Die Meistersinger von Nürnberg

Philippe Jordan
Chor und Orchester der Bayreuther Festspiele
Date/Location
25 July 2017
Festspielhaus Bayreuth
Recording Type
  live   studio
  live compilation   live and studio
Cast
Hans Sachs Michael Volle
Veit Pogner Günther Groissböck
Kunz Vogelgesang Tansel Akzeybek
Konrad Nachtigall Armin Kolarczyk
Sixtus Beckmesser Johannes Martin Kränzle
Fritz Kothner Daniel Schmutzhard
Balthasar Zorn Paul Kaufmann
Ulrich Eißlinger Christopher Kaplan
Augustin Moser Stefan Heibach
Hermann Ortel Raimund Nolte
Hans Schwartz Andreas Hörl
Hans Foltz Timo Riihonen
Walther von Stolzing Klaus Florian Vogt
David Daniel Behle
Eva Anne Schwanewilms
Magdalene Wiebke Lehmkuhl
Ein Nachtwächter Georg Zeppenfeld
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Abendzeitung

Premiere von Wagners “Die Meistersinger von Nürnberg”

Theodor W. Adorno hat in seinem “Versuch über Wagner” behauptet, alle die Zurückgewiesenen im Werk des Komponisten wie Mime, Klingsor und Beckmesser seien eigentlich Judenkarikaturen. Dann schlägt der Philosoph einen psychologischen Haken: Letztlich seien es heimliche Selbstporträts, wie Wagner sich “selbst mit Schrecken inneward”.

Barrie Koskys Neuinszenierung der “Meistersinger von Nürnberg” bringt diese These zur Bayreuther Eröffnung auf die Bühne des Festspielhauses. Am Ende des zweiten Akts, wenn es in der Prügelszene spukt, wird ein riesiger Komponisten-Kopf mit Hakennase, Schläfenlocken und Davidstern-Kippa aufgeblasen. Dazu laufen kleinere Ausgaben der Figur über die Bühne, während Beckmesser hinter einem Wagner-Porträt verprügelt wird.

Was bringt das? Nicht viel. Der “Versuch über Wagner” erschien 1952. Über die Frage, ob Wagners Antisemitismus auch sein Werk betreffe, wurde noch vor 20 Jahren heftig gestritten. Heute ist das Thema auf dem Grünen Hügel gepflegte Pausenkonversation. Es gibt Antisemitismus in Deutschland, aber nicht mehr auf dem Grünen Hügel. Ein australischer Jude als Regisseur ist da mehr ein Sahnehäubchen. Die Wirkungsgeschichte wurde im Festspielhaus schon in Katharina Wagners “Meistersingern” und 2008 in Stefan Herheims “Parsifal” mitinszeniert – mit mehr Mut zum persönlichen und ästhetischen Risiko.

Kosky beginnt ziemlich furios in Wahnfried. Wagner spielt da mit Cosima, Franz Liszt und dem Münchner Generalmusikdirektor Hermann Levi die “Meistersinger” nach. Beim Choral wird Levi vom Komponisten zum Niederknien gezwungen – eine Anspielung auf das Katz- und Maus-Spiel um die Taufe, zu der Wagner den jüdischen Dirigenten vor der Uraufführung von “Parsifal” nötigen wollte. Wagner gibt natürlich den Sachs. Cosima ist die Eva und Levi wird widerstrebend zum Beckmesser gemacht. Lehrbuben und Meister tragen opulente Kostüme der Dürerzeit. Sie hampeln mit viel Zappelkomik durch den ersten Akt, bis Wahnfried im Bühnenhintergrund verschwindet. Der Rest spielt im Saal der Nürnberger Prozesse. Das bleibt eine steile These. Wagner muss sich nicht rechtfertigen, er wird nicht vor Gericht gestellt.

Kosky inszeniert die gute alte Komödie, hin und wieder ein bisschen schmerzhaft, wenn Sachs und Beckmesser aneinandergeraten, aber ohne den in Interviews versprochenen schwarzen Humor und und den Lubitsch-Touch. Die brave Bühnen-Routine wird vom besten Sachs und dem besten Beckmesser seit vielen Jahren aufgewogen. Michael Volle singt den Schusterpoeten mit der sonoren Autorität eines Liedinterpreten: ungemein farbig, mit unerschöpflicher Kraft und letzter Finesse in den Monologen. Und er verleiht der Figur einen durchaus sympathischen Blues aus Schmerz und Selbstkritik.

