Die Meistersinger von Nürnberg

Daniel Barenboim
Chor und Orchester der Bayreuther Festspiele
Date/Location
25 July 1996
Festspielhaus Bayreuth
Recording Type
  live   studio
  live compilation   live and studio
Cast
Hans Sachs Robert Holl
Veit Pogner Eric Halfvarson
Kunz Vogelgesang Bernhard Schneider
Konrad Nachtigall Roman Trekel
Sixtus Beckmesser Andreas Schmidt
Fritz Kothner Hans-Joachim Ketelsen
Balthasar Zorn Torsten Kerl
Ulrich Eißlinger Peter Maus
Augustin Moser Helmut Pampuch
Hermann Ortel Sándor Sólyom-Nagy
Hans Schwartz Alfred Reiter
Hans Foltz Jon Pescevich
Walther von Stolzing Peter Seiffert
David Endrik Wottrich
Eva Renée Fleming
Magdalene Birgitta Svendén
Ein Nachtwächter Kwangchul Youn
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Die Zeit

Stahlbad, light

Es gießt in Bayreuth. Das hat das Grün so gern, gleich wirkt der Grüne Hügel noch mal so grün. Vor der Auffahrt zum Festspielhaus verteilt ein Grüppchen Studenten grasgrüne Handzettel, streng observiert von einer ungleich größeren Gruppe flaschengrüner Polizisten.

Kultusminister Hans Zehetmair fährt vor, steigt aus und leiht für fünf Minuten sein Ohr den Klagen des akademischen Nachwuchses: Sie wünschen sich, bitte sehr, mehr Professoren für ihre Universität Bayreuth, zumal die Fakultät für Recht und Wirtschaft leide unter den Sparmaßnahmen. Das Flugblatt ist im Ton kommod (“. . . möchte darauf aufmerksam machen, daß dieStellenkürzung zunehmend den Universitätsbetrieb bedroht!”), die studentischen Parolen haben altfränkisches, beinahe nürenbergisch-meistersängerisches Format (“Kaum geschlupft – schon gerupft!”). Da tönt von droben die erste Fanfare, der Minister enteilt.

Auf der Festwiese glänzt hell die liebe Sonne, tausend Eichen (oder Linden?) in frisch geschlüpftem Frühlingsgrün rahmen den dritten und letzten Akt der “Meistersinger von Nürnberg”: Die Baumwipfel sind auf eine spiegelnde, achtzehn Meter hohe Rückwand projiziert, die, in leicht konkav gekrümmten Rastern, die Bühne nach hinten zu abschließt. Ein Glashaus? Ein Globus? Oder gar der Globus als Glashaus? (Mit Solarzellen?) Jedenfalls leuchtet diese Wand nicht nur milde auf das hell-lindgrüne Treiben tanzender Nürnberger Bürgersleut’, sondern tief hinein in den Zuschauerraum, wo auf einmal gleichfalls lauter grüne Männchen und Weibchen traut beisammensitzen. Alles Kinder dieser Erde? Alles Greenpeace? Kunst und Natur, eine Kampffront? Dies freilich ist schon die härteste Denknuß, die uns der Bayreuther Hausherr und letzte lebende Wagnerenkel in dieser seiner dritten (und letzten?) Neuinszenierung der “Meistersinger” zu knacken gibt. Alles übrige bleibt lean und light, ohne Harm und Hintergedanken.

