Auf dem Friedhof der Utopie
Alle lieben Tristan. Nicht nur Isolde, nein, auch sein Kumpel Kurwenal, sein Judas Melot, sein König Marke. Und der ist eigentlich ein Langweiler. Sagen selbst hartgesottene Wagnerianer, die jeden Ton des “Tristan” im Schlaf kennen und lieben.
Egal, wie schön Marke seine Klage singt, als Figur bleibt er eindimensional und letztlich, ungeachtet seiner tragischen Größe, uninteressant. Fast immer. Solange dieser Marke nicht René Pape heißt. An der Berliner Staatsoper Unter den Linden, die ihre fünften Festtage jetzt mit dem “Tristan” eröffnete, macht der Bass den passiven, leidenden König zum Zentrum des Stücks. Plötzlich steht da ein leidenschaftlicher Mensch, der, zerrissen von seinen Gefühlen, kaum noch die Fassade majestätischer Noblesse aufrechterhalten kann. Der sich an Tristan klammert und nicht mehr zu wissen scheint, ob er ihn jetzt an sich reißen oder wegstoßen soll. Und dessen Stimme all das widerspiegelt. Pape hüllt den Hörer in einen samtenen Mantel aus purem Wohlklang und entdeckt dabei ungeahnte Kanten und Ecken in dieser Partie, verwandelt seine Auftritte zu einem Drama im Drama.
Deborah Polaski ist Isolde: eine Megäre, eine Penthesilea der Opernbühne, starke Frau und hilfloses Mädchen zugleich, maßlos in ihrer Wut wie in ihrer Liebe. Hart, kalt und grausam in einem Augenblick, verwundbar, beinahe hilflos im nächsten. Doch welche Gefühlstiefen Polaski auch durchmisst: Immer wahrt ein Teil von ihr analytische Distanz, blickt, fast Berghaus-gleich, von außen auf die eigene Geschichte. Und während Tristan den letzten Schritt in die ewige Nacht als Ort der Liebe gedanklich längst vollzogen hat (“Starben wir, um ungetrennt …”), prüft Isolde den Tod noch als theoretische Möglichkeit, die Liebes-Utopie zu verwirklichen: “Stürben wir, um ungetrennt …” Polaskis hochdramatischen Attacken durchschneiden den Raum wie Messer – ohne jemals hart oder forciert zu klingen -, und auch ihre zart verwehenden, doch nachdrücklichen Piani lassen die derzeit amtierenden Isolden blass dastehen.
Bariton Andreas Schmidt entwickelt sich zusehends zum Dr. Jekyll und Mr. Hyde der Szene: Setzt er beim Lied gerne auf Manierismen à la Fischer-Dieskau, so kann er sich in der Oper immer stärker von diesem unbedingten Willen zur hohen Kunst lösen und dramatische, glaubwürdige Figuren aus Fleisch und Blut schaffen. Und dennoch profitiert sein Kurwenal von der klugen musikalischen Gestaltung, von der Fähigkeit zur differenzierten Interpretation.
Siegfried Jerusalem tastet sich als Tristan vorsichtig durch die ersten beiden Akte, singt auf Sparflamme und gerät trotzdem mehr als einmal in gefährliche Nähe zum vokalen Exitus. Im dritten Akt dann die Bayreuth-erprobte Überraschungstaktik: Jerusalem dreht alle Reserven auf, klingt für glückliche Momente um Jahre verjüngt und macht die Einbrüche im Aktschluss I und im Duett des zweiten Aktes beinahe vergessen. Rosemarie Lang spielt Brangäne als Schwester der Gräfin Geschwitz, fixiert Isolde als Objekt ihrer Begierde wie die Schlange das Kaninchen und streitet sich mit Daniel Barenboim um das richtige Tempo. Der Maestro nimmt seinen “Tristan” ungewöhnlich flott, meidet alles Pathos, baut Spannungsbögen klar und durchsichtig. Auch wenn Regisseur Harry Kupfer die Geschichte auf Hans Schavernochs monumentaler Friedhofsstatue eines gefallenen Engels als Begräbnis der Utopie der Liebe zeigt: Das Motto muss geändert werden. Alle lieben Marke. Und solange René Pape ihn singt, sollte die Oper “Marke und Isolde” heißen.
Jochen Breiholz | 18.04.2000