Siegfried
Christian Thielemann | ||||||
Staatskapelle Berlin | ||||||
Date/Location
Recording Type
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Siegfried | Andreas Schager |
Mime | Stephan Rügamer |
Wotan | Michael Volle |
Alberich | Johannes Martin Kränzle | Fafner | Peter Rose |
Erda | Anna Kissjudit |
Brünnhilde | Anja Kampe |
Waldvogel | Victoria Randem |
Generationenwechsel in Walhall
„Zu schauen kam ich, nicht zu schaffen“ skandiert Wotan im Siegfried – der einst so übermächtige Gott hat ausgedient. In einer Art treuhänderischen Abwicklung seines ehemaligen Imperiums wird schnell klar: Er ist überflüssig geworden. Zu lang schon war er an der Macht; nun ist es an der Zeit, dass ein Generationenwechsel stattfindet. Er kann die Geschehnisse nicht mehr direkt, lediglich indirekt durch Beeinflussung der Subjekte Mime und Alberich lenken. Doch statt des so bedeutsamen Schlüsselmoments, dem Zwiegespräch mit der Wissenswette, gerät die Szene bei Dmitri Tcherniakov zum belanglosen, banalen Kaffeeklatsch im Altenheim, bei denen die nochmals gealterten Wotan und Mime wie zwei Greise, alt und tattrig, zum Fünfuhrtee in Erinnerungen schwelgen.
Anfänglich waren Alberich und die Wälsungen die Subjekte seiner Experimente, nun beobachtet Wotan Siegfried, vergisst dabei aber, dass er ihn – den freien Helden – nicht lenken kann. Wotan darf nicht eingreifen, doch er kann es nicht lassen, sich Siegfried mehrmals durch den Einwegspiegel, den Mimes Heim (der gleiche offene Korpus, ehemals Hundings Hütte) und Wotans Büro verbindet, zu offenbaren – was auch Siegfried bemerkt, bei ihm jedoch aufgrund Tcherniakovs widersprüchlicher und inkonsequenter Regie keinerlei Eindruck macht. Diese widersinnigen, nicht gerade von dezidierter Kenntnis der Ringdichtung zeugenden Kontinuitätsfehler, häufen sich auch im dritten Teil der Tetralogie. Zu sehr scheint Tcherniakov seine eigene Geschichte erzählen und dem Ring seine eigene Interpretation aufzwingen zu wollen.
Er dekonstruiert die Räume des Forschungszentrums, welches von Fafner zum Ort seiner Neidhöhle erkoren wurde, immer mehr. Statt das anfänglichen Labyrinths aus unzähligen Zimmern und Etagen, gestaltet er nun einen sich unentwegt drehenden Korpus, welcher auch Einblicke hinter die Kulissen gibt. Das ständige sich bewegen Müssen und die vielen Requisiten, die Tcherniakov seinen Sänger*innen zur Hand gibt, lenken diese zu sehr ab, sodass immer wieder Einsätze verpasst werden und Halbsätze nicht gesungen werden können – nicht zuletzt lenkt dies stark von der Musik ab.
Siegfried muss das Kindsein erst von sich abstreifen, bevor er furchtlos Erwachsen sein kann. Also zerschlägt er Mimes Heim in wildem Zerstörungswahn; feierlich verbrennt er das Mobiliar und sein Spielzeug, um so geradezu zeremoniell und metamorphisch den Übergang in das Erwachsensein einzuleiten.
Andreas Schager, dessen Paraderolle zweifelsfrei eben dieser wild umherlaufende, hyperaktive Siegfried ist, hat mit seiner Darstellung einmal mehr gezeigt, dass er der Langstreckenläufer unter den Tenören ist. Schier unerschöpflich bestritt er den Abend und ließ bis zuletzt keine Ermüdungserscheinungen vermuten. Seine Stimme verfügte über Klarheit und Stahlkraft, die man bei vielen Heldentenören oft vermisst und so war er lediglich mit hie und da ausbrechenden Tönen nachlässig bei der Melodieführung, was seinem offenen und frei fließenden Gesang jedoch kaum minderte.
