das bestätigte sich jetzt leider, als in naher Abfolge „Götterdämmerung“ und „Siegfried“ folgten, und alles jetzt endlich zum ersten Gesamtdurchlauf (zwei weitere sind bis Januar noch geplant) in der richtigen Reihenfolge zu erleben war.
Der „Ring“ als politische Parabel, als Sittenstück, als Verfall einer Dynastie, als Kapitalismuskritik, als Menetekel des imperialistischen 19. Jahrhunderts, als Märchenspiel, als Bayreuther Historie, Vorahnung des Nationalsozialismus gar, als buddhistische Saga, als Öko-Anklage – alles schon dagewesen. Was also hat uns Stefan Herheim zu erzählen?
Warum schauen die Flüchtlinge immer zu?
Eigentlich gar nichts über das hinaus, was sich Richard Wagner ziemlich klug und auch über 16 Stunden Spielzeit einigermaßen unterhaltsam, erhebend und bedrückend, bisweilen sogar lustig ausgedacht hat. Und auch wenn sich manches Bilderrätsel im nun szenisch schlüssigen Stückverlauf lösen mochte, sonderlich originell oder erhellend war es bei Herheim selten.
Weil auch Wagner einige Jahre seines Lebens politisch auf der Flucht war, beginnt alles mit Flüchtlingen, die ganz altmodisch mit Koffern reisen – woher und wohin? Man weiß es nicht.
Genauso wenig, warum diese Flüchtlinge an Schlüsselstellen immer wieder linkisch intimste Vorgänge der Protagonisten beobachten müssen, und das gern in altmodisch weißem Feinripp, mit Strumpfhaltern und Liebestötern, bevor sie sich zum Wegschauen peinsam selbst an die Wäsche gehen: Es gibt deshalb bei diesem „Ring“ entschieden zu viele Verbeugungen in Unterhosen.
Ach ja, sie alle, auch die seltsamerweise im Treck mitreisenden Licht- und Nachtalben, sie beginnen diese Parabel zu spielen: Alles armes Theater nur, mit billigen Tricks, aber nicht mal die funktionieren immer.
Daraus resultiert ein sich dunkel türmender Kofferberg mit unangenehm uneingelösten Auschwitz-Assoziationen als nicht eben spielfreundliches Einheitsbühnenbild; ewiges Blättern im Klavierauszug; dauerndes Präludieren an einem Flügel, aus dem gern das mythische Personal herauf- und herunterfährt; wogende Tücher in Klein und Groß für Projektionen, die oft etwas Kasperletheaterhaftes haben; so wie auch die gerne die Uraufführungszeit zitierenden Kostüme.
Und auch der blanke Kitsch regiert: etwa wenn die toten Siegfried-Eltern Sieglinde und Siegmund ihrem Sohn als Engel erscheinen.
Zu vieles erklärt sich gar nicht: Mime, hinreichend textdeutlich und großmächtig gesungen von Ya-Chung Huang, sieht aus wie Richard Wagner im KZ-Kittel. Wenn er stirbt, wischt er sich die Maske ab. Siglinde und Hunding haben ein behindertes Kind, das von ihr, der einzig Reinen in dem Ränkespiel, getötet wird.
Siegfried, ein dickes Kind im Bärenfell, großartig Hoffnung machend trompetet von Clay Hilley, erwürgt ebenfalls sein alter Ego, den von einem pfiffigen Sängerknaben (Sebastian Scherer) geflöteten Waldvogel. Und Wanderer Wotan (lässlich eindimensional: Iain Paterson) bricht einen „Siegfried“-Akt später seiner Ex-Geliebten Erda das Genick. Das wiederum hat die grandiose Judit Kutasi, aufgemacht wie eine Souffleusen-Oma aus den Sixties, nun wahrlich nicht verdient.
Warum sehen Alberich (auftrumpfend: Jordan Shanahan) und sein Sohn Hagen (eher gemütlich: Albert Pesendorfer) wie der Joker aus? Da verliert sich Herheim immer wieder in Halbheiten. Oder er trumpft musterschülerhaft auf: Ja, Drache Fafner (darf im Fatsuit noch nach dem Tod tanzen: Tobias Kehrer) ist die Tuba zugeordnet. Deswegen blinkt das Instrument aus dem Klavier hoch.
