Siegfried

Erik Nielsen
Orchester der Tiroler Festspiele Erl
Date/Location
8 July 2023
Passionsspielhaus Erl
Recording Type
  live  studio
  live compilation  live and studio
Cast
SiegfriedVincent Wolfsteiner
MimePeter Marsh
WotanSimon Bailey
AlberichCraig Colclough
FafnerAnthony Robin Schneider
ErdaZanda Švēde
BrünnhildeChristiane Libor
WaldvogelAnna Nekhames
Gallery
Reviews
omm.de

Bekanntes Werk mit neuen Akzenten

Vor zwei Jahren hat man bei den Tiroler Festspielen Erl mit dem Schmieden eines neuen Ring-Zyklus begonnen, der am 16. Juli 2023 zum Abschluss kommt, bevor er im kommenden Sommer in zwei zyklischen Aufführungen präsentiert wird. Wagners vierteiliges Mammutwerk hat hier eine ganz besondere Bedeutung. Als der damalige künstlerische Leiter und Begründer der Festspiele Gustav Kuhn 2004 den ersten Zyklus inszeniert hatte, kam er auf die Idee, als Projekt für 2005 einen sogenannten 24-Stunden-Ring in Angriff zu nehmen, bei dem die komplette Tetralogie an einem Wochenende präsentiert wurde. Was wie ein wahnwitziges Vorhaben klang, hatte so großen Erfolg, dass nicht nur die Oper Köln dieses Projekt nachahmte, sondern auch Dr. Hans Peter Haselsteiner, der in Folge dieses Projektes die Präsidentschaft der Festspiele übernahm, erfolgreich dafür kämpfte, dass neben der bisherigen Spielstätte, dem Passionsspielhaus, ein eigenes Festspielhaus errichtet wurde, in dem seit 2012 die Winterfestspiele einen weiteren Bestandteil der Festspiele bilden und mittlerweile mit weiteren Projekten einen ganzjährigen Spielplan ermöglichen. Gustav Kuhn ist nun Geschichte in Erl, die nicht so rühmlich zu Ende gegangen ist, wie sie einst begonnen hatte. Der enge Bezug zu Wagner im Passionsspielhaus ist allerdings geblieben, und so hat auch der jetzige künstlerische Leiter Bernd Loebe den Ring in einer neuen Inszenierung auf den Spielplan gestellt. Regie führt bei diesem gewaltigen Unterfangen Brigitte Fassbaender, die nicht nur in ihrer Karriere als Mezzosopranistin an den führenden Opernhäusern der ganzen Welt große Erfolge feierte, sondern auch als Intendantin am Tiroler Landestheater Innsbruck von 1999 bis 2012 eine enge Beziehung zu der Region aufbaute.

Die Partie der Fricka gehörte während ihrer sängerischen Laufbahn häufig zu ihren Rollen, und so hat sie auch als Darstellerin einen engen Bezug zu dem Werk entwickelt. Den Siegfried hält sie dabei nach eigener Aussage im Programmheft musikalisch und textlich für die “interessanteste der Ring-Opern”. Wie schon bei den beiden vorherigen Teilen, Das Rheingold und Die Walküre, überlässt sie keinen Moment bloß der Musik, sondern bindet die einzelnen Figuren geschickt und durchdacht in das Geschehen mit ein, um, wie sie es selbst einmal bezeichnet hat, “ein Herumstehen auf der Bühne” zu vermeiden. Dabei entstehen auf einzelne Charaktere ganz neue Blickwinkel, die man so in einer relativ librettonahen Interpretation noch nicht gesehen hat und die diese Inszenierung so wahnsinnig spannend machen. Dass das Orchester im Passionsspielhaus hinter der Bühne positioniert ist, ist diesem Ansatz sehr förderlich, da das Publikum so den einzelnen Figuren noch näher kommt. Bereits das Vorspiel setzt Fassbaender in Szene und zeigt Siegfried als Kind, der in einer absolut lieblosen Umgebung aufwachsen muss. Auf der rechten Bühnenseite liegt ein Statisten-Junge in einem Laufstall und wird von Mime durch das Anstupsen mit einem Holzschwert geweckt. Mit diesem Holzschwert schlägt der kleine Siegfried unkontrolliert auf alle Gegenstände im Haus ein und wird von dem relativ überforderten Mime schließlich hinaus in die Natur gebracht, um hier seine Aggressionen und Triebe auszuleben.