Was Stephan Rügamer als Mime im Rheingold bereits andeuten konnte, vermochte er nun im Siegfried vollends zu beweisen. Der Charaktertenor mit überaus markanter, zugleich kraftvoller und differenzierter Stimme, wusste den Nibelungen überzeugend darzustellen. Auch er reihte sich in das überaus hochkarätige Ensemble dieses Rings trefflich ein.
Anja Kampe, die mit dieser Vorstellung ihr Siegfried-Brünnhilden Debüt gab, bestach mit gefühlvoller, einnehmender Darstellung. Ihr raumgreifender, aber wenig dramatischer Sopran unterlag mitunter den hohen Anforderungen dieser Rolle. Ihre lyrische Stimme geriet in den Höhen ins Flackern und driftete so in unsaubere Artikulation und nur mäßig saubere Aussprache ab.
Der Waldvogel, vortrefflich mit warmer, agiler Sopranstimme gesungen von Victoria Randem wurde von Tcherniakov zur Kinderpsychologin degradiert, die mithilfe Rorschach-ähnlicher Techniken, Siegfrieds Erinnerungen anzuzapfen versuchte und zu eigenständigen Handeln erziehen mochte.
Christian Thielemann und die Staatskapelle Berlin verfolgen weiter ihren dramatischen Bogen und so steigerten sie sich nochmals in Dramatik, Dynamik und einem überaus spannungsreichen und aufbrausendem Dirigat; schon allein dank ihnen ist dieser Ring – und das steht spätestens mit diesem Siegfried fest – ein überragendes musikalisches Erlebnis ist.
Doch Tcherniakovs Regie – anfänglich mit interessanten Ideen begonnen – schlägt nun in Ernüchterung um. Besonders Siegfried offenbarte viele Momente des Leerlaufs, in dem wenig Handlung oder Deutung stattfinden. Wahrscheinlich müsste man selbst vom Blut des Drachen kosten, damit sich dem Zuschauer seine Intentionen offenbaren. So bleibt ihm nur die Götterdämmerung, um vielleicht doch mit einem einschlagenden Finale aufzutrumpfen.
Alexandra Richter | 08 Oktober 2022
Immerhin, die Musik darf aufblühen
Der neue „Ring des NIbelungen“ an der Staatsoper geht in die dritte Runde. Noch immer ist unklar, ob Regisseur Dmitri Tcherniakov den Ausweg aus seiner selbstgestellten Regiefalle findet.
Aufatmen am Donnerstag in der Berliner Staatsoper. Zwar ist nach wie vor unklar, wohin Regisseur Dmitri Tcherniakov mit seiner Neuinszenierung des „Ring des Nibelungen“ will – und was ihn geritten haben mag, Wagners Weltendrama auf das maximal unsinnliche Ambiente des klinischen Forschungszentrums „E.S.C.H.E“ zu verzwergen. Aber nach „Siegfried“, dem dritten Teil (oder laut Wagner, der „Rheingold“ als Vorabend versteht, dem zweiten Tag), scheint immerhin deutlich zu werden, dass es nicht in irgendeine monströse rechte Ecke irrläuft.
Zwar werden hier unter der Oberaufsicht von Wotan ständig Experimente am Menschen durchgeführt, aber offenbar nicht, um humunkulsartig eine neue Gattung oder den nietzscheanischen Übermenschen zu erschaffen. Sondern um die Versuchspersonen, allen voran Siegfried, psychologisch zu durchleuchten. Warum, wozu – man weiß es nicht.
Mime kämpft mit konvulsivischen Zuckungen
So sitzt denn also der wunderbare Stephan Rügamer als verzwickter, mit konvulsivischen Zuckungen kämpfender Mime – nein, nicht in der rauchigen Schummerwelt einer Schmiede, sondern in seinem grell ausgeleuchteten Büro „Blase, blase Balg“ sucht man hier vergeblich. Statt eines Hammers benutzt er einen Stift für die rhythmischen Schläge, mit denen er Nothung, das von Wotans Speer zertrümmerte Schwert, neu zu schmieden versucht; später übernehmen Löffel und Topf aus der Teeküche diese Aufgabe. Siegfried stürmt als Bär verkleidet heran, in Gestalt von Andreas Schager, und mischt den Laden ordentlich auf.
Schager ist die tragende Säule des Abends. Inszenierungen des „Rings“ sind ja nicht nur deshalb seltene, besondere Ereignisse, weil sie organisatorisch die größten Anforderungen an einen Opernbetrieb stellen – von der Notwendigkeit eines überzeugenden gedanklichen Zugriffs, wie ihn Götz Friedrich an der Deutschen Oper oder Frank Castorf in Bayreuth boten, ganz zu schweigen. Sondern auch, weil sich die Sängerinnen und Sänger, die so gewaltige Partien wie Brünnhilde oder Siegfried bewältigen können, meist an einer Hand abzählen lassen.
Der 51-jährige Österreicher besitzt neben seiner unermüdlichen, auch nach fünfeinhalb Stunden kaum angezählt wirkenden Tenorstimme den Vorteil, dass keine übermäßige Körperfülle die Phantasie des Zuhörers in Nöte bringt. Den juvenilen Helden nimmt man ihm immer noch ab, wie er da schlaksig herumturnt, springt und hüpft – alles gespielt und auch herbeigezwungen, natürlich, aber da hat man schon viel unwahrscheinlichere Siegfriede gesehen.
Dass er die Hände beim Singen gefühlt zwei Drittel der Spieldauer nicht aus der Jogginghosen-Tasche kriegt, nervt – doch welcher Jugendliche nervt nicht? Den Schlabberlook wird er, das verraten die Probenfotos, spätestens in „Götterdämmerung“ sowieso zugunsten eines Anzugs ablegen. Unschuldig ist Schager an Tcherniakovs küchenpsychologischer Personenführung, die ihn am Ende des ersten Aufzugs die Bauklötze seines Kinderzimmers zerhauen lässt, als symbolische Zerstörung der Kindheit.
Christian Thielemann hat das Dirigat der Staatskapelle von dem aus gesundheitlichen Gründen immer häufiger zum Rückzug gezwungenen Daniel Barenboim übernommen. Wie gewohnt begrüßen ihn seine Hardcore-Fans mit frenetischem Applaus, sobald auch nur der Schuh des Maestros im Orchestergrabens aufblitzt.
Und sie haben ja recht: Kaum ein lebender Dirigent dürfte mit Wagners Partituren so vertraut sein, sie so inspiriert zum Leben erwecken wie Thielemann. Am Donnerstag in der Staatsoper scheint er sich eine spezielle Dramaturgie zurechtgelegt zu haben: Alle Details mit feingespannter Aufmerksamkeit auszuspinnen, doch so gedämpft, dass der Klang immer erst am Ende eines Aufzugs richtig hochfährt und zu voller Pracht aufblüht. Wenigstens dann bietet die Musik jene Üppigkeit, die die Szene verweigert.
Irgendwann verlagert sich das Geschehen ins Geriatrische
Wie eigentlich fast immer überzeugt Michael Volle darstellerisch und gesanglich als mit Hilfe der Maskenabteilung fürchterlich gealterter Laborleiter und Göttervater Wotan. Überhaupt verlagert sich das Geschehen weitgehend ins Geriatrische. Alberich (Johannes Martin Kränzle) stützt sich auf eine Gehhilfe und liefert sich vor Neidhöhle mit Wotan ein Statler-und-Waldorf-würdiges Wortgefecht, Peter Rose kämpft als Fafner in Zwangsjacke mit wirrem Haar und irrem Blick sein letztes Gefecht. Würde bewahren vor allem die Frauen: Anna Kissjudit als Erda, die hier ein zweites Mal Wotans Gewalt erfährt, und Victoria Randem, die mit hochgelagertem Sopran den zwitschernden Waldvogel singt, im Outfit einer feschen Labormitarbeiterin.
Und natürlich Anja Kampe als machtvoll sich verströmende Brünnhilde. Ihr Auftritt im dritten Aufzug ist bemerkenswert. Laut Libretto entert Siegfried den feuerumzüngelten Felsen, auf dem sie ruht. Thielemann bringt im Graben Wagners ganze Kunst, Szenen in Tönen zu malen, zur Entfaltung – doch von wabernden Lohen ist natürlich nichts zu sehen, nur ein dröges Schlaflabor mit einer, ja, leeren Liege. Da geht die Tür auf, Wotan bringt Brünnhilde herein, die sich jetzt erst hinlegt. Von wegen „ewiger Schlaf“, alles nur Inszenierung, Versuchsanordnung! Eine interessante Idee, doch wo führt sie hin?