Funktioniert dieser „Ring“, dann ist es meist Wagner zu verdanken, hängt und klappert er inhaltlich, muss man das der oft hilflosen Regie anlasten. Nach den öden oder albernen ersten beiden Teilen, gefällt der scherzohafte „Siegfried“ in den ersten zwei Akten als rüpelhaft-rustikale Komödie, der dritte, wenn Siegfried die Frau (seine schnell perückenlose Tante) und die Liebe entdeckt, ist dann wieder zum Unterwäsche-Fremdschämen.
Noch schnell Siegfrieds Papp-Kopf abhacken
In der „Götterdämmerung“ sind wir endlich bei den Menschen, für die Gibichungenhalle ist Herheim freilich nichts Naheliegenderes eingefallen, als der Nachbau des Holzfoyers der Deutschen Oper samt Wolkenplastik als Projektionsfläche für Waldweben und Rheinwellen sowie West-Berliner Publikum als Zaungästen. Die dürfen viel herumstehen. Werden sie vom Chor verkörpert, stürmen sie durch den gern erleuchteten Zuschauerraum; wo auch Hagen zwischendurch Platz genommen hat.
Der schneidet zum Trauermarsch dem von ihm gemordeten Siegfried noch den Pappkopf ab, bevor die hörbar ihre letzte Brünnhilde wacker ansteuernde Nina Stimme wieder mal ein Tuch vorbeizieht. Als kommende Wunschmaid empfiehlt sich hingegen die herrlich voll tönende Okka von der Damerau als Waltraute. Singt sie vom Ende der Götter, darf im Hintergrund natürlich wieder Wotan stumm und nichts auflösend zwischen seiner germanisch behelmten Götterschar brüten.
Donald Runnicles hält sein formidables Orchester in den Schlusstücken zu einem vorantreibend dramatischen, passgenauen, weder pathetischen noch metaphysischen Wagner-Sound an. Das knistert, knackt, knallt und rundet sich pastos in den großen Instrumentalmomenten, ehrlich und immer direkt. Und zum Finale züngeln die Flüchtlinge ein letztes Mal als eurythmisch tanzende Flämmchen in Dessous ums Klavier, Brünnhilde legt sich drauf. Ab geht es in die Versenkung.
Das war es dann. Fast. Den Rest erledigt nicht Alberich, sondern eine Gebäudereinigungsfachkraft, die auch noch die letzten „Ring“-Rest vor der nächste Bühnenprobe professionell ernüchternd wegfeudelt. So billig, so banal.
Kann also heute noch ein Regisseur einen „Ring“ schmieden? Gegenwärtig versucht es zumindest auch Richard Jones an der English National Opera. Gerade ist seine Tetralogie mit der „Walküre“ gestartett. Sie wird 2025 an New Yorks Metropolitan Opera weiterwanderen.
Dorthin sollte eigentlich Stefan Herheims Berliner Deutung reisen. Aber da hat man, es verwundert nicht, sehr schnell abgewunken. Und auch an der Spree wird dieser allzu leichtgewichtigen Deutung sicher keine 30 Jahre Spielzeit gewährt werden.
Manuel Brug | 15.11.2021
Wagners «Ring» zurück in Berlin – Ovationen in Deutscher Oper
Mit dem Abschluss der ersten zyklischen Aufführung aller vier Opern hat Berlin eine neue Inszenierung von Richard Wagners «Ring des Nibelungen». Fast vier Jahrzehnte nach der legendären Version des damaligen Intendanten Götz Friedrich (1930-2000) hat der norwegische Opernregisseur Stefan Herheim mit Generalmusikdirektor Sir Donald Runnicles das mit insgesamt rund 16 Stunden Spielzeit aufwendigste Werk des Musiktheaters an der Deutschen Oper realisiert.
Das Publikum feierte am Sonntagabend den Abschluss der Tetralogie mit einer gelungenen «Götterdämmerung». An den Vorabenden hatten internationale Spitzensolisten und das Orchester bereits mit «Rheingold», der «Walküre» sowie «Siegfried» für Beifallsstürme gesorgt.