Mimes Schmiede ist zwar im Bühnenbild von Kaspar Glarner mit einigen Requisiten recht detailverliebt ausgestattet, liefert in der ersten Szene jedoch nicht das erwartete Bild. Zwar befindet sich auf dem Amboss in der Mitte der Bühne ein neues von Mime geschmiedetes Schwert, das Siegfried bei seinem ersten Auftritt als junger Erwachsener auch zerschlägt. Aber mit den Schlägen, die nach dem Vorspiel zu hören sind, versucht Mime nicht etwa, dieses Schwert zu vollenden, sondern hört dieses Hämmern gewissermaßen in seinem Kopf, weil er verzweifelt erkennen muss, dass er nicht in der Lage ist, eine Waffe zu fertigen, die Siegfried standhält und ihn somit zu Mimes Werkzeug bei der Erlangung des Nibelungenschatzes macht. Peter Marsh gestaltet den Mime mit hellem und bisweilen gezielt etwas schneidendem Tenor als den unsympathischen Charakter, der er gemäß Libretto auch ist, so dass man mit ihm zu keinem Zeitpunkt wirklich Mitleid empfinden kann, wenn Siegfried sich ihm gegenüber recht unfreundlich und grob verhält. Vincent Wolfsteiner begeistert als Siegfried mit kraftvollem Heldentenor, der bis zum Ende des Abends keinerlei Schwäche zeigt und scheinbar über unerschöpfliche stimmliche Reserven verfügt. Dabei nimmt man ihm auch darstellerisch mit unbesonnenem und leicht naivem Spiel ab, dass dieser junge Mann keine Ahnung vom Fürchten hat.

Wieso Simon Bailey als Wanderer in den ersten beiden Aufzügen keine Augenklappe trägt, erschließt sich nicht. Soll damit der Wandel vom Gott zum Wanderer angedeutet werden, der erst beim Zusammentreffen mit Erda wieder in seiner alten Gestalt erscheint? Schlüssig wäre das eigentlich nicht, da ja auch Alberich ihn im zweiten Bild erkennt. Mit sauber geführtem Bariton und leicht komödiantischem Spiel macht er mit Marsh die häufig etwas langatmige Frage-Szene zwischen dem Wanderer und Mime zu einem kurzweiligen Intermezzo im ersten Aufzug, bevor es dann zur großen Schmiedeszene kommt. Hier wird optisch ebenfalls einiges geboten. Auf der linken Bühnenseite befindet sich eine Apparatur, in die Siegfried die Schwertstücke wirft, die dann durch Drehen eines Rades an der Seite als Späne herauskommen und von Siegfried in einem Eimer aufgefangen und über dem Feuer geschmolzen werden. Dann wird das flüssige Eisen von ihm zu einem Schwert gegossen. So kraftvoll wie die Bilder ist auch Wolfsteiners Tenor in dieser Szene. Mit roher Kraft durchschlägt er am Ende dann auch den Amboss, bevor er und Mime sich zu den letzten Tönen der Musik in die Arme fallen. Über diesen Regie-Einfall kann man geteilter Meinung sein. Sollte die Ekstase, in der sich beide in diesem Moment befinden, wirklich so groß sein, dass sie ihre gegenseitige Abneigung vergessen und sich freundschaftlich in die Arme schließen?

Im zweiten Aufzug erhält die Rolle des Waldvogels in Fassbaenders Interpretation eine ganz neue Dimension. Bereits während des Vorspiels lässt sie den Waldvogel auf der Bühne auftreten und die ganzen Szenen des zweiten Aufzugs beobachten. So wird motiviert, woher der Waldvogel eigentlich sein Wissen hat, das er anschließend an Siegfried weitergibt. Außerdem stellt Fassbaender dem Waldvogel noch einen Gefährten als Statisten zur Seite, der mal mit ihm durch das Bühnenbild schleicht und sich mal über der Bühne auf der rechten oder linken Seite als Beobachter befindet. Die Bühne von Glarner zeigt zahlreiche Baumstämme ohne Kronen. Die grünen Blätter werden während des Waldwebens auf die Stämme projiziert. Die Rückwand ist von Bibi Abel mit einer eindrucksvollen Video-Projektion gestaltet und zeigt einen riesigen Drachenkopf, der sich in der Projektion auch bewegt, wenn man Fafner hört. Alberich hat sich auf der rechten Seite eine kleine Höhle eingerichtet und wartet da mit Getränkedosen und Butterkeksen auf eine Chance, seinen Schatz zurückzugewinnen. Der Wanderer tritt durch den Saal auf, was erneut die Nähe zum Publikum unterstreicht. Craig Colclough, der bereits im Rheingold als Alberich mit dunklem Bassbariton überzeugte, begeistert auch im Siegfried mit schwarzen Tiefen und glaubhaftem Misstrauen. Am Ende des Aufzugs gibt Fassbaender ihm noch einen kurzen Moment, wenn er sich gierig in Fafners Höhle begibt und beginnt, Teile des Schatzes zu rauben, bei dem zweiten Eimer Gold allerdings frustriert erkennen muss, dass ohne den Ring dieser Schatz für ihn wertlos ist.