Udo Badelt | 07.10.2022
FEST DER STIMMEN
Jede Aufführung von Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ steht und fällt mit der Besetzung der drei höchst anspruchsvollen Partien des Wotan, der Brünnhilde sowie der Titelfigur des dritten Abends, dem Siegfried. Letzterer ist zwar nur in zwei Opern präsent, dafür jeweils in allen drei Aufzügen. Wotan und Brünnhilde stehen in der Tetralogie sogar an drei aufeinanderfolgenden Abenden auf der Bühne. Gemeinsam treten diese umfangreichen Rollen nur im letzten Akt des „Siegfried“ auf. Die Bayreuther Festspiele verteilten zuletzt die Last dieser Partien auf jeweils mehrere Schultern. Der neue Ring-Zyklus der Staatsoper Berlin fordert hingegen neben den direkt aneinandergereihten Premieren auch eine strenge Kontinuität in der Besetzung. Dieser Bericht legt daher nun den Fokus auf die außerordentlichen Leistungen von Anja Kampe, Andreas Schager und Michael Volle. Denn dieses Trio ließ den neuen Ring-Zyklus zu einem wahren Fest der großen Wagnerstimmen werden.
Es ist schon fünf Jahre her, als sich Anja Kampe bei den Osterfestspielen Salzburg in der Partie der Brünnhilde in Richard Wagners „Walküre“ heraufstufte, zufälligerweise schon damals unter der musikalischen Leitung Christian Thielemanns. Es sollte jedoch eine Ausnahme bleiben. Danach ist sie direkt wieder zu ihrer Paraderolle der Sieglinde zurückgekehrt, auch für den vorherigen Ring-Zyklus an der Staatsoper Berlin im Herbst 2019. An die Brünnhilden der „Götterdämmerung“ sowie im „Siegfried“ hat sich Kampe – vom Schlussgesang einmal abgesehen – bislang noch gar nicht herangetastet. Mit ihrem mehrfachen Brünnhilde-Rollendebüt stellte Kampe die lang erwartete Regiearbeit von Dmitri Tcherniakov gar in den Schatten ihrer stimmlichen Leistungen. Sie wurde so (neben dem Dirigat von Christian Thielemann) zur eigentlichen Sensation dieses Ring-Zyklus der Staatsoper Berlin.
Zunächst ist festzustellen, dass Kampes Stimme überraschte und damit polarisierte. Denn diese ist nicht mit den heroischen Gotteskriegerinnen einer Birgit Nilsson oder Astrid Varnay mit ihren Stimmbändern aus Stahl – wie man sie von Schallplattenaufnahmen kennt – vergleichbar. In gewisser Weise setzt sich Kampe damit auch von den letzten beiden Berliner Brünnhilden, Nina Stemme und Iréne Theorin, ab. Sicherlich sind alle drei Brünnhilden eine Grenzpartie für die Sopranistin, sie liegen ihr nicht so natürlich wie die Rolle der Sieglinde. Insbesondere in den Höhen schliff Kampe manche Spitzentöne lediglich an, mitunter gerieten diese auch etwas schrill. Mit trefflichen, dezentem Ausdruck in Mimik und Gestik zeigte sie, wie konzentriert und bedacht sie sich auf diese Rollen vorbereitet hat. Neben ihrer berührenden Phrasierung wusste sie sich insbesondere mit deutlicher Aussprache und in besonnener Artikulation die Partie ganz zu eigen zu machen. Kampe disponierte ihre stimmlichen Reserven klug, in den hochdramatischen Ausbrüchen des Schlussduetts hielt sie sich jedoch (gerade im direkten Vergleich zu Andreas Schager) etwas arg zurück. Ihre Stimme ist durch eine fast an das lyrische Fach anmutenden Zartheit geprägt, was ihre Rolleninterpretation umso spannender machte: Kampe bedarf gar keiner Verwandlung von der heroischen Kämpferin der „Walküre“ zu dem vulnerablen Weib der „Götterdämmerung“. Mit ihr sprach eine völlig menschliche Brünnhilde zu dem Göttervater Wotan. Kampe begriff von ihrem ersten „Hojotoho!“ an das Leid von Siegmund und Sieglinde, weil sie sich selbst darin identifizierte.
Insgesamt bleibt anzumerken, dass Anja Kampe ihre Brünnhilde mit einer Humanität und Wärme füllte, wie sie die Welt Richard Wagners bislang nicht gehört hat. Trotz einiger Abstriche in der Höhe überzeugte sie mit ihrer besonders in der Tiefe und Mittellage ausgeprägten Stimme durch eine faszinierende, bewegende, gar aufwühlende Charakterstudie der Brünnhilde.
Andreas Schager sprang vor knapp zehn Jahren kurzfristig in der Partie des Siegfried an der Berliner Staatsoper unter der musikalischen Leitung von Daniel Barenboim ein. Über Nacht wurde er so zum Weltstar. Er gilt nun als der gefragteste Heldentenor der Gegenwart. Ob in den Wiederaufnahmen des Ring-Zyklus, im Parsifal oder als Tristan: Wenn Barenboim im Graben stand, sollte Schager fortan exklusives Vorrecht auf die Tenorpartien der Berliner Staatsoper genießen. Zurecht gilt seine Darstellung des Siegfrieds als unerreicht. Schager ist ein Phänomen, mit maximalen Kraftreserven, unbändiger Energie und Spitzentönen, die einfach knallen. Dieses Stamina besitzt kein anderer Heldentenor neben ihm. Womöglich muss man in die goldenen Zeiten des Wagner-Gesangs der Vorkriegszeit zurückgehen, um vergleichbares gesangliches Durchhaltevermögen zu finden. Umso erfreulicher, dass Schagers Darstellung als Siegfried in den letzten Jahren noch an Reife dazugewonnen hat: Wo der Tenor anfangs noch in sehr freier, teilweise flapsiger Gestaltung die Spitzentöne aneinanderreihte, glänzte er nun mit zehn Jahren Staatsopernerfahrung in strengerer Befolgung von Dynamik und Notenwerten der Partitur Wagners. Schagers Legato in den reflektierenden Monologen, dabei die expressiven Ausbrüche auf die Schmiedelieder begrenzt, ließen seine Gesamtwirkung nun runder, zugleich umso eindrucksvoller werden!
Michael Volle bewies als Göttervater Wotan bzw. Wanderer an drei Abenden, wie er als Ausnahmebariton eine Partie nicht nur stimmlich versiert einstudiert, sondern diese auch vollumfänglich in Auftreten, Phrasierung und Gestaltung sich zu eigen machen kann. Volle wurde dabei den drei vollkommen divergierenden Facetten seiner Figur gerecht: Im „Rheingold“ noch neugierig-schroff, stellenweise liedartig, formte er seinen Wotan in der „Walküre“ zum ganz großen Dramatiker mit Leidenschaft, Zorn und Tochterliebe. Mit einem Hauch Selbstironie, etwas verbittert, aber in Melancholie wähnend, nahm Volle im „Siegfried“ schließlich Abschied von seinem aktiven Wirken auf der Erde Rücken.
Fazit: Betrachtet man allein die Stimmen, wurde der „Siegfried“ zum Höhepunkt der Premierenserie des Ring-Zyklus der Staatsoper Berlin.
Phillip Richter | Rezension der Vorstellung v. 06.10.2022
Sängerfest, Dirigentenglück und absurdes Regietheater
„We saw a nice forrest“ sagte eine Zuschauerin, die eigens aus England angereist war, in typisch britischem, trocken-bitterem Humor. Tatsächlich ist in diesem „Siegfried“ kein Wald zu sehen. Er ist nur zu hören, im „Waldweben“ etwa. Keine Höhle, keine Felsen, kein loderndes Feuer, keine Schmiede auf der Bühne. Keine suggestiven Lichtstimmungen (Gleb Filshtinsky), zu schweigen von Romantik. Stattdessen die hinlänglich bekannten, sterilen Räumlichkeiten eines modernen in unserer Gegenwart angesiedelten Großklinikums, Tcherniakov nennt es „Forschungszentrum E.S.C.H.E.“
So wie Wotan in der “Walküre“ gegenüber Fricka bekennt, „In eig’ner Fessel fing ich mich“, hat sich Dmitri Tcherniakov schon in diesem vorletzten Teil seiner „Ring“-Neuinszenierung an der Berliner Staatsoper im eigenen Regiekonzept festgefahren, so scheint es. Er ist gefangen in seiner eigenen Dramaturgie. War man in der „Walküre“ noch neugierig und gespannt auf das weitere Fortschreiten seiner Inszenierung, so erweist sie sich jetzt als vollends absurdes Prokrustes-Bett einer Idee, die sich immer weiter von Wagner entfernt. Die Widersprüche zwischen Orchesterraunen, gesungenem Wort und dem, was man auf der Bühne sieht, werden immer größer und sind eigentlich nicht mehr akzeptabel.
Die Drehbühne und die fahrenden Kulissenwagen sind fortwährend im Einsatz. Man sieht wieder die seit dem „Rheingold“ hinlänglich bekannten Räume einer großangelten Psychiatrie, mal plastisch vor vorn, mal aufs nackte Gerippe destruiert von hinten. Das Zimmer mit der Esche, Konferenz- und Supervisionsräume, Labors und Beobachtungsgalerien, auf denen auch hin- und wieder die (noch stummen) Nornen auftreten, die erst in der „Götterdämmerung ihren großen Auftritt haben.
Hundings Apartment wird zum Legoland-Kinderzimmer Jung-Siegfrieds, der reichlich vorhandenes Spielzeug demoliert, blödelt und herumhampelt. Im Zentrum ein Schreibtisch, auf dem Siegfried aufgetürmtes Spielzeug anzündet und plötzlich sein Schwert wenig plausibel herbeizaubert. Von Schmieden kann nicht die Rede sein. Diese Szene ist gerade wegen des überwältigenden tenoralen Vortrags des Tenors in der Titelpartie (man versteht jedes Wort) geradezu absurd. Nicht dass man die martialischen Schmiedegesänge goutieren muss, aber so verunstaltet werden sie lächerlich. Vom „Drachen“- Kampf ganz zu schweigen.
Auch Brünnhildes ironisiertes Erwachen im Schlaflabor, in das sie Opa Wanderer hineinführt, aufs Krankenhausbett geleitet und mit silbrigem Tuch abdeckt, ist absurd. Die Fragwürdigkeit der Regie, die fortwährend Musik und gesungenes Wort Lügen straft, ist bei aller begrüßenswerten, weil unkonventionellen Personenführung evident. Überflüssig ist auch der filmische Video-Blick in ein Kinderzimmer mit verstört wirkenden Kindern. Überflüssig, ja abstrus sind die auf Monitoren zu lesenden Texte wie „Phase 5: Konfrontation mit Konflikt“, „Phase 2: Versenkung und Meditation“, „Phase 3: Suche nach dem Inneren Helfer“ oder „Phase 6: Realisierung eines inneren Wunsches“. Das sind, mit Verlaub gesagt, küchenpsychologische Lippenbekenntnisse einer Regie, die den Zuschauer entmündigen und sich auf der Bühne nicht wirklich einlösen. Jede tragische Fallhöhe des Stücks wird in dieser Inszenierung nivelliert, ja verzwergt, schließlich ad absurdum geführt.
Wie sagte eine andere der zahlreich angereisten wagneraffinen Engländerinnen: „it’s disgusting“, was so viel meint wie „empörend“, aber auch „widerlich“. Wie auch immer: Es ist fatal, wenn selbstherrliche Regisseure sich über das Werk erheben und allenfalls Kommentare zum Stück abliefern, anstatt das Stück an sich zu zeigen. Und es ist dumm, wenn sie den Zuschauer bevormunden und für dumm erklären.