Wolfgang Wagners Regie wird offenbar nur von einer einzigen Idee inspiriert: daß sich ja niemand Böses dabei denke! Nur immer lustig und alaaf! Der Aufmarsch der Zünfte zum großen Finale ist reinster Karneval, volkstanzend ordnet sich grünbuntes Chorvolk wie von selbst zu übersichtlichen Kreisen in archaischem Ritual, zumal Nürnbergs Lehrbuben hüpfen hoch wie die Laubfrösche, sobald sie nur von Ferne im neualten Idiom einmal eine solide punktierte Note trapsen hören. Natürlich sind das nicht die heutigentags verlangten hundertzwanzig beats per minute, doch dafür gibt sich Wagners putzige Wies’n so unbeschwert unpolitisch wie die letzte Berliner Love Parade. Liebe, Friede, Kuchen und Freibier für alle! Sogar Beckmesser, der bedauernswerte Verlierer, der im zweiten Akt grün und blau geprügelt und im dritten von allen ausgelacht wird, er muß sich nicht weinend fortstehlen: er wird zum guten Schluß, herzlich umärmelt vom braven Sachs, mit einbezogen in diesen Rund.

Nun ist das nichts Neues, man hat diese Lesart schon öfters anderswo gesehen. Längst hat die Musikforschung nachgewiesen, daß der bequeme Rückschluß, ein erklärter Antisemit wie Richard Wagner müsse in jeder seiner Opern mindestens einen Juden fressen, falsch ist.

Nicht alle Verräter, Verlierer und komischen Käuze in Wagners Werk sind bösartige Judenkarikaturen, viele kommen anderswoher, aus der Commedia dell’arte etwa, oder aus damals aktueller musikästhetischer Polemik. Der meckernde Schneiderchor beim Festwiesenaufmarsch etwa paraphrasiert keine “mosaische Melodie”, sondern die bekannte Arie “Di tanti palpiti” aus Rossinis Erfolgsoper “Tancredi” – ein gezielter Seitenhieb gegen den “welschen Tand” der italienischen Belcanto-Oper. Und der Nürnberger Stadtschreiber Sixtus Beckmesser, der im langwierigen Prozeß der “Meistersinger”-Komposition erst allerhand Charakterwandlungen durchmacht, um später von Adorno als “Jude im Dorn” entlarvt zu werden, ist bei Lichte besehen nichts anderes als ein phantasieloser, ordnungsliebender Philister, den Wagner selbst später (in Cosimas Tagebuch vom 6. März 1873) neben Sachs (dem Dichter und Denker) und Stolzing (dem romantischen Feuerkopf) als Repräsentanten deutscher Seelenzustände bezeichnete: “. . . mit der ehrwürdigen Pedanterie, dacht ich mir den Deutschen in seinem wahren Wesen, in seinem besten Licht.” In der Tat ist das Deutschtum der “Meistersinger” viel eher noch romantisch verklärt als wilhelminisch gehärtet, und Hans Sachs mindestens ebenso eng mit Meister Raro, Florestan und Eusebius verwandt wie mit Bismarck.

Andreas Schmidt stattet seinen Beckmesser in Bayreuth als sangesseligen Bürger mit aller Fülle des Wohllauts aus. Er meckert und kräht nicht, er singt mit lyrischer Emphase, präzise dosiertem Ausdruck und einem schönen, runden Ton. Eigentlich ist Schmidt von Haus aus Liedsänger wie sein Gegenspieler Robert Holl (Hans Sachs), beide sind Bayreuth-Debütanten, und für Holl ist es überhaupt das erste Mal, daß er in einer Wagnerrolle auf der Bühne steht.

Echte, frisch gekürte Meistersinger also – ein Kunstgriff, der manchmal gut aufgeht, öfters aber nicht. Denn Holl hat zwar genügend Technik und Kraft, seine große Partie bis zum Schluß durchzuhalten, doch nicht die nötige dramatische Beweglichkeit. Da steht er, von der Regie vollends verlassen, als steifer Knickerbockeronkel breitbeinig aufgepflanzt und singt die Ewigkeit an. Auch fehlt noch der Glanz in den hohen Registern. Im Ensemble, im sonoren Kreis der übrigen aufgeplusterten Knickerbockermannschaft ist Holl kaum herauszuhören. Bei den großen Monologen aber findet er ganz zu sich. In der Johannisnacht, allein mit seinen Zweifeln und dem Duft des Flieders, hat dieser Sachs keine falsche Behäbigkeit mehr – sein “Wahn”-Monolog in der Schusterstube glückt so zärtlich eingedunkelt, so fremdartig aus der Welt, wie man ihn selten hören kann – wie er aber allerdings wohl gemeint und von Wagner auch vorgeschrieben war: aus dem Pianissimo anhebend, “sehr weich”, “sehr ausdrucksvoll” . . .

Und das berühmte Stahlbad im Meistersinger-C-Dur? Daniel Barenboim jagt das Festspielorchester so fix durch die Ouvertüre: Ehe man sich’s versieht, ist das dicke Ende schon vorbei. Die Pauken haben nicht gedonnert, das Blech hat nicht triumphiert. So mancher traditionsbewußte Wagnerianer mag da schon unruhig werden. Leider, später im Laufe des Abends wird Barenboim der selbstverordnete Furor zum Verhängnis

. Sein Orchester deckt die Sänger zu (was ist mit der legendären Bayreuther Akustik los?), die wüste Prügelfuge geht ihm um Haaresbreite ganz und gar aus den Fugen. Doch dafür ist das Vorspiel zum dritten Akt von köstlich zerdehnter Agogik und Süßigkeit. Und die Ensembleszenen in der Schusterstube, das kontemplative Quintett, angeführt vom lyrischen Evchen (Renée Fleming) und überwölbt vom unentwegt unerschütterlich stählernes Forte strahlenden Junker Stolzing (Peter Seiffert) geraten rührend, wie meist. Diese Nummer ist der stärkste Sympathieträger der Oper. Andererseits: Daß Seiffert am Ende den donnerndsten Beifall bekam und nun in Bayreuth als erster Publikumsheld gefeiert wird, zeigt deutlich an, worauf der Geist dieses Hauses am wenigsten Wert liegt: auf die Zwischentöne.

Eigentlich sollten die “Meistersinger” eine Art Satyrspiel auf den “Tristan” werden: “leicht und populär” (träumte sich Wagner).

Es ist ihm, wie man weiß, nur teils gelungen, und die Nachwelt hat darin lieber etwas Schweres, Deutsches gesehen deutsch (wie Nietzsche so schön schrieb) “im besten und schlimmsten Sinn des Wortes, etwas auf deutsche Art Vielfaches, Unförmliches und Unausschöpfliches”.

Ein wenig von der musikalisch intendierten Leichtigkeit hat Barenboim in seiner gewagten neuen “Meistersinger”-Interpretation wieder freigelegt. Doch von der Vielfältigkeit des Stücks ist das höchst einfältige Regiekonzept Wolfgang Wagners so erschreckend unbeleckt, daß man dem Bayreuth-Prinzipal verbieten sollte, noch einmal selbst zu inszenieren – im Interesse seines Hauses. Überall in den Stadttheatern der Republik gibt es längst theater- oder zeitgemäßere, spannendere “Meistersinger”-Inszenierungen zu sehen (am spannendsten derzeit: die von Götz Friedrich in Berlin). Überhaupt gibt es inzwischen, wie Urenkelin Nike Wagner vor Jahr und Tag polemisch bemerkte, nicht in Bayreuth “die besseren Wagneraufführungen, sondern woanders.

Das ist das Problem.”

Bayreuths Problem ist: Es ist überflüssig. Über Wagners Aktualität, Schuld oder Sühne, um die Sache der Musik und deren Fortbestand wird heute anderswo verhandelt, da, wo gekürzt wird, wo das Geld fehlt. Bayreuth ist nur ein toter Ast, mit Mehltau bestäubt. Grün umgürtet von der deutschen Polizei und gut abgestützt vom Geldsegen der Sponsoren.

Eleonore Buening | 2. August 1996

Rating
(6/10)
User Rating
(3/5)
Media Type/Label
Premiere, CA, OA, HO
Technical Specifications
668 kbit/s VBR, 44.1 kHz, 1.2 GByte (flac)
Remarks
Broadcast from the Bayreuth festival
A production by Wolfgang Wagner (premiere)