Fafner ertönt nicht wie in vielen Inszenierungen bei seinem ersten Auftritt durch Lautsprecher verstärkt aus dem Off, sondern befindet sich bereits von Anfang an unsichtbar hinter einem Baum in der Mitte der Bühne. So hat man die Illusion, dass die Stimme wirklich aus dem in der Video-Projektion angedeuteten Maul des Drachen kommt. Wenn er dann aus seiner Höhle herauskommt, wird ein Teil der Bühne in der Mitte gedreht und zeigt den Wurm in schwerer Rüstung mit Maschinengewehren und Flammenwerfern ausgestattet auf seinem Schatz sitzend. Die Flammen, die aus seiner Waffe hervorschießen, wirken dabei recht bedrohlich, während Wolfsteiner sich beim Kampf ein wenig arg lässig gebärdet, so dass es nicht wirklich glaubwürdig erscheint, dass Siegfried den Drachen im Kampf erlegt. Anthony Robin Schneider punktet stimmlich erneut mit ausdrucksstarkem Bass, mit dem er schon im Vorabend in der gleichen Partie und in der Walküre als Hunding begeisterte. Auch die Komik kommt im zweiten Aufzug nicht zu kurz. Wenn Siegfried den Gesang des Waldvogels auf dem Rohr nachzuahmen versucht, kommt der Ton wunderbar schief aus dem Orchester. Wieso er allerdings kein Horn hat, das er anschließend bläst und mit dem er Fafner aus seiner Höhle lockt, sondern nur die Hände an den Mund legt, bleibt unklar. Anna Nekhames verfügt als Waldvogel über einen kräftigen Sopran mit einem etwas zu starken Vibrato, was dem Vogel stimmlich ein wenig seiner Leichtigkeit nimmt. Darstellerisch überzeugt sie auf ganzer Linie. Unter anderem deutet sie Siegfried bereits im Vorfeld pantomimisch an, dass Fafners Blut ihm helfen kann, die Sprache der Vögel zu verstehen.

Im dritten Aufzug bekommt man nun einen völlig neuen Blick auf die Figur der Erda. Als Hollywood-Schönheit à la Grace Kelly schlummert sie mit Schlafmaske zunächst in einem opulenten Bett, das in der Mitte der Bühne aus dem Boden emporgefahren wird. Wotan rückt sich die Krawatte zurecht und kommt mit Sekt und zwei Gläsern. Bevor er die Urwala erweckt, muss er sich allerdings erst ein wenig Mut antrinken. Zunächst wirkt Erda ganz wie eine Geliebte, die sich darüber freut, dass ihr Liebhaber erneut zu ihr gekommen ist. Es kommt zu regelrecht zärtlichen Momenten zwischen den beiden. Erst als Wotan ihr verkündet, dass er ihrer gemeinsame Tochter Brünnhilde die Göttlichkeit genommen hat, kommt es zum Bruch. Wenn Wotan Erda erneut in die Tiefe hinabschickt, schläft sie nicht sofort ein, sondern beobachtet noch, wie es zum Aufeinandertreffen zwischen Siegfried und seinem Großvater kommt. Zanda Švēde glänzt als Erda mit satten Tiefen und warmem Mezzosopran. In der folgenden Szene liefern sich Bailey und Wolfsteiner stimmlich und darstellerisch ein packendes Duell, an dessen Ende der Gott einen nahezu tragischen Abgang hat.

Die Bühnenmitte wird nun von rot leuchtendem Rauch umwabert, so dass man das Gefühl hat, dass Siegfried wirklich durch das Feuer schreitet. Die schlafende Brünnhilde wird auf einem Podest aus der Mitte der Bühne emporgefahren, wo sich zuvor Erdas Bett befunden hat. Wolfsteiner gestaltet das Entsetzen, das er beim ersten Anblick einer Frau hat, sehr eindrucksvoll, so dass man nachvollziehen kann, wie Siegfried erstmals zu einem wahrhaft fühlenden Menschen wird, dem nun auch das Fürchten nicht mehr fremd ist. Sein Respekt ist dann allerdings so groß, dass er die Maid nicht durch einen Kuss auf den Mund erweckt, sondern ihre nackten Füße berührt. Christiane Libor gestaltet Brünnhildes Erwachen sehr intensiv und punktet mit frischem, leuchtendem Sopran und kraftvollen Höhen. Während des folgenden Gesprächs hält Fassbaender in der Personenregie Brünnhilde und Siegfried allerdings bis zum Schluss auf Abstand. Ob man diesem Ansatz folgen möchte, ist Geschmacksache. Selbst bei “leuchtende Liebe, lachender Tod” stehen die beiden noch auf unterschiedlichen Seiten der Bühne, bevor sie dann zu den letzten Tönen der Musik körperliche Nähe zulassen und beim Verlöschen des Lichts endlich zum Kuss ansetzen. Erik Nielsen lotet dies alles mit dem Orchester der Tiroler Festspiele Erl klanggewaltig aus und sorgt dafür, dass die Solist*innen zu keinem Moment vom Orchester überdeckt werden. So gibt es am Ende und nach den einzelnen Aufzügen großen Jubel für alle Beteiligten.

FAZIT
Brigitte Fassbaender gelingt es erneut, in einem relativ bekannten Stück neue Akzente zu setzen und dabei trotzdem librettonah zu bleiben.

Thomas Molke | Premiere im Passionsspielhaus am 8. Juli 2023

nmz.de

Der „Erler Ring“ findet in Wagners „Siegfried“ einen weiteren Höhepunkt

Innerhalb der Parabel auf eine Welt, die von der Harmonie in der Natur bis in ihren kapitalistischen Untergang taumelt, wird der „Siegfried“ mitunter als das „Scherzo“ bezeichnet – und tatsächlich: im Passionsspielhaus der Tiroler Festspiele wurde bei der Begegnung von jungheldischem Weltenretter mit gut zwanzig Jahre schlafender Göttertochter gelacht – ehe am Ende einhelliger Jubel ausbrach.

Während sich im einstigen Wagner-Mekka Bayreuth ja alles auf den einen Komponisten und die jährliche Neuinszenierung konzentrieren kann, hat der rüde unschön nicht verlängerte Künstlerische Leiter Bernd Loebe – „kränkend“ (FAZ); „rausgekickt… der wohl fähigste und leidenschaftlichste Opernintendant im deutschsprachigen Raum“(Wiener Standard) – ja ein vielfältiges Programm für die „Tiroler Festspiele“ anzubieten – und dann mit einer überragenden Fachfrau wie Brigitte Fassbaender binnen einer Woche die zwei Schlussteile von Wagners Tetralogie angesetzt. Der fachlich dumme Vorwurf, Loebe, der seit anderthalb Jahrzehnten die Oper Frankfurt zum überragenden Ensemblehaus gemacht hat, würde Erl nur als Dependance Frankfurts behandeln, entlarvte sich am Abend selbst: die fast durchweg erstklassigen Solisten singen an allen internationalen Qualitätsopern – und eben auch in Frankfurt oder sind dort sogar Ensemblemitglied! Davon profitiert das kleine Erl zwischen Salzburg, München, Bregenz und Bayreuth.

Während im Erler Passionshaus das Orchester hochgestaffelt hinter der Bühne sitzt – durch Gaze zu ahnen, klanglich nicht beeinträchtigt – kann die nahe gerückte Bühne intensiv ausstrahlen. So war die Handlung, von der durch die eigene Wagner-Weltkarriere „buch-stäblich“ texterfahrene Regisseurin so Wort-bezogen, detailreich in stummer Reaktion, im realen Zusammenspiel und dann im sängerdramatischen Ausgestalten des jeweils eigenen Parts wie selten mitzuerleben – Festspielniveau.

„In der ewigen Wiederholung ist doch zu Wagner alles schon gesagt“? Mitnichten, Fassbaender setzte reizvoll neue Akzente. Schon zum grüblerischen Vorspiel des 1. Aufzugs musterte Mime das schlafende Kind Siegfried im Bettgestell; das will nicht mehr mit dem Kuscheltier spielen, sondern mit dem Holzschwert – und attackierte den vermeintlichen Vater, ehe der es in den rundum projizierten Wald trägt. Als später Wotan-Wanderer aus dem Publikum kommend die Bühne betrat und die Wissenswette mit Mime spielerisch durchführte, nahm er für einen erinnerungsträchtig innehaltenden Moment das Kuscheltier seines Enkels in die Hand. Zu seinem Traum-Rausch von Weltherrschaft sprang Mime mit Anlauf auf den über der Feuerstelle an langer Kette hängenden Eimer und schaukelte jubelnd fast quer über die ganze Bühne – amüsiertes Bravo und Jubel.

Auch der 2. Aufzug brachte Ungesehenes. Alberich hauste als verwahrloster Waldschrat in einem kleinen Holzhaus über dem Waldboden und tröstete sich über den verlorenen Goldhort mit silbernen Bierdosen-Anhäufen hinweg. Er wurde beobachtet vom punkig-buntscheckigen Waldvöglein, das mit einem umhertänzelnden Partner heftig schmuste und bis auf die seitlichen Emporen „herumflog“. Dann beließ Fassbaender sensibel das „Waldweben“ als Ruhepunkt, ehe der mit dem Tarnhelm ja mutierte Fafner als schwarzes Monster von einem hereindrehenden Safe, vor dem noch Eimer mit Gold stehen, herabtrat: eine Waffen-strotzende Mischung aus „Darth Vader“ und Si-Fi-Actionbestie; doch selbst der Hand-Flammenwerfer rettete ihn nicht vor Siegfrieds Schwert. Dessen, durch Fafners Blut Naturstimmen-wie-das-Vöglein-Verstehen, wurde anschaulich wie selten gemacht.

Und dann gelang, dass der 3. Aufzug zum packenden Höhepunkt des Abends wurde. Zur grandiosen Eröffnungsmusik – der durch die dazwischen geschobenen Kompositionen des „Tristan“ und der „Meistersinger“ gereifte Wagner! – war ganz vorne ein kleines Edel-Boudoir hochgefahren: neben Empire-Schlaftischchen mit Nachtlampe ein nobles Doppelbett mit runder Couch-Ecke und opulent ausgeleuchteter erdbrauner Satin-Bettwäsche. Darin ruhte eine Traumfrau, die ewig jung und schön und anmutig verführerisch gebliebene Erda – da war nicht nur Wotan-Wanderer, sondern ein Gutteil des männlichen Publikums in Versuchung, auch noch das Jackett auszuziehen. Ihre finale, vokal und musikdramatisch überwältigende Auseinandersetzung geriet zum tönenden Höhepunkt und zur bezwingenden Vorausdeutung auf das, was folgen wird: Götterdämmerung und Weltende.

Wo dann ein Spannungsabfall zu befürchten war – wenn der durch zwei aktionsreiche Akte geprüfte Held auf ein „zwanzig Jahre ausgeruhtes Heldenweib“ trifft – geriet alles zum weitgespannten Gipfeltreffen inmitten projizierter Felsenlandschaft, mit ein wenig rot leuchtenden Seitenwänden und einem rauchenden Feuerstreifen im Bühnenvorderen. Davor war an Stelle von Erdas versunkenem Boudoir der Felsblock hochgefahren, auf dem Wotan im Walküren-Finale Brünnhilde in Schlaf versetzt hatte. Dann wirkte Siegfrieds „Fürchten“ vor dieser, schwarz-glitzernd gepanzerten Figur so eindringlich, dass das zögerlich-ängstliche Lösen von drei Panzerteilen und sein „Das ist kein Mann!“ angesichts von Brünnhildes wohlgeformten Frauenkörper einfach amüsiertes Lachen im Publikumsrund auslöste. Die Regie ersparte beiden ein bemühtes Wachküssen: Siegfried kniete, wärmte Brünnhildes Füße mit seinen Händen – und sein angedeuteter Kuss könnte ihrem schlafenden Schoß gegolten haben … zahllose Nuancen des dann folgenden zarten Annäherns und „Öffnens für den Anderen“ wären auszubreiten. Zurecht einhelliger Jubel für Brigitte Fassbaender und das um Ausstatter Kaspar Glaner versammelte Bühnenteam!

Es gelang nicht nur das vokale Liebesrasen des Finales – in Bayreuth werden Teile des Orchesters, insbesondere die Blechbläser, für den 3. Aufzug ausgewechselt – das geht in Erl nicht, dennoch musizierte das aus 20 Nationen zusammenkommende Festspielorchester unter Erik Nielsens jetzt scheinbar neubeflügelnder Leitung nun mitreißend. Mit Ausnahme des gelegentlich angestrengten Höhen-Gezwitschers von Anna Nekhames’ Waldvöglein war ein vokales Traum-Ensemble zu erleben: Peter Marshs Mime, Craig Colcloughs Alberich, Anthony Robin Schneiders Fafner – zurecht mit Bravi gefeiert – und dann wird es schwer: gebührt der größere Lorbeer Simon Baileys souveränem Wanderer (überragende Textverständlichkeit!) in der unvergesslichen Szene mit der pastos betörenden Erda von Zanda Švëde? Oder dem klar artikulierenden und heldisch bestehenden Siegfried von Vincent Wolfsteiner neben der herrlich strahlenden Brünnhilde von Christiane Libor? Einfaches Urteil: rundum Musiktheater-Glück in Erl! Einfach zu bejubeln!

Wolf-Dieter Peter | 9.07.2023

Münchner Merker

Brigitte Fassbaenders „Siegfried“ in Erl

Nominell sind es zwar Götter oder andere sagenhafte Wesen. Doch auch in ihrem „Siegfried“ lässt Regisseurin Brigitte Fassbaender manchmal überdrehte, aber immer liebenswerte Menschen aufeinandertreffen. Gerade war Premiere bei den Tiroler Festspielen in Erl.

Klunker hat er ihr wohl schon zur Genüge mitgebracht. Fürs erneute Rendezvous taugt daher eine Flasche Schampus: Wotan und Erda, das ist eine On-off-Beziehung. Wenn er nicht weiterweiß, landet er bei ihr unter der Satin-Bettdecke. Doch jetzt, wir ahnen es, hat die weissagende Göttin genug. Wobei Göttin: Auch in diesem „Siegfried“, im dritten Teil des Erler „Ring des Nibelungen“, sind ausschließlich Menschen unterwegs. Und zu verdanken ist das der weisen Menschenkennerin Brigitte Fassbaender, die im Inntal gerade ihre Regie-Laufbahn mit dem Wagner-Zyklus krönt.

2021 ging das dort los mit dem „Rheingold“, im vergangenen Jahr folgte „Die Walküre“, heuer sind „Siegfried“ und „Götterdämmerung“ dran. Und für die kompletten Zyklen anno 2024 startete gerade der Vorverkauf. Ohnehin sind Ausstattungsexperimente im Passionsspielhaus zwecklos. Das sämig-warmblütig tönende Festspielorchester auf der Hinterbühne, getrennt durch einen Gazevorhang, kaum Maschinerie, dafür eine Spielfläche direkt vor dem Publikum: Da reichen dank Ausstatter Kaspar Glarner ein paar Stufen, Amboss, Schrank, ein Verschlag rechts (in dem der saufende Alberich haust) und ein Versenkungsmechanismus. Der transportiert am Ende die schlafende Brünnhilde nach oben und eine halbe Stunde zuvor zum Wotan-Date die schlummernde Erda. Dazu gibt es Videos von Bibi Abel, die mal die Vorhänge in Erdas Riesengemach wehen oder das Feuer am Walkürenfelsen leuchten lassen. Aus Improvisation wird Tugend.

Kleine Regie-Zeichen genügen, Augenzwinkerndes inklusive
Im Grunde bietet auch der „Siegfried“ von Opernlegende Brigitte Fassbaender größtmögliche Kontrastmittel: Während die Musik bauscht und rauscht, sich unter der sorgsamen Stabführung von Erik Nielsen ins Haus schmiegt, verfolgt man viereinhalb Stunden lang ausschließlich Intimes. Kleine Zeichen genügen, und schon ist alles klar, Augenzwinkerndes inklusive. Siegfried braucht kein Horn, er bläst auf den Fäusten. Um Brünnhilde zu erwecken, küsst er ihr nicht den Mund, sondern demutsvoll die Füße – ein sehr berührender Moment.

Was wir verfolgen, ist kein Politdrama im Großformat, sondern eine subtil erzählte Familiengeschichte. Doch die gleitet nie in Serienware à la „Denver Clan“, sondern lässt schon auch Pathos, den raumgreifenden Moment zu – für den es, die Fassbaender beweist es, keine Mega-Zeichen braucht. So außer sich alle Figuren oft sind, so wenig driften sie doch in die Karikatur oder ins Flachrelief. Die richtige Dosierung an Zeichen, Gesten und Gängen muss einfach stimmen. Was oft zum Idealfall führt: Eine ordnende Regie-Hand ist plötzlich nicht mehr spürbar, am stärksten in den Zweierbegegnungen. Wotan/ Wanderer ist kein heruntergerockter Gott, sondern ein Elder Statesman, der sich in Mimes Schmiede mit der berühmten Frageszene sein eigenes Schicksal vergegenwärtigt. Und Letzterer ist kein keifender Sagen-Zwerg, sondern ein gestrandeter, leicht überschnappender, liebenswerter Underdog.

So erotisch und vielsagend wie in Erl wurde die letzte Begegnung Wotan/Erda noch selten geschildert. Und im Final-Duett verfolgt man, wie sich Siegfried und Brünnhilde nur allmählich Berührungen gestatten – wofür die Fassbaender die breite Bühne vollumfänglich nutzt. Gefühlte Nähe, das führt sie handwerklich souverän vor, lässt sich gerade über meterweite Abstände am eindrücklichsten herstellen.

Fafner hat den spektakulärsten Auftritt
Sogar Vincent Wolfsteiner lässt sich hier aus der Reserve locken. In der Siegfried-Partie hat er sich’s sehr sicher und sehr gemütlich eingerichtet. Als Held mit Bärchencharme kommt er mühelos durch, wirkt aber oft wie ein Fremdkörper im ausziselierten Geschehen. Simon Bailey als Wotan/Wanderer verfügt über kein Heldenbariton-Geschütz, kann daher mit viel Finesse und Zwischentönen gestalten. Peter Marsh hütet sich als Mime vor der vokalen Grimasse und muss dank seines großen Tonumfangs nicht die Flucht nach vorn in die Deklamation antreten.

Craig Colclough gibt auch stimmlich den dumpfen Alberich-Penner. Christiane Libor hat sich die gefährlich gelagerte Brünnhilden-Rolle klug und mit viel Textreflexion zurechtgelegt. Zanda Švēde ist als Erda eine üppig timbrierte 30er-Jahre-Schönheit. Als Waldvogel bekommt die silbrig-spitze Anna Nekhames mit Chris Wang einen stummen Begleiter, beide scheinen einer Zirkustruppe entsprungen, um Siegfried zu umgarnen. Den spektakulärsten Auftritt gönnt Brigitte Fassbaender dem Riesen Fafner: eine Kampfmaschine mit Flammenwerfer, von Anthony Robin Schneider mit scharzem Bass gesungen.

Gut möglich, dass auch die „Götterdämmerung“ kein Weltenbrand-Spektakel wird, sondern zur persönlichen Katastrophe der Wagner-Wesen. Und vielleicht taucht sogar (und stückwidrig) Wotan wieder auf. Aus Mimes Schmiede hat er sich jedenfalls schon einen lebensspendenden Apfel geklaut. Offenbar aus dem Obstgarten von Göttin Freia – auch die „Ring“-Nerds bekommen bei Brigitte Fassbaender also ihre Gag-Leckerli.

Markus Thiel | 09.07.2023

onlinemerker.com

SIEGFRIED …erfreut sich des Siegs! – In jeder Beziehung- szenisch, gesanglich und musikalisch.

Und was das vielleicht Bemerkenswerte an diesem „Ring“-Abend ist: Der Regisseurin Brigitte Fassbaender ist es gelungen, alle Charaktere, die Wagner da auf die Bühne gestellt hat, humoristisch zu hinterfragen, ohne dass sie ganz abstoßend wirken oder übermäßig glorifiziert werden. Auch die Götter, Riesen und Zwerge sind Menschen, wie im ganzen übrigen „Ring“. Aber was das Überwältigendste speziell in dieser Produktion ist: was das unsichtbare Orchester – nicht, wie in Bayreuth, im fürs Publikum unsichtbaren Graben vor der Bühne, sondern aus dem gänzlich abgedunkelten Hintergrund zu „sagen“ hat. Kaum dass man ein paarmal die Armbewegungen des Dirigenten, Erik Nielsen, durch einen geheimnisvoll-transparenten Zwischenvorhang ausnehmen konnte, tat sich da etwas, was gewiss auch unerfahrene Opernbesucher in permanente Spannung versetzte; umso mehr die wissenden Wagnerianer auf neue Weise ansprach: Da gab es keine Klänge um ihrer selbst willen, sondern stets spannungsgeladene instrumentale Aussagen, die entweder unmissverständlich bestimmte Fakten oder Emotionen vermittelten oder einfach aufwühlend waren. Ein ganz großes Lob hiemit auch für das Orchester der Festspiele Erl!

Und der nicht ganz klar definierbare szenische Hintergrund, zumeist dunkel, mit den Felswänden an beiden Seiten der Bühne, regte ständig zum Nachdenken an, in welche Welt die Übermenschen – Götter und Riesen, die bösen Zwerge und selten auf den Bühnen anzutreffende Wesen wie Nornen, oder im konkreten Fall ein Waldvogel, uns unter Richard Wagners genialer Leitung da entführen wollen ….

Die szenischen Mitarbeiter der wunderbaren Regisseurin, Kaspar Glarner (Bühnenbild und Kostüme), Juta Baaz (Kostümmitarbeit), Jan Hartmann (Licht), Bibi Abel (Video) und Mareike Wink (Dramaturgie) halfen beim vergnüglichen Gesamtkonzept sicherlich mit.

Kindertheater? Teilweise, ja. Beginnend mit dem kleinen Siegfried im Gitterbett, der vom ebenso abgekapselten Mime bereits für seine quasi erzieherischen Absichten missbraucht wird. Die einzige unbefriedigende Rollengestaltung war die des Mime. Beim zwar bösen, aber auch amüsant sein sollenden „Zwerg“, in Gestalt von Peter Marsh (der zwar nichts dafür kann, dass er größer als sein Ziehsohn ist), hätte die körperliche Aktion dafür sorgen müssen, dass er kleiner und verkrümmter erschienen wäre; abgesehen davon, dass er vokal nur eindimensional zu hören war – mit kräftigem Tenor und sehr wortdeutlich, aber wenig Ausdrucksvarianten. – Zu kritisieren wäre vielleicht noch der aus zwei weiblichen Personen bestehende Waldvogel: Anna Nekhames (singend) und eine Statistin (Chris Wang), die ganz unvogelgemäß auf der Bühne umherlief.

Sämtliche anderen Personen waren exzellent geführt und gesanglich von hohem Niveau. Ganz rührend der statierende Knabe, der zu Beginn der Oper Mimes kleinen Ziehsohn Siegfried spielte, ehe dann der singende Titelheld auftrat. Der gebürtige Münchner Vincent Wolfsteiner, dessen sehr beachtliche Erstauftritte in den großen „Ring“-Rollen und als Tristan ich in Nürnberg erlebte, damals noch mit schlanker Figur, hat inzwischen zwar körperlich an Gewicht zugelegt, war aber vokal mit seinem wohlklingenden Heldentenor, sich von Akt zu Akt steigernd, so souverän wie damals schon. Darstellerisch gewann er durch die ebenbürtigen Partner im 2. und 3. Akt an Intensität und Glaubwürdigkeit.

Der Wanderer von Simon Bailey mit seinen langen, hochgesteckten Haaren und der Wanderausrüstung mit Rucksack und Speer war nicht nur stimmlich souverän, sondern er überraschte uns auch mit dem köstlichen Humor, den er in die Rolle investierte, wohl unter Nachhilfe der Regisseurin, die ihn in der Erda-Szene mit Sektgläsern für die Göttin aufwartenließ. Das wurde zu einem theatralischen Höhepunkt des Abends, zumal die erweckte Göttin in der attraktiven Gestalt der Lettin Zanda Svede an ihrer Schlafstätte mit ihrem Mezzo auch wohltönende Beiträge zu dieser erneuten Liebesbeziehung offerierte. Viele Besucher dieser Vorstellung, die diese Szene noch nie so menschlich kennen gelernt haben, bezeichneten die Erda-Szene als Höhepunkt des Abends!

Brigitte Fassbaenders eigene Bühnenerfahrungen sind da natürlich nicht zu unterschätzen. Aber auch nicht ihr Einfühlungsvermögen und Wissen, wie man alle Opernfiguren lebendig werden lässt.

Auch die Erweckung der so lang zum Schlafen verurteilten, dabei aber offensichtlich keinen gesundheitlichen Schaden erleidenden Brünnhilde nahm einen ungewohnten Verlauf. Christiane Libor lag zunächst inmitten der eindrucksvollen Felsenszenerie auf der Vorderbühne, unter einer Art von Ritterrüstung in Form eines Felsbrockens. Als Siegfried zuerst ihre nackten Füßen erblickt, küsst er diese, ehe sich das Götterkind dann zu einer ehrwürdigen Partnerin erhebt und die beiden mit kräftigen Stimmen ihre Zusammengehörigkeit bestätigen. Bravissimo!

Einen Riesen Fafner wie Anthony Schneider in einer Panzer-artigen Ritterrüstung als quasi Kriegszubehör von gewaltigem Umfang an seiner Schlafstätte hat man auch noch nie erlebt. Der „wilde Wurm“ entete den größten Lacherfolg des Abends!

Um zu profaneren Dingen zurückzukehren: Die beiden Pausen waren viel zu kurz, um an den gedrängt vollen, auf engsten Raum beschränkten Buffets auch nur zu ein paar Würsteln oder einem Stück Torte zu kommen. Die Luft inmitten des Tiroler und angrenzenden Bayerischen Hochgebirgslands ist freilich ein Gottesgeschenk. Die Vorstellungen sind wieder ausverkauft, der Zulauf von Wagnerianern nicht nur aus deutschen Landen bleibt beachtlich und – es gibt – bei aller Originalität des im Passionsspielhaus gezeigten Bühnengeschehens keine werkzerstörenden Vorkommnisse.

Sieglinde Pfabigan | 10.07.2023

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Technical Specifications
631 kbit/s VBR, 48.0 kHz, 1.0 GByte (flac)
Remarks
In-house recording
A production by Brigitte Fassbaender (premiere)