Zwischen Woglindes «Weia! Waga! Woge, du Welle» zu Beginn des «Rheingold» bis zu Hagens «Zurück vom Ring!» am Ende der «Götterdämmerung» entwickeln die als Götter, Riesen und Alben auftretenden Figuren ein sehr menschliches Kaleidoskop aus Inzucht und Mord, Vergewaltigung oder Vertragsbruch, Verrat und Rache. Der Untergang ist prophezeit, jedes Ringen um Macht, Lust oder gar ein paar Takte Liebe muss absehbar scheitern.
Herheim verknüpft Wagners komplizierte Erzählstränge immer wieder mit sehr aktuellen Themen und Bezügen. Sein «Ring« beginnt auf leerer Bühne, ein paar Flüchtlinge werden von Göttervater Wotan angeführt. Die Menschengruppe wird immer wieder den Bezug zu einer Realität jenseits der Bühne herstellen, dem selbstverliebten Wotan oder dem kindischen Helden Siegfried applaudieren, Brünnhilde für ihren Mut feiern.
Die Koffer der Migranten zwischen dem Blick zurück und einer unbekannten Zukunft dienen Herheim für ein abwechslungsreiches Bühnenbild aus Landschaften, Festungen oder türmen sich zu Bildern der Judenverfolgung im Werk des Antisemiten Wagner (1813-1893). Über alle Opern hinweg zentral bleibt ein Flügel, das Instrument auf dem Wagner sein Kunstwerk über mehrerer Jahrzehnte hinweg erschuf.
Der Flügel ist Bühne auf der Bühne, verschlingt Protagonisten, ist Bett oder Felsen für viel Sex im Stoff, lässt Auftritte und Abgänge zu. Immer wieder scheinen die Figuren der Opern an den Tasten Wagners musikalische Themen zu intonieren und damit die Handlung voranzutreiben.
Herheim spielt mit Bildern, Analogien, optischen Zitaten. Dafür setzt sein Team Licht und Bühneneffekte immer wieder zu traumschönen Szenerien zusammen. Das alles verschlingende Flut- und Flammenfiasko am Ende der «Götterdämmerung» wird nur den Flügel zurücklassen im bis zu den Brandwänden entleerten Bühnenhaus.
Das Publikum feierte durchgehend Orchester, Dirigent und die Besetzungen der rund 50 Solo-Partien in den vier Opern. Am Abschlussabend gab es besondere Ovationen etwa für Nina Stemme (Brünnhilde), Clay Hilley (Siegfried) und Albert Pesendorfer (Hagen). Das Fest der Fantasie von Regisseur Herheim und seinem Team sorgte dagegen für ein hartes Ringen von «Bravo»- und «Buh»-Rufen.
dpa | 15.11.2021
Die Droge Wagner
Der „Ring des Nibelungen“ ist wieder komplett an der Deutschen Oper in Berlin zu sehen. Regisseur Stefan Herheim nimmt Wagner beim Wort.
Wagner ist ein Skandal. Die Deutsche Oper in Berlin hatte 33 Jahre lang eine Version seines „Ring des Nibelungen“ im Repertoire, deren Premiere im Jahr 1984 im Wutgeschrei des Publikums unterging. Ein schwarzer Sänger sang den Wotan, seine Armee der Walküren bestand aus Lederdominas. Götz Friedrich, der Intendant, hatte selbst die Regie übernommen.
Der Krawall stand am Anfang eines beispiellosen Erfolgs. Ostern 2017 fand die letzte Aufführung aller vier Teile des „Bühnenfestspiels“ statt, wie Wagner sein Monster genannt hatte. Friedrich war schon lange tot und in einem Ehrengrab der Stadt beerdigt. Wenn sein Ring auf dem Spielplan stand, waren sämtliche Vorstellungen ausverkauft. Es hätte ewig so weitergehen können, aber die Kulissen mussten inzwischen mit Klebestreifen zusammengehalten werden.
Es ging einfach nicht mehr, die Baupolizei wäre eingeschritten. Der heutige Intendant Dietmar Schwarz gab bei Stefan Herheim eine neue Inszenierung für das Jahr 2020 in Auftrag. Herheim, 1970 in Oslo geboren, wohnt ohnehin in Berlin, wo er an den beiden anderen Opernbühnen sehr erfolgreich inszeniert hat: Verdi und Wagner an der Staatsoper, Händel und Offenbach an der Komischen Oper. Angefangen hat er als Cellist, zur Regie kam er über das Marionettentheater. So steht es bei Wikipedia, wo auch nachzulesen ist, dass er danach Opernregie als Fach studiert habe, nämlich in Hamburg bei Götz Friedrich, der dort nebenher auch Hochschulprofessor war.