Sängerisch ist dieser „Siegfried“ außerordentlich, ja großartig: Der sportlich kraftvolle, mit enormen Stimmreserven aufwartende Tenor Andreas Schager legt einen Siegfried hin, der als konkurrenzlos zu bezeichnen ist. In blauem Jogginganzug und schlechtem Pennäler-Benehmen singt und spielt er den Wagnerschen (gebrochenen, tragischen) Siegfried, als Mischung aus Kasperl, Held und proletenhaftem Gegenwartsmensch mühelos und höhensicher, strahlend und wortverständlich. Andreas Schager ist ein Ausnahmetenor, so wie Michael Volle ein Ausnahme-Heldenbariton ist. Er ist als Wanderer (in dieser Inszenierung allerdings eher wie ein verkommener opahafter Spaziergänger in Sandalen, mit Strickjacke, im Parka, mit Schiebermütze und Gehstock) grandios in Stimmkraft, Gesangsvortrag und Darstellung, trotz der Regie, die ihn zum saufenden Clochard macht.
Auch Mime (Stephan Rügamer) und Alberich (Johannes Martin Kränzle) sind in Tcherniakovs Inszenierung zu behinderten (wenn auch gut singenden) Opas mutiert, Fafner (Peter Rose) gar zum Rübezahl. Urmutter Erda (im blauen zweiteiligen Kleinbürgerkostüm), wird von Anna Kissjudit samtig und nobel gesungen. Überhaupt sind die Alltagskostüme von Elena Zaytseva) durchweg spießig. Die Brünnhilde von Anja Kampe (in schwarzen Leggings und grüner Bluse) muss das Pathos ihrer Rolle immer wieder ironisch brechen, ja karikieren. Am eklatantesten bei ihrem Erwachens-Sonnen-Gesang im dritten Akt. Anja Kampe singt fabelhaft, jugendlich hochdramatisch, wenn auch nicht ganz so überzeugend wie in der „Walküre“. Aber der „Siegfried“ ist nun mal eine besondere sängerische Herausforderung. Geradezu atemberaubend ist der Waldvogel in Gestalt der schwarzen Krankenschwester Victoria Randem. Diese exzellente Koloratursopranistin singt lupenrein und wortverständlich. Dass sie fortwährend mit einem kleinen Flattervögelchen spielen muss (auch Siegfried stimmt in dieses lächerlich kindische Spiel ein), beraubt sie jeder Glaubwürdigkeit.
An dieser Stelle kann ich mich der grundsätzlichen Bemerkung nicht enthalten, dass die Besetzung des Waldvogels mit einer Frauenstimme ein tradiertes Missverständnis ist, Wagner hat diese Partie nicht ohne Grund für einen Knabensopran geschrieben, wie man der Partitur entnehmen kann. Das macht auch Sinn, denn schließlich entdeckt Siegfried erst in der Begegnung mit Brünnhilde das Weibliche. Der Waldvogel darf strenggenommen, nichts eindeutig Weibliches haben, er hat (auch stimmlich) ein geschlechtsneutrales Naturwesen (ein Tier) zu sein. Leider hat man auch Unter den Linden nicht die Chance genutzt, mit dieser falschen Besetzungstradition zu brechen. Aber es sind ja so viele falsche Traditionen der Aufführungspraxis Wagners gang und gäbe.
Auch Christin Thielemann am Pult ist nicht der Dirigent, der (etwa wie Hartmut Haenchen) Wagners Notentext einer kritischen Überprüfung für Wert befindet. Gleichwohl hat er das Werk, das die Regie virtuos demontiert, musikalisch beglaubigt. Über weite Strecken hat er einen fulminanten „Siegfried“ dirigiert, klangprächtig, dramatisch-kraftvoll und in seiner beeindruckenden Polyphonie und fast freudianischen Leitmotivik transparent. Chapeau! So ist dieser Abend zumindest musikalisch, sängerisch ein Ereignis. Aber mit Bangen sieht man der „Götterdämmerung“ entgegen. „Weißt Du, wie das wird?“ singt die erste Norn zu Beginn der „Götterdämmerung“. Lassen wir uns überraschen.
Dieter David Scholz | 07.10.2022
A production by Dmitri Tcherniakov (premiere)
This recording is part of a complete Ring cycle.