Der Ring des Nibelungen

Christian Thielemann
Chor der Staatsoper Berlin
Staatskapelle Berlin
Date/Location
2 October 2022 (R), 3 October 2022 (W)
6 October 2022 (S), 9 October 2022 (G)
Staatsoper Unter den Linden Berlin
Recording Type
  live  studio
  live compilation  live and studio
Cast

Das Rheingold

Die Walküre

Siegfried

Götterdämmerung
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Frankfurter Allgemeine Zeitung

Teetrinken mit Erda

Ironie und Allzumenschliches: An der Berliner Staatsoper geht Dmitri Tcherniakovs starke Neuinszenierung von Wagners „Ring“ zu Ende. Christian Thielemann wird gefeiert.

Einen solchen Buh-Sturm hat dieser neue „Ring des Nibelungen“ nicht verdient. Gnadenlos bricht er herein, als in der Berliner Staatsoper das Regie-Team auf die Bühne kommt. Da hat sich über vier Abende hinweg eine Enttäuschung und Wut angestaut, die sich nun Luft machen muss. Enttäuschung aber worüber? Dmitri Tcherniakov hat eine Regieidee geliefert, die alle vier Teile des „Rings“ trägt: jene eines Menschenexperimentes, das von einem zynischen, später bereuenden Wotan in Gang gesetzt wurde. Eine Idee, die auch deshalb so stark ist, weil sie dem Manipulativen Rechnung trägt, das dieses Großwerk Richard Wagners als Motiv durchzieht. Nicht nur Wotan macht hier seine Experimente, um die Macht zu retten, sondern ebenso Mime, der Siegfried für sich einspannen möchte, um den Ring zu erlangen, oder Hagen, der im großen Manipulationsmanöver der „Götterdämmerung“ sich Siegfried dienstbar macht. Wotan ist nur der vorderhand Hochrangigste in der verlogenen, unehrlichen Gesellschaft, die im „Ring“ aneinander herumexperimentiert.

Wotans Forschungsanstalt
Die Präzision, mit der Tcherniakov und seine Ausstatterin Elena Zaytseva die feinen Unterschiede innerhalb dieser Gesellschaft zeigen, ist fesselnd. In der „Götterdämmerung“ haben die Gibichungen die Forschungsanstalt Wotans übernommen. Gunther, ein Aufsteiger wie einst Wotan, hat schick renovieren lassen, Gutrune ist seine angeschickerte Schwester, die ihre gute Laune aus dem Rheinwein bezieht, der hier getrunken wird wie Wasser. Sorg- und Verantwortungslosigkeit herrschen wie ehedem unter Wotan, wie überhaupt Tcherniakovs „Götterdämmerung“ den ewigen Kreislauf der Dinge auf die Bühne bringt: Siegfried unter der Einwirkung des Vergessenstrunks wird sich Brünnhilde gegenüber so hässlich gebärden wie einst Hunding gegenüber Sieglinde. Beide Szenen finden im selben Raum statt. Zuvor trifft Siegfried als daueradoleszenter Gutmensch, als den ihn Tenor Andreas Schager glänzend auf die Bühne bringt, auf die Gibichungen: Ihr Lob seiner Heldenhaftigkeit ist ihm peinlich, unbedarft packt er sein Stofftier-Pferd Grane aus, spöttisches Gelächter hervorrufend. Siegfried wird schnell lernen und bald im weinroten Dreiteiler erscheinen.

Fürs Erste abgeschlossen ist damit Siegfrieds Mannwerdung, die Tcherniakov im „Siegfried“ ähnlich präzise geschildert hatte. Ein Schwert schmiedet er zwar nicht, dafür räumt er umso entschiedener mit seiner Kindheit auf: Zum Pusten des Orchesterblasebalgs gehen Stofftiere und Holzspielzeug in Flammen auf, mit dem Schmiedehammer wird das kunterbunt bestückte Kinderzimmer zerlegt und die Wohnung des verhassten Mime gleich mit. Aus den feinen Spannungen zwischen sozialen Schichten, wie sie nicht nur in der „Götterdämmerung“, sondern zuvor schon im „Rheingold“ und in der „Walküre“ zu erleben waren, wird nun ein Konflikt der Generationen. Wotan als Wanderer und Alberich treten als Ruheständler auf, die sich, was den Ring betrifft, nach wie vor im Unruhestand befinden. Wie Wotan mit grauer Kappe auf dem Kopf noch einmal in seiner alten Forschungsanstalt vorbeischaut und sich keiner für ihn interessiert: eine großartige Szene; wie er sich dort noch einmal zum Tee triff mit Erda, offenbar die frühere Chefsekretärin, die gute Seele des Betriebs, die Wotan ehemals gefügig war (mit ihm hat sie ein Kind, Brünnhilde): von Tcherniakov mit penibler Detailfreude in Szene gesetzt; wie Wotan schließlich den Teetisch hastig abräumt und sich in Pose bringt, um dem nahenden Siegfried gegenüber einen respektablen Eindruck zu machen: so komisch wie traurig.