Die Nachfolge schien geregelt, aber dann kam Corona: Das „Rheingold“ fiel aus, das mit seinen zweieinhalb Stunden Länge für Wagner nur der „Vorabend“ war. Vor halbleerem, hygienisch bereinigtem Saal kam im vergangenen Herbst die „Walküre“ heraus, die Nummer eins in Wagners Zählung der vollen Festspieltage, die mindestens fünf Stunden dauern müssen. Im Sommer danach gab es den Vorabend als Nachspiel. Der Saal war wieder so voll wie im Oktober, als die „Götterdämmerung“ dran war, die über sechs Stunden lange Nummer drei.
Fehlte noch „Siegfried“, die Nummer zwei. Wegen eines Coronafalles der vierten Welle kam sie erst vergangene Woche auf die Bühne, aber nicht alleine. Von Dienstag bis Sonntag war zum ersten Mal Stefan Herheims „Ring“ vollständig und in der richtigen Reihenfolge zu sehen. Natürlich war der letzte Applaus spät in der kalten Sonntagsnacht ein einziges Geschrei der Empörten, sekundiert von ein paar wenigen Begeisterten.
Gegenwart wird Geschichte
So soll es sein und Herheim hat das Geheimnis seines Lehrers Friedrich verstanden: Es muss immer ein Theater bleiben. Patrice Chéreau hatte 1976 in Bayreuth seinen Skandal, weil er Wagners frei erfundene Mythen als Kapitalismuskritik auf die Bühne brachte. Danach war von einem „Jahrhundertring“ die Rede.
Dafür würde heute niemand sein Geld ausgeben, so wenig wie für Frank Castorfs Märchen vom Kampf ums Öl und der DDR-Dämmerung, mit der er 2013 viel Lärm in Bayreuth machte. Beide hatten versucht, in Wagners Texten eine immer noch gültige, kritische Botschaft an die Gegenwart zu finden. Deswegen sind sie sind nur noch Geschichte.
Ganz anders Götz Friedrich. 1984 war die Angst vor einem Atomkrieg im öffentlichen Bewusstsein akut, dafür waren keine Nibelungen nötig. Nur wenige würden überleben und Friedrich schloss sie in einen gewaltigen, unterirdischen Tunnel ein. Es gab nichts mehr zu deuten und künden. Sie langweilten sich und spielten nur deshalb ihren Wagner weiter. Macht Spaß: Zwerge, Götter, Zauber, Feuer, Kampf, Blut und Sex. Sie wussten bald nicht mehr, wie oft sie das Zeug schon aufgeführt hatten, aber was sollten sie sonst tun?
Klüger ist damit niemand geworden, auch nicht, wer ihnen nur im Saal zugeschaut hat. Heute, fast 40 Jahre später, haben die Opernfiguren es bei Herheim dann doch geschafft, ihren Tunnel zu verlassen. Sie fangen wieder mit dem Rheingold an, aber jetzt ist die Bühne leer, nur der rohe Beton ist zu sehen. Sie tragen schwere Koffer. Im Saal brennt immer noch das Licht. Einer entdeckt einen Konzertflügel, der nutzlos herumsteht, und schlägt eine Taste an, links unten, wo die tiefen Töne liegen: „Es“.
Ein Ballett sehr alltäglicher Körper
Im Saal geht das Licht aus, im Orchestergraben fangen die Kontrabässe an, dann Tuba, Celli, Bratschen, Geigen, Hörner, Klarinetten, Oboen, Flöten. Endlose Minuten Es-Dur pur, keine Musik, sondern eine Droge. Sie wirkt schnell. Ihre Koffer hatten die Männer und Frauen auf Wanderschaft schon abgestellt, jetzt ziehen sie die Oberkleidung aus, wiegen sich in der Hüfte, strecken die Arme hoch und lassen die Hände tanzen: Wagners mythischer Rhein ist ein Ballett sehr alltäglicher Körper. Kein Kulissenzauber, nur ein struppiger Altrocker steht am Bühnenportal. Er hat eine Trompete in der Hand, die im Scheinwerferlicht golden glänzt.
Das ist Alberich, der Nibelungenzwerg. Er will die Rheintöchter vögeln, drei Gören von nebenan, schon bald auch in Unterwäsche wie Wotan, der inzwischen am Flügel eingeschlafen ist. Fricka weckt ihn auf, in weißer Robe und weißem Koffer in der Hand: Du hast die Rechnung nicht bezahlt! Wagners Vorabend ist ein Komödienstadel, Ehestreit, Lügen und Betrug ohne Ende.
Lustig ist das, aber Wagner? Herheim hat mit Donald Runnicles, dem Chefdirigenten, sehr genau der Musik zugehört, die ihre Leitmotive ständig wiederholen muss, um Wagners Träume zu ordnen. Dafür steht der Konzertflügel auf der Bühne, aus dem alles kommt: Frauen, Krieger, Riesen und Zwerge. Es ist schwül und feucht darin, man muss sich ausziehen und hält es trotzdem nicht lange aus, die Koffer stehen bereit zur Flucht. Aber wohin?
Die lange Walküre steht bevor. Schwester und Bruder legen sich auf den Konzertflügel, um einen Helden zu zeugen. Danach liest die Ehefrau die Grundregeln des Rechtsstaates vor. Auch ein Gott muss sich daran halten, aber Brünnhilde, die Tochter aus Wotans One-Night-Stand mit Erda, der Urmutter, rettet ihrer Halbschwester aus Gottvaters Affäre mit einer Wölfin das Leben, damit sie den inzestuösen Sohn des Halbbruders gebären kann. Danach muss sie in einem Feuerring eingesperrt schlafen, bis der neue Superheld sie erobert. Blickt blickt noch irgend jemand durch?
Herheim lässt nur spielen, was gesungen wird
Nein, Herheim lässt nur spielen, was gesungen wird, befreit von der Last der Weltverbesserung. Das Orchester verzichtet auf die gewohnten Wagner-Narkosen. Wenn es laut wird, klingt es ein wenig blechern, meistens jedoch ist ruhiger, farbig instrumentierter Wohlklang für Melodien zu hören, die Popsongs sein könnten. Bühnenbild und Licht von Silke Bauer und Ulrich Niepel zaubern mit federleicht schwebenden Gazetüchern ganze Gebirge über den abgestellten Koffern. Die Flüchtlinge ruhen sich aus von der globalen Krise der Migration. Sie ist konkreter als Friedrichs Atomkrieg, ihre Opfer spazieren entspannt in der Szene herum und klatschen bei den Höhepunkten.
Wenn sich der Vorhang zum Endspiel der Götterdämmerung öffnet, ist ihre Bühne eine Kopie des Foyers der Deutschen Oper. Sie sind integriert und schlürfen Sekt. Aber dann kommen Wagners Nornen und alles erstarrt in rotem Licht. Gespensterfrauen in Weiß besingen die Herrschaft der Männer. Das Geschlecht ist Macht, die Gewalt Natur. Die Musik ist komplizierter geworden, die Leitmotive sind geblieben. Nur das Flüchtlingsballett des Rheins kehrt nicht mehr zurück. Brünnhilde stürzt sich ins Krematorium ihres Vaters und kann nur hoffen, dass auch der Ring an ihrem Finger darin schmilzt.
Ob er wieder zum Rheingold wird, ist nicht zu sehen. Die Gazeberge sind verschwunden, nur der Konzertflügel steht immer noch mitten im nackten Beton des Bühnenraums. Wagner hat ihn gespielt, der radikalste Vordenker der politischen Reaktion gegen die aufkommende Moderne seiner Zeit. Herheim hat ihn beim Wort genommen. Er ist ein Skandal. Die Bühnenscheinwerfer fahren herunter, leuchten glühend rot, werden blass und verlöschen. Eine Putzfrau kehrt den Abfall zusammen.
Die Deutsche Oper Berlin hat ihn wieder, ihren „Ring des Nibelungen“, der Maßstäbe setzt, in diesem Fall, weil er hoffentlich ein Skandal bleibt. Herheim hat ihn so rücksichtslos genau gelesen und auf die Bühne gestellt, dass man ihn versteht. Die durchwegs überzeugende Besetzung der Premiere wird wechseln, die Requisiten sind auch nach 30 Jahren noch leicht zu reparieren.
Niklaus Hablützel | 16.11.2021