Tannhäuser

Christian Thielemann
Chor und Orchester der Bayreuther Festspiele
Date/Location
25 July 2002
Festspielhaus Bayreuth
Recording Type
  live   studio
  live compilation   live and studio
Cast
Hermann Kwangchul Youn
Tannhäuser Glenn Winslade
Wolfram von Eschenbach Roman Trekel
Walther von der Vogelweide Clemens Bieber
Biterolf John Wegner
Heinrich der Schreiber Arnold Bezuyen
Reinmar von Zweter Alejandro Marco-Buhrmester
Elisabeth Ricarda Merbeth
Venus Barbara Schneider-Hofstetter
Ein junger Hirt Evgenia Grekova
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Online Musik Magazin

Heinrich im Spielzeugland

Von Frau Venus hat Tannhäuser genug. Er rafft seine Notenblätter zusammen, und schnipp! wie durch Tastendruck auf eine Fernbedienung entschwebt der Venusberg samt seinem Personal in die Weiten des Alls – Bayreuths Bühnentechnik macht’s möglich. Warum es zu diesem Abschied kommt, ist nicht ganz klar; Venus, eine opulente und leicht hysterische Dame ganz in Rot, und Tannhäuser, ein etwas schwerfälliger Typ im schwarzen Mantel, brüllen sich eine Viertelstunde lang an (und in der hier besprochenen Aufführung mischt auch die Souffleuse kräftig mit), und dann ist eben Schluss. Schade, denn damit entschwindet auch der schönste Bildeinfall der Neuinszenierung von Philippe Arlaud, ein Höhlensystem aus mehrfach gestaffelten schiefergrauen Wänden mit rechteckigen Ausschnitten, in dem sich drei attraktive, leichtbekleidete Damen tummeln, die durchaus geschmackvoll andeuten, dass es irgendwie um sinnliche Liebe zu gehen scheint. Tannhäusers mehrstrophigen Vortrag haben sie sichtlich gelangweilt zur Kenntnis genommen und der Szene dadurch zu einer ironischen Leichtigkeit verholfen, die erfreulich anders ist als die sonst so oft bemühte Bordellatmosphäre.

Tannhäuser sitzt vorn an der Rampe und scheint ähnlich perplex wie das Publikum, wenn der Venusberg einem ringsum mit Modellbahnrasen ausgeschlagenem Tunnel weichen muss, in dem von oben und von unten, von rechts und von links Tausende von Rosen hineinwachsen, und in dem schon bald eine spaßige Jagdgesellschaft herumtollt und mit Schwertern fuchtelt wie mit Regenschirmen, und die fröhlich das erlegte Wild herumzeigt wie Stofftiere. Heinrich Tannhäuser, das große Kind, scheint sich unvermittelt in ein Spielzeugland hineingezappt zu haben, und prompt darf er auch mitspielen, denn diese lustigen Gestalten laden zum fröhlichen Wettsingen ein. Drei Damen gibt es auch wieder, eine nette Parallele zum Venusberg – oder auch nicht, denn die drei stehlen sich gar bald aus der Inszenierung heraus. Die ironische Brechung stimmt inzwischen leicht bedenklich, denn ihren eigentlichen Gegenstand hat die Regie nun schon einen ganzen Akt lang nicht gefunden. Der Ironie fehlt allmählich die Substanz.

Arlaud versucht, dem Tannhäuser eine unpolitische, allgemein menschliche Deutung mitzugeben, und er vermeidet daher nicht nur jedes historische Zitat, sondern ersetzt jeden Anflug von Realismus durch eine abstrahierte Märchenwelt, die den Kern der Fabel offenbaren soll. Den allerdings müsste er auch deutlich machen – aber das gelingt überhaupt nicht, denn in der Personenführung ist auch nicht ansatzweise eine Intention zu erkennen. Die Gäste auf der Wartburg sind putzige Gestalten, lebendige Zinnsoldaten vielleicht, an denen Kostümbildnerin Carin Bartels verschwenderisch mit Phantasie und Geldmitteln umgehen durfte, ohne der hübsch dekorativen Wirkung tieferen Sinn beigeben zu müssen. Inmitten der hörsaalartigen Wartburg schreit ein schräg im Brennpunkt mehrerer auf den Boden gezeichneter Ellipsen stehender Pfeiler dem Publikum förmlich entgegen: ich bin ein Symbol! Aber wofür? Egal, das muntere Treiben, dem der Schwert schwingende Biterolf fast so etwas wie eine Action-Szene verleiht, wird dadurch nicht beeinträchtigt; Elisabeth fällt um, wie immer schon, und Tannhäuser zieht nach Rom. Man könnte meinen, es handele sich um eine Operette von Jacques Offenbach, so oft gerät das Spiel unfreiwillig in die Nähe einer Parodie.

Der dritte Akt ist eine gigantische Beleuchtungsprobe: Jede Minute ein neuer Lichteinfall. So toll und so vielfältig lässt es sich in Bayreuth Licht werden – aber das ist nichts Neues, nur hat die Lichtregie wohl selten so drastisch die Hilflosigkeit eines Regisseurs deutlich gemacht. Das Konzept, wenn denn überhaupt eines zu erahnen war, ist vollends unkenntlich geworden, und mühsam führt Arlaud die Oper mit Stehtheater ihrem (zum Glück verhältnismäßig schnellen) Ende zu, wo die Pilger wie in einer Reminiszenz an Wieland Wagner und den Neubayreuther Stil der 50er-Jahre oratorisch in wallenden Gewändern aufgebaut werden. So endet der Tannhäuser in der totalen Bedeutungslosigkeit.

Hier muss die Musik als Träger des künstlerischen Gedankens einspringen, zumal Christian Thielemann am Pult des Festspielorchesters durch die Regie keine einschränkenden Vorgaben erhält. Und Thielemann versteht es, aus jedem Takt ein kleines orchestrales Wunderwerk zu machen, mit unendlicher Ruhe in den Übergängen, allerhöchster klanglicher Transparenz, atmender Phrasierung und souveräner Disposition der musikalischen Entwicklungen. Unter diesen Gesichtspunkten zählt er schon jetzt zu den ganz großen Dirigenten in der Geschichte der Festspiele – und erhielt trotzdem, nicht ganz zu unrecht, einige Buhs. Einerseits stören doch recht viele unpräzise Einsätze den Gesamteindruck; andererseits fehlt der Musik, die im Klangrausch auf der Stelle tritt, oft die dramatische Entwicklung und wird dadurch in die Nähe des Parsifal gerückt, wobei Thielemann die Charakteristika der Partitur, die ihre Spannung zu großen Teilen aus ihrer Stellung zwischen romantischer Oper und Musikdrama bezieht, überspielt (es ist im Übrigen auch nicht nachvollziehbar, warum er sich für die Dresdner, statt der aufregenderen Pariser Fassung, die Thielemanns Klangzauber doch deutlich besser entsprochen hätte, entschieden hat). Vor allem aber gelingt es ihm nicht, das Sängerensemble in seine Klangvorstellungen einzubinden.

Glenn Winslade in der Titelrolle verfügt über einen warmen und vollen, dabei auch höhensicheren Tenor (der allein zum Schluss des 2. Aufzugs in einen quäkend-weinerlichen Tonfall verfällt), singt aber viel zu undifferenziert seine Partie herunter. Die „Romerzählung“ gerät akzeptabel, ansonsten bleibt der Eindruck blass. Das trifft in noch größerem Maße für die Venus von Barbara Schneider-Hofstetter zu, der an entscheidenden Stellen die Reserven fehlen: Eine ordentliche Stadttheater-Besetzung, die sich noch zu Festspielrang auswachsen muss. Ricarda Merbeth ist eine entrückte Elisabeth, deren Stimme noch am besten mit dem Orchesterklang verschmilzt, der aber ein szenisch-musikalisches Konzept ebenso fehlte wie dem souveränen Roman Trekel in der Rolle des Wolfram. Aufhorchen lässt Kwanchoul Youn als sonorer, aber nicht behäbiger Landgraf; leider neigt er zu überzogen deutlichen Konsonanten und einer allzu braven musikalischen Ausgestaltung – aber da könnte den Festspielen ein Sänger von außerordentlichem Rang heranwachsen. Der von Eberhard Friedrich einstudierte Festspielchor singt zwar gewohnt sicher, aber die überdeutliche Aussprache geht in den Männerstimmen auf Kosten des Klanges, der (im Vergleich zu dem unendlich fein aufgefächerten Orchesterklang) oft ein wenig mulmig ist. Natürlich gehört der Festspielchor nach wie vor zum Besten, was man auf der Opernbühne findet, klangvoll, aber nie lärmend oder dröhnend; er erreicht aber nicht ganz das Niveau früherer Jahre.

Ein herausragendes Orchesterdirigat allein macht noch kein gelungenes Gesamtkunstwerk: Die stimmlich akzeptablen, im musikalischen Ausdruck aber weitgehend ziel- und konturlosen sängerischen Leistungen entsprechen der szenisch-inhaltlichen Leere. Musikalisch hat diese Produktion sicher noch weiteres Entwicklungspotenzial. Szenisch dürfte die derzeit fehlende Personenregie wohl bald schon durch konventionelle Gestik „aufgefüllt“ werden – womit dieser auf Puppenstubenformat zurechtgestutzte Tannhäuser als unaufgeregtes Rampentheater in leidlich dekorativer Kulisse seinen Festspielplatz einnehmen wird.

Stefan Schmöe | Rezensierte Aufführung: 5. August 2002

Rating
(5/10)
User Rating
(3/5)
Media Type/Label
Premiere
Technical Specifications
160 kbit/s CBR, 44.1 kHz, 217 MByte (MP3)
Remarks
Broadcast from the Bayreuth festival
A production by Philippe Arlaud (premiere)