So frisch und genau Tcherniakov solche Szenen auf die Bühne bringt, ahnt man, dass er den „Ring“ vor allem als einen Bilderbogen alles Menschlichen begreift. Was tun mit dem Mythos? Im „Siegfried“, dem trotz der Angestrengtheit von Wagners Komik heitersten Teil der Tetralogie, behandelt Tcherniakov alles Mythologische mit Ironie. Der Kampf mit dem Drachen wird zu einem psychologischen Test in sechs Phasen, die von „Entspannung/Waldweben“ bis zur „Realisierung eines unbewussten Wunsches“ reichen. Der „unbewusste Wunsch“ ist die Liebe zu Brünnhilde, die sich bald mit Stofftier-Pferd Grane im „Schlaflabor“ einfindet, wo sie von Siegfried aufgeweckt wird. Das zeugt von einem gewitzten, auch liebevollen Umgang mit dem Stoff – eine Ironie, die Tcherniakov in den dramatischen Teilen „Walküre“ und „Götterdämmerung“ klugerweise sein lässt. Woraus sich allerdings Passagen von großer Blässe ergeben. Wenn Waltraute im ersten Akt der „Götterdämmerung“ Brünnhilde aufsucht und von Wotans erbärmlichem Zustand berichtet, dann erscheint der Mythos nur noch als ferne Erinnerung, die mit dem eigentlichen Geschehen nichts mehr zu tun hat. Die Szene wird mehr oder weniger abgehakt unter gestischem Minimalaufwand. Die Ratlosigkeit des modernen Menschen vor Mythos und Religion: In Tcherniakovs Inszenierung tritt sie als wohl unbewusstes Nebenprodukt auf die Bühne.

Bilderbogen alles Menschlichen
Christian Thielemann und die Staatskapelle Belin arbeiten entschieden gegen solche Entmythologisierung an. Vergessen ist der hinreißende Parlando-Stil, der „Rheingold“ und „Walküre“ zum Theaterereignis gemacht hatte. Jetzt lautet die Parole nicht mehr, Felix Mendelssohn Bartholdys Einfluss auf Wagners Musik zu entdecken wie in den beiden ersten „Ring“-Teilen, stattdessen wird entschieden geklotzt. Immer noch mit Klangsinn und sicherem Überblick, aber doch grober und auch unsauberer. Wagners Musik der zweiten „Ring“-Hälfte ist eine andere, blechlastigere; auch sollte man nicht vergessen, dass Thielemann eben doch einsprang und einen großen Teil der Orchesterproben Daniel Barenboims Assistent Thomas Guggeis übernahm. Und doch herrscht Enttäuschung, dass die Sänger nun nicht mehr frei von klanglichem Druck aus dem Orchestergraben agieren können: Andreas Schager als unermüdlicher Siegfried mit Schüttelvi­brato, Stephan Rügamer als kauziger Mime, Victoria Randem als hinreißend zartes Waldvöglein. Mika Kares’ Hagen ist von eleganter Boshaftigkeit, Lauri Vasar singt einen Gunther, dem man das Halbgare anmerkt. Anja Kampes Brünnhilde voll Kraft, Beweglichkeit und Wärme bleibt weitgehend unbeschadet vom symphonischen Aufruhr im Orchestergraben, ebenso Michael Volles stimmlich überlegener, fabelhaft gespielter Wotan. Beide sind das Wunderpaar dieses neuen Berliner „Rings“.

Vom Publikum gefeiert wird Christian Thielemann gleichwohl – und an der Staatsoper kann man sich nun Gedanken machen, wie eine weitere Beziehung aussehen könnte zum Orchester, das bald einen neuen Chefdirigenten braucht. Wie viel wert ist dieser Auftritt in Thielemanns Kerngebiet? Lässt sich daraus etwas hochrechnen auf die Musik anderer Komponisten? Will man sich Thielemanns bekanntermaßen schmales Repertoire zumuten? Zunächst aber liegt über diesem Berliner „Ring“ ein nachdrücklicher Hauch von Abschied. Daniel Barenboim jedenfalls hatte zuletzt sämtliche Dirigierverpflichtungen der nächsten Zeit abgesagt.

CLEMENS HAUSTEIN | 11.10.2022

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Media Type/Label
Technical Specifications
320 kbit/s CBR, 48.0 kHz, 2.1 GByte (MP3)
Remarks
Broadcast (RBB)
A production by Dmitri Tcherniakov (premiere)
Christian Thielemann replaces Daniel Barenboim
Also available as video recording from a different Ring cycle.