Die Meistersinger von Nürnberg

Christian Thielemann
Chor und Orchester der Bayreuther Festspiele
Date/Location
25 July 2001
Festspielhaus Bayreuth
Recording Type
  live   studio
  live compilation   live and studio
Cast
Hans Sachs Robert Holl
Veit Pogner Guido Jentjens
Kunz Vogelgesang Bernhard Schneider
Konrad Nachtigall Alejandro Marco-Buhrmester
Sixtus Beckmesser Andreas Schmidt
Fritz Kothner Hans-Joachim Ketelsen
Balthasar Zorn Arnold Bezuyen
Ulrich Eißlinger Peter Maus
Augustin Moser Helmut Pampuch
Hermann Ortel Sándor Sólyom-Nagy
Hans Schwartz Alfred Reiter
Hans Foltz Jyrki Korhonen
Walther von Stolzing Robert Dean Smith
David Clemens Bieber
Eva Emily Magee
Magdalene Michelle Breedt
Ein Nachtwächter Attila Jun
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Reviews
Online Musik Magazin

Lehrstück von spitzbübischer Biederkeit

Vorab: Wir vermögen nicht die Schärfe der Verurteilung nachzuvollziehen, die aus der überwiegenden Mehrzahl der Kritiken zu uns sprach. Daher gestatten wir uns hier einige Ausführlichkeit an Detailbeschreibung, ohne die unser kaum geteiltes Urteil kaum verständlich wäre. Wenngleich man von den Festspielen gerne auch Größeres und vor allem sehr viel Mutigeres erwartet hätte, so zeigte sich doch auch hier der veritable Versuch einer Annäherung aus heutiger Sicht, die im weitgehenden Verzicht auf überreiche Ornamentik dem Wesen der Dicht- und Singekunst nachspürte – und damit allerdings allzusehr auf der unkritischen Immanenzebene verharrte. Die Inszenierung liefert auch weiterhin keinen genial-neuen Interpretationsansatz, wiewohl sie sich veritabel der Aufgabe stellt, mit neuzeitlichen Stilmitteln eine Werkauslegung für die Gegenwart zu erbringen, die mit der Leistung unserer Stadttheater allemal mithalten kann und den besonderen Adel von Bayreuth eher im musikalischen Gebiet erwirbt. Also: Ohren weit auf, Augen nicht zu!

Geradezu schlüsselhaft für die Interpetation steht das Changieren des im Bühnenbild immer wieder präsenten kosmischen Gitternetzes zwischen konvexer und konkaver Krümmung, welches die Projektionsfläche jener Bilder abgibt, die in bescheidenem Detail einen ganzen Himmel voll Bedeutung einfangen.

Während des ersten Aufzugs sehen wir altkirchliche Wandmalereien, die gut und gerne aus dem Inneren der Katharinenkirche stammen könnten; im zweiten Aufzug ist es jenes unentwirrbare Geflecht von verschachtelten Rotschieferdächern, welches ein Nürnberg konstituiert, das gänzlich ohne Burg und Türme auskommt. Ganzer zweier Häuser bedarf die nächtliche Gasse, deren schräg gebogenen Wände die Krümmung des Himmels jener kleinen geschlossenen Welt aufgreifen und in ihrem surrealen Zuschnitt gut aus einem alten Stummfilm stammen möchten. Erspart bleiben uns so die bei Meistersinger-Inszenierungen auch in allerjüngster Gegenwart immer wieder anzutreffenden peinlichen Historisierungen, die Nürnberg als Kulisse mit Nürnberg als Substanz verwechseln.

Kernfrage des Gelingens einer jeden Interpretation ist die Gestaltung der Rolle des Merkers. Beckermesser als die eigentlich tragische Gestalt bleibt noch nach seiner Teilniederlage unter der Pognerin Fenster stets beweglich und agil, so dass selbst die Festwiesenkatastrophe ihn nicht untergehen lässt; ein wahrer Meister überlebt auch dies. Beckmesser kehrt zurück – und nicht an den Katzentisch!

Hier erscheint er nun ebensogut als Intelektueller wie aber auch Kothner neben ihm. Seine Sternstunde schägt ganz unzweifelhaft am Ende des 2.Aufzuges, wo er nach Abzug des unbedarften Nachtwächters unter Evas Fenster innehält und wie zur abschließenden Vollendung seines Ständchens romeohaft den zerbeulten Hut schwenkt… Auch seine Pantomime im 3.Aufzug bei Betreten der Schusterstube bis zur Auffindung der Mitschrift Sachsens von Walters Weise nimmt präzise Bezug auf die Klänge aus dem mystischen Abgrund und belegt glaubhaft die ebenbürtige Meisterschaft Andreas Schmidts als Sänger wie als Darsteller. Glaubhaft ist am Ende jene Versöhnung, die das leicht spießige Herumreichen des Lorbeerkranzes beendet: Diesen will auch Sachs nicht auf dem Haupt behalten und steckt ihn, Beckmessern umarmend, als Krone auf die Spitze der Fahne der König-David-Zunft: Der Harfenhirte als Prototyp des deutschen Meisters!

Die Inszenierung hätte es sich angelegen sein lassen können, stellenweise noch mutiger vom Realismusgebot ihrer Vorlage abzuweichen und beispielsweise Schusterstube oder Alt-Nürnberg-Gasse ganz dranzugeben. Doch auch ohnedem wurde in gut reduktionistischer Manier die Enge der Handwerkswelt wesensgemäß eingefangen, wenn durch die ganze Länge des 1.Teils des 3.Aufzugs eine betont winzige weiße Kammer mit weißem Interieur vor weißer Tapete die Aufmerksamkeit ganz auf die hier verkündeten Welteinsichten von der treibenden Kraft des Wahnes lenkt und zugleich einen scharfen Kontrast konstituiert zu jenem Bühnentotal, das sich beim Anblick der Festwiese präsentiert.

Stolzing hat uns schon in der Choralszene allzu aufdringliches Gestöre und Gewinke erspart, und den Tumult bei seinem Probelied vermag Wolfgang Wagner auch dahingehend zu strukturieren, dass nicht allein Sachs sondern auch die beiden Kollegen mit den Vogelbezeichnungen Nachtigall und Vogelgesang bemüht sind, Stolzings weiterem Vortrage zu folgen. Das freilich hindert sie nicht, bei der Schlussabstimmung genauso die Daumen zu senken.

Das Prinzip Glaubwürdigkeit waltet auch weiterhin, wenn Beckmesser zwar nicht eben jugendlich, aber doch allemal jung genug erscheint, um die Werbung ernstgemeint erscheinen zu lassen. Als im weißen Schlafgewand die ersten Nachbarn passiv staunend auftauchen, ist es erkennbar Sachs, der das Gewimmel auslöst und weiter anfeuert, um sich sogleich abwartend zurückzuziehen. Der Charme der Inszenierung liegt nun darin, den Tumult als innergesellschaftliche Gewalt erkennbar zu machen, ohne dessen Darbietung ausufern zu lassen; denn auch dies gelingt mit einigen Andeutungen. Selbst David darf Beckmesser nicht übermäßig rupfen, und dessen Klage bei Sachs am Folgetag: “Gar auf mein Leben /war’s angegeben” sagt mehr aus über seine Empfindlichkeit als über das tatsächliche Geschehen. Sachs bleibt bis zum Schluss Herr des Verfahrens: Er holt David herein, bevor der es übertreibt; er fängt den Entführer en passant und ist noch aktiv in der Beobachtung von Beckmessers zerknittertem Abgang, als alle Fenster längst wieder dunkel sind.

Leider wird die Chance einer so großen Bühne vertan, die Prügelfuge in ihrer musikalischen Struktur sichtbar zu machen wie auch die Dialoge am Rande – beispielsweise des auf seine Fluchtchance wartenden Liebespaares – aus ihrem Schattendasein heraus- und in das Gesamt-Geschehen hineinzuholen.

Als sich der Vorhang zur Festwiese wieder öffnet, während dessen Schließungsminuten im Publikum ein Gemurmel abging, das man vielleicht in Lüdenscheid vermutet hätte und dass im Festspielhaus vollkommen deplaziert wirkte, findet man sich endgültig in der Entstehungszeit der Oper wieder und findet weniger den mittelalterlichen Markt als ein kostümiertes Bürgerfest des XIX.Jahrhunderts mit überbordend wildem Treiben und Riesengesamtgeschunkel. Weniger wäre hier sicher mehr gewesen.

Keinesfalls unerwähnt bleiben darf das vielbeschworene Chorwunder von Bayreuth, welches schon im Eingangschoral aufmerken und spätestens bei “Wacht auf!” den Atem stocken ließ. Solch eine Fülle und Pracht bei perfekt ausgewogener Stimmgewichtung!

Bei den SängerInnen ist durchgängig hohes Lob angemessen: Robert Holl war gutmütiger Übervater und strippenziehender Wahnlenker zugleich und zeigte lediglich gegen Ende Konditionsschwierigkeiten. Robert Dean Smith brachte ideal den jugendhaften Elan dessen zum Ausdruck, der seine neue Position erst noch finden muss und dabei stimmliche Kraft und füllige Präsenz ohne den hier unangebrachten Stahlglanz zu erzeugen vermochte, bei dessen Liedern – vor allem der 3.Bar in der Schusterstube – der Himmel aufging. Clemens Bieber als David traf geradezu idealtypisch den jugendlichen Ton ohne knabenhaftes Genecke, und Hans-Joachim Ketelsen erging sich köstlich als Fetischist der Geschäftsordnung und Obervereinsmeier in bemerkenswerter Präsenz und Präzision als Sänger und noch mehr als Schauspieler. Andreas Schmidts Widergabe des Stadtschreibers haben wir bereits oben gewürdigt. Emily Magee verkörperte glaubhaft “das thör’ge Kind” wie auch die höhere Tochter im schürzenfreien Gewand; mit geradezu ätherischer Zartheit eröffnete sie das Schusterstubenabschlussquintett. Michelle Breedt als Magdalene bot das passende Pendant an Diesseitigkeit, wenn auch eher als gleichaltrige Freundin denn als Amme. Auch sie erfüllte vortrefflich die Forderungen ihrer Partie und gestaltete eine bemerkenswert selbstbewusste Magd. Ein umfassendes Lob geht an alle DarstellerInnen nichtdeutscher Muttersprache für vortreffliche und akzentreine Aussprache!

Das Orchester schien bisweilen zu vergessen, dass genau hier im Bayreuther Graben der Ort sei, wo fortissimi voll ausgefahren werden dürfen.Da wäre gerne noch etwas mehr erlaubt gewesen. Ansonsten nahmen die InstrumentalistInnen bereitwillig die Vorgaben auf. Christian Thielemann kostete es sichtlich aus, in den Vor- und Zwischenspielen auf keine SängerInnen Rücksicht nehmen zu müssen und gönnte sich und uns erhebliche Dehnungen und Zwischenfermaten. Durch breite Akzente mit überraschenden und reichlichen Wechsel der Tempi setzte er ungewöhnlich scharfe Konturen, auch wenn der Scherzoteil des Vorspieles etwas überflott geriet. Große Homogenität im Gesamtklang, zusätzlich unterstützt durch die einzigartige Akkustik des Festspielhauses, schufen dennoch keinen Einheitsbrei – Bayreuth at ist best!

Eine rundum gelungene Aufführung eines generell guten doch für Bayreuth etwas zu bescheidenen Interpretationsansatzes, für den sich zwar niemand schämen muss, der aber doch die Notwendigkeit eines forscheren Ansatzes im Neubeginn angemessen unterstreicht.

Ralf Jochen Ehresmann | rezensierte Aufführung: 14. August 2001

Rating
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User Rating
(4/5)
Media Type/Label
FKM
Technical Specifications
320 kbit/s CBR, 44.1 kHz, 633 MByte (MP3)
Remarks
Broadcast from the Bayreuther Festspiele
A production by Wolfgang Wagner (1996)