Johannes Martin Kränzle könnte womöglich auch den Sachs singen. Sein Beckmesser ist keine Karikatur, sondern ein würdiger Herrn mit grauem Vollbart. Dazu gibt es einen kernig singenden Pogner (Günther Groissböck). Das famose Trio umgibt ein ähnlich gutes Ensemble: Klaus Florian Vogt nimmt mit seiner durchdringenden Kraft für sich ein. Das Timbre bleibt Geschmacksache – mehr Charakter- als Heldentenor. Und es wäre schön, wenn er sich zu einem deutschen Belcanto bequemen würde, wie ihn sein überragender Kollege Daniel Behle als David kultiviert.

Diese “Meistersinger” tun niemandem weh

Was man sich bei der Besetzung der Eva mit Anne Schwanewilms gedacht haben, bleibt ein Rätsel: Diese Stimme ist für die Rolle überreif und macht das Quintett zur Qual. Philippe Jordan dirigiert die “Meistersinger” als Spieloper. Das passt am Anfang nicht zum prononciert deutschen Sound des Festspielorchesters. Anfangs war der Klang öfter aus der Balance, die Bläser spielten oft wie hinter einem Vorhang. Aber das sind Probleme, die alle Bayreuth-Debütanten haben. Ausbuhen muss man den Dirigenten, wie am Premierenabend geschehen, dafür nicht. Bei der Festwiese stürmt das Volk fahnenschwenkend den Gerichtssaal. Es geht ziemlich derb zu. Beckmesser bleibt beim “Wach auf”-Chor versehentlich sitzen, weil er den Text des Preislieds memoriert. Das berühmt-berüchtige Pathos der feierlichen Generalpause wird so gebrochen.

Die Schlussansprache richtet Sachs als Wagner ins Publikum. Volle singt sie ohne jedes dröhnende Pathos wie einen Amfortas-Monolog: finster, schmerzhaft, am Deutschsein leidend. Dann fährt die Wand hoch. Ein komplettes Symphonieorchester samt Chor erscheint auf der Bühne und der Meister dirigiert den Schluss konzertant. Wollte Kosky die Zivilisierung germanischen Wesens von Wahnfried über die Nürnberger Prozesse zum öffentlich-rechtlichen Weltkulturerbe der deutschen Orchesterlandschaft erzählen? Dann hätte er zwischendrin deutlicher werden müssen.

Diese “Meistersinger” sind ein mit Riesenbeifall und Getrampel aufgenommener Konsens-Wagner für Landtagsabgeordnete, die einmal im Jahr zur Festspieleröffnung in die Oper gehen. Ein paar Amerikaner wundern sich vielleicht noch darüber, wie demokratisch wir heute sind. Sonst keiner. Und so muss man leider konstatieren: Kosky tut er niemandem weh. Das ist ziemlich langweilig.

Robert Braunmüller | 26.07.2017

nmz.de

Von der Villa Wahnfried zu den Nürnberger Prozessen: Barrie Koskys „Meistersinger“-Inszenierung eröffnete den Bayreuther Premierenreigen

Als „erster jüdischer Regisseur in Bayreuth“, so Barrie Kosky, hatte er sich zunächst nur schwer dazu durchringen können, „Die Meistersinger von Nürnberg“ zu inszenieren. Dann aber hatte der Chef der Berliner Komischen Oper einen sehr originellen Interpretationsansatz gefunden, von Wagners Salon-Weihfestspielen in der Villa Wahnfried bis zu den Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozessen. Das witzige, bisweilen optisch verstörende Konzept, musikalisch gestützt durch eine überaus eigenwillige Interpretation von Philippe Jordan, machte den offiziellen Eröffnungsabend der Bayreuther Festspiele zu einem gefeierten Triumph.

Noch bevor die Ouvertüre einsetzt, wird der Zuschauer, wie im Stummfilm, durch Texteinblendungen an der Hand genommen und in das Jahr 1875 transportiert, als Richard Wagner gerade seine zwei großen schwarzen Hunde spazieren führt, während Cosima mit Migräne danieder liegt und sowohl der Besuch von Franz Liszt als auch der von Wagners „Parsifal“-Dirigent Hermann Levi erwartet werden. Dann entwickelt sich das szenische Vorspiel wie in einer Boulevard-Komödie äußerst turbulent: Immer mehr Vervielfältigungen des Komponisten mit seinem charakteristischen Barett entsteigen der Untiefe des Konzertflügels und füllen den Raum Wahnfrieds als Gästeschar zu einer häuslichen Aufführung der „Meistersinger“. Wagner leitet den Königlichen Kapellmeister seines Förderers Ludwig II. an, das Werk zu dirigieren. Dabei wird Levi von Wagner und Cosima gequält und verlacht, zwangsintegriert in eine pseudochristliche Darbietung der „Meistersinger“-Eröffnungszene, wobei der Chor in der Katharinenkirche aus dem Off ertönt.

Wagner und Cosima schlüpfen in die Rollen von Walther von Stolzing und Eva Pogner und eines der Wagner auch sexuell dienstbaren Hausmädchen übernimmt die Rolle der Magdalene. Eine Schar mittelalterlich gewandeter Lehrbuben quirlt für deren Einsätze jeweils durch das Mittelportal in den Raum und singt dann wild gestikulierend, um sogleich wieder zu verschwinden. In seiner Opernhandlung hat der Komponist sich bekanntlich selbst aufgespalten in die Rolle des gefeierten Meisters Hans Sachs und des avantgardistischen Newcomers und künstlerischen Quereinsteigers Walther von Stolzing. Und so sind – wie auch in der Handlung von Wagners komischer Oper – beide hinter Eva, bzw. hier hinter Cosima her. Der jüdische Dirigent Hermann Levi muss die Rolle Beckmessers verkörpern, und aus Gemälden, unter anderem von Richard und Cosima, wird das Geviert des Gemerks gebildet.

Der erste Aufzug geht als turbulente Komödie mit hinreißender Personenführung auf: mehr als einmal werden die Lachmuskeln gereizt, das rhythmische Mauscheln der Meister bei den Koloraturen von Kothners Tabulatur-Vortrag löst laute Lacher im Publikum aus. Koskys szenisch überbordende Regie erreicht das Publikum, das nach dem ersten Aufzug seiner Begeisterung mit Trampeln Ausdruck verleiht.

Ab dem zweiten Aufzug setzt dann die von Brecht geforderte Spaltung des Publikums ein, obgleich bereits am Ende des ersten Aufzugs ein Cliffhanger darauf hingewiesen hatte, dass es wohl nicht bei der häufig diskutierten Frage bleiben würde, ob Beckmesser eine Juden-Parodie sei: Wahnfried wird in die Bühnentiefe hinweg gefahren, und Wagner steht alleine vor dem personenentleerten Tribunal der Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozesse, mit den vier Fahnen der Siegermächte und einem GI als Bewacher.

Im zweiten Aufzug ist der Boden von Rebecca Ringsts historischem Innenraum mit einer Rasenfläche ausgelegt, das Rednerpult wird zum Versteck „unter der Linde“ und Hans Sachs rückt zwei Polstermöbel aus Wahnfried auf die Wiese. Bei der durch Beckmessers Ständchen vor Evas Fenster ausgelösten nächtlichen Prügelei dreht sich die beleuchtete Normaluhr plötzlich rückwärts, die Rasenfläche wird hochgezogen und auf dem Parkett muss der mit einem jüdischen Schwellkopf bestückte Beckmesser tanzen, bevor er unter einem Wagnergemälde verprügelt und getreten wird.

Der Schwellkopf-Tanz erscheint als eine Hommage an Katharina Wagner, die in ihrer vorangegangenen „Meistersinger“- Inszenierung Schwellköpfe verwendet und erstmals auf der Bayreuther Bühne die Frage politischer Folgen von Wagners Antisemitismus thematisiert hatte. Bei Kosky wird zur Musik des Mondaufgangs über der Szenerie des nächtlichen Nürnberg eine plastische Replik eines dem Betrachter Angst einflößenden Judenkopfes aufgeblasen und schwebt im Gerichtssaal, das Zerrbild des „Jud Süß“ im NS-Film.

Mit dem wiederholt angewandten Brecht’schen Mittel projizierter erläuternder Texte ist vor dem dritten Aufzug von einer Kriegslist der NS-Flieger gegen britische Kampfflugzeuge unter dem Decknamen „Schräge Nachtmusik“ zu lesen; das scheint – mit Mozart-Bezug – dann doch etwas weit hergeholt.

Auch der dritte Aufzug spielt in der Halle der Nürnberger Prozesse, mit leeren Anklage- Verteidigungs- und Angeklagtentribünen. An der rampenparallelen Protokollanten-Tafel hat Sachs soeben ein spätes Dinner eingenommen. David muss sein Sprüchlein im Anklagestand vortragen, und Sachs erklärt Walther die Regeln des Meistergesanges am Tisch der ausländischen Journalisten und Protokollanten des NS-Kriegsverbrecher-Prozesses. Beckmessers Pantomime integriert seine Vision von fünf zwergwüchsigen Rabbis, die ihn im Anklagestand (als Mittäter?) herunterdrücken. Real quält Sachs den Merker, indem er auf dessen verbundene Wunden drückt, doch der tritt ihm dann mächtig auf den Fuß. Die Taufe von Walthers neuer Weise beginnt als komödiantisch gebrochene Formalität am Tisch, für das Quintett verteilen sich die Personen im Raum.

Nachdem sich der Zwischenvorhang wieder geöffnet hat, ist der Gerichtssaal kaum noch zu erkennen, so angefüllt ist er mit einer Volksmenge in mittelalterlichen Kostümen, doch keine Zünfte sind auszumachen, und auf eine Darstellung der in den Zunftchören besungenen Episoden aus der Nürnberger Geschichte wird verzichtet. Allerdings werden Fahnen geschwenkt. Anstelle der Mädeln von Fürth strahlt jener Spot, der im zweiten Aufzug auf den tanzenden Beckmesser gerichtet war, nun auf das Rednerpult des Angeklagten, in welches David Lenbachs Cosima-Gemälde hievt; das wird dann von David in Wagner–Outfit (Kostüme: Klaus Bruns) befingert und von weiteren Wagners unterschiedlicher Größe geküsst.

Laut beklatscht das Volk jeden einzelnen Auftritt der Meistersinger rhythmisch, nur Beckmesser erhält keinen Beifall. Nachdem David im zweiten Aufzug Beckmessers Mandoline mit Hammerschlägen zerstört hatte, begleitet dessen Preislied – auch dies ein Novum – nun auf der Szene sichtbar die Harfenistin des Festspielorchesters. Die Beckmesser-Harfe und ihre Interpretin verschwinden nach dem Durchfall dieses Vortrags, während Beckmesser von Lehrproben abgeführt und offenbar durch ein Fenster auf die Straße geworfen wird; doch dieser (Nürnberger, nicht Prager) Fenstersturz erfolgt diskret auf der rechten Seite, für ein Gros des Publikums nicht sichtbar – denn Kosky hatte versprochen: „Kein Hakenkreuz und keine toten Juden!“

Bis zum „Wach auf!“-Chor hatte sich die Normaluhr wieder in rasantem Tempo rückwärts gedreht. Nach Walthers Preislied werden die Tribünen herausgefahren, das Volk räumt den Ort und dessen Interieur, Sachs erzählt seine Schlussansprache, vom Anklagepult aus alleine dem Publikum im Zuschauerraum. Dann heben sich, für die chorische Wiederholung seiner Forderung „Ehrt eure deutschen Meister!“ die Wände des Gerichtssaales und eine Tribüne mit schwarz gewandeten Choristen als einem kompletten Sinfonieorchester mit Instrumentenattrappen und einem dahinter positionierten Konzertchor singt unter Richard Wagners Dirigat das hymnische C-Dur-Schlussensemble.

Barrie Koskys Konzept wird von Philippe Jordan merklich getragen. Der junge Dirigent musiziert Wagners stark kontrapunktische Partitur sehr durchsichtig, als eine Komödien-Light-Version. Besonders auffällig sind dabei eine Reihe von Pausen, die hier zu Generalpausen ungeahnten Ausmaßes gedehnt sind, wie der Hörer solchen sonst nur im Gralsakt des „Parsifal“ begegnet: Einschnitte, wie nach Walthers zweitem Stollen seiner Preislied-Version in der Schusterstube quasi als Denkpausen.

Deutlich neu gewichtet sind die Ensembles, etwa indem Franz Liszt/Pogner (Günther Groissböck) beim Ensemble nach Walters Festwiesen-Preislied, hörbar herausgehoben, allein an der Rampe positioniert wird. Grundlegend neuartig ist nicht nur die Darstellung sondern auch die gesangliche Ausdeutung der Partie des Hans Sachs durch Michael Volle, mit vielen Zwischentönen und konterkarierenden dialektischen Schattierungen. Ebenbürtig an eigenwilliger Gestaltung der Partie bis hin zum fast unverständlichen Gemurmel bei seinem Preislied ist der Beckmesser von Johannes Martin Kränzle.

Spielastisch überbordend gestaltet Daniel Behle den David als ein weiteres Alter Ego des Komponisten, wobei dessen Aufzählung der Weisen hier als Düfte aus einer Parfüm-Kiste Richard Wagners gedeutet werden. Im Spiel ungewöