Tannhäuser
Erich Leinsdorf | ||||||
Chor und Orchester der Bayreuther Festspiele | ||||||
Date/Location
Recording Type
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Hermann | Hans Sotin |
Tannhäuser | Hugh Beresford |
Wolfram von Eschenbach | Bernd Weikl |
Walther von der Vogelweide | Harald Ek |
Biterolf | Franz Mazura |
Heinrich der Schreiber | Heribert Steinbach |
Reinmar von Zweter | Heinz Feldhoff |
Elisabeth | Gwyneth Jones |
Venus | Gwyneth Jones |
Ein junger Hirt | Walter Gampert |
Der Argwohn kommt schrittweise. In der ersten Pause besteht für die Besucher durchaus noch keine zwingende Notwendigkeit, sich über Diffizileres zu unterhalten als die Annehmlichkeiten des neuen Restaurants mit seinen Terrassen, die Anwesenheit von Udo Jürgens oder die Leutseligkeit, mit der Franz Joseph Strauß die Autogrammwünsche seiner Bewunderinnen erfüllt, allenfalls über die Frage, ob denn das Bacchanal nicht doch zu unerotisch gewesen sei: „Wissen Sie, wenn man selber dabei so ruhig bleibt, dann kann etwas nicht stimmen.“
Zweiter Akt. Der Ort, wo Elisabeth und Tannhäuser sich soeben ihre Liebe gestanden, verwandelt sich. Rings um das Podium werden Fahnen hochgezogen, farbige Streifen; aus den Grundfarben Orange und Schwarz heben sich zwei andere Kombinationen heraus: in der Mitte ein bayerisches Blau mit Weiß, rechts eine Folge von Schwarz und Weiß und Rot und Gold, die Reihenfolge stimmt nicht ganz, aber die Assoziation von gewissen Nationalfarben ist geweckt.
Auf einem vierzehn Stufen hohen Podest, weit über der Zone der Realität also, wird das gesellschaftliche Ereignis, der Sängerkrieg, stattfinden. Zunächst der Einzug der Gäste. Da kommen sie, die Edlen, ihre Auftritte sind protokollgerecht organisiert, Choreographien. Der Herr führt die Dame mit vorgehaltener Hand und in gespreiztem Schreitschritt wie bei Polonaise oder Menuett; sie erweisen, mit Hofknicks und Verbeugung, dem Landgrafen und seiner Nichte die Ehre: ein mustergültig abgezirkeltes, ein gespenstisch steril gewordenes, nur noch dem Klischee verpflichtetes höfisches Ritual, das Zeremoniell (und man erinnert sich jener Szenen einige Zeit vorher, als vor dem Festspielhaus die Prominenz die Prominenz begrüßte) der Dazugehörenden – die Nabelschau einer Gesellschaft, die wenig später ihren wahren Charakter offenbart.
Dann nämlich, wenn jemand – Tannhäuser – aufbegehrt gegen die Regeln und Vorschriften dieser Gesellschaft; wenn jemand nicht länger sich und anderen etwas vormachen, wenn jemand leben, sich selber verwirklichen will und daher aus den Schranken ausbricht – dann hat diese Gesellschaft schnell ein Mittel zur Hand: Polizei erscheint und schützt Ruhe und Ordnung mit aufgepflanztem Bajonett. Und wenn diese Polizei dann aussah wie eine Mischung aus SS und dem Ordnungsorgan irgendeiner osteuropäischen Schutzmacht, dann rief das in Bayreuth einige faschistoide Äußerungen hervor.
Wenn schließlich am Ende der ganzen Oper die Pilger, diejenigen also, die eigentlich allein unter dieser Gesellschaft leiden, ihren eigentlichen Status zu erkennen geben, indem sie zum Schlußchor auf die Bühne kommen gekleidet wie du und ich und der einfache Mann von der Straße (was ja nicht unbedingt gleich Arbeiter und Bauern bedeutet), dann ist eine Festspielgesellschaft empört, brüllt ein wildes Buh und wünscht den Regisseur „zurück in seine Ostzone, wo er hergekommen ist“.
Denn dieser Regisseur – Götz Friedrich, Oberspielleiter an der Komischen Oper Ostberlin und einer der prominentesten Vertreter des „realistischen Musiktheaters“ – hat Richard Wagners „Tannhäuser“ einmal von einer anderen Seite her betrachtet, und die ist so unwagnerisch nicht, denn sie berücksichtigt die Vormärz-Haltung des Komponisten ein wenig mehr. Friedrich versteht diese Oper nicht wie üblich als die Ballade von Verfehlung, Einsicht und Bußfertigkeit eines irregeführten Menschen, nicht als einen Hymnus auf die reine, eher geistige als körperliche Liebe und die erlösende Gnade; er sieht in dem Minnesänger Heinrich Tannhäuser einen Künstler, einen kreativen Menschen, der nur ein Interesse kennt: zu leben und zu arbeiten und mehr zu erfahren über diese Welt, der aber immer wieder an die Grenzen und Tabus stößt, die eine Gesellschaft aufgebaut hat, der Teile dieser Grenzen überwindet und andere nicht.
Dieser Tannhäuser tritt schon während der Ouvertüre auf: ein Zweifelnder, ein vor sich, seinem Beruf und seinem Publikum der Wartburggesellschaft Fliehender; noch trägt er den Mantel der Minnesänger und die Harfe, aber wenn das Venusberg-Motiv erklingt, wirft er das Instrument weg, legt den Mantel ab, flieht in den Venusberg. Der aber ist nicht eine Geographie, keine auf irgendeine geheime Weise betretbare unterirdische Lasterhölle, sondern eine zweite ontologische Schicht, das Unterbewußte, die Wunsch- und Traumwelt eines Menschen, in die er eintaucht, für zehn Sekunden oder zwanzig Jahre.
Und im Bacchanal (Choreographie: John Neumeier) führt nicht Frau Venus ihrem Gast eine erotische Supershow vor, sondern erblickt Tannhäuser die in ihm latenten menschlichen Perversionen, Spielchen mit Kindern und Sadomasochismus, platonische und zum Kult entartete Liebe; janusköpfige Totengerippe tauchen auf, die drei Grazien erweisen sich als Hermaphroditen, und ständig ist Tannhäuser in ein System von Bändern eingefangen, die, mehrfach ihre Position wechselnd, sich ihm wie Wände entgegenstellen – und die doch nichts anderes sind als die Saiten seiner Minnesänger-Harfe – dieses Bild ist, neben dem rituellen Einzug der Gäste, das faszinierendste in dem von Jürgen Rose entworfenen Szenarium.
Der Sängerkrieg: Tannhäuser wird zum Rebell gegen die steril gewordene Kunst- und Lebensauffassung. Sein Entschluß, mit den Pilgern nach Rom zu ziehen, ist kein Akt der Buße: Tannhäuser will erfahren, ob eine normenprägende Instanz, die Kirche mit ihrem Papst, in der Lage ist, über ihren Schatten zu springen und einen Menschen zu absolvieren, der objektiv gegen die Normen verstieß, der aber subjektiv ohne Schuld sein muß.
Sein Experiment muß notwendig scheitern an der Starrheit der Institution. Und so ist Tannhäuser, ist auch Elisabeths Existenz sinnlos geworden, die Gesellschaft läßt sie nicht zueinander. Friedrich zeigt das in einer die Realität überpointierenden Weise: Nach ihrem Gebet kriecht Elisabeth wie ein tödlich getroffenes Tier, das sich in seine Höhle schleppt, nach rechts von der Bühne, und während noch Wolfram, die ganze Absurdität demonstrierend, sein Lied an den Abendstern singt, kriecht von links, sich ebenso hinschleppend, Tannhäuser auf die Bühne – wäre er um die Strophe eines Minnesängerliedes früher erschienen, hätte er Elisabeth noch angetroffen.
Götz Friedrich hat Szenen von außerordentlich starker Aussagekraft formen können, wo kleine Schritte, Armhaltungen, plötzliche Bewegungen eine Welt von Empfindungen freilegen. Aber er hat auch – von der Komischen Oper verwöhnt – erfahren müssen, daß realistisches Musiktheater seine Grenzen findet, und zwar ziemlich schnell dort, wo die sängerische Prominenz die intensive Darstellung zurückstellt hinter die stimmliche Faszination und deren musikalischen Ansprüche.
Tannhäuser: Der Engländer Hugh Beresford hat seine Stärken im ersten und dritten Akt. Wenn er im zweiten sich mit „O Fürstin!“ neben die am Boden liegende Elisabeth wirft und dabei der Ton sich überschlägt, erreicht er damit allenfalls einen Heiterkeitserfolg. Wenn er später gegen die blutarme Liebesauffassung der Wartburggesellschaft aufbegehrt, scheint dies eher aus Naivität denn aus Überzeugung zu geschehen. Die Romerzählung versöhnt jedoch wieder.
Venus und Elisabeth sind identisch: Gwyneth Jones; Ihre Venus ähnelt ein wenig einer Salome, ihre Elisabeth ist – endlich einmal – ein ganz junges Ding, das sich wahnsinnig auf die Rückkehr eines sie liebenden jungen Mannes freut und das durchaus bereit und in der Lage scheint, die vielen Lebensvorstellungen Tannhäusers zu übernehmen. So hinreißend ihre Pianissimi, so bravourös die Ausbrüche sind – ihr Tonansatz sorgt immer wieder für Unbehagen.
Im Ensemble der Wartburggesellschaft annehmbare Stimmen; der Chor hat auch unter dem neuen Leiter Norbert Baiatsch das gewohnte unübertreffliche Format, im Orchestergraben versieht Erich Leinsdorf den Dienst eines versierten Kapellmeisters.
Bliebe noch die „Gnade“ am Schluß: Das „Wunder“, daß der Priesterstab noch einmal grünt und Tannhäuser damit „verziehen“ wird, geschieht nicht. Tannhäuser braucht – zu viel ist inzwischen klar – keine Verzeihung. Statt dessen: Tannhäuser blickt nach oben, sieht ein grünes Licht, hört den Chor der jungen Pilger, seine innere Stimme, und erfährt „seine“ Gnade. Ihm wird bewußt, daß er nicht mit einem Schrei krepieren muß, sondern glauben darf an eine Zeit kommender humaner Toleranz – und so legen die Pilger für den Schlußchor ihre Verkleidung ab, sind Menschen wie du und ich.
Und die Festspielgesellschaft – die derzeitige „Wartburg-Gesellschaft“ – spürt den Affront gegen sich. Das ist wohl das Entscheidende an dieser Inszenierung, daß sie einer im Elfenbeinturm ihrer Ästhetik verharrenden Gesellschaft den Spiegel vorhält.
Eine Frage allerdings ist nicht uninteressant: Wie wäre wohl die Reaktion ausgefallen, wenn statt Götz Friedrich ein westdeutscher Regisseur, ein Günter Rennert etwa, diesen Schluß inszeniert hätte, und wie würde – umgekehrt – das Publikum reagieren, wenn Friedrich diese Inszenierung am eigenen Haus in der Ostberliner Komischen Oper vorzeigte…
Heinz Josef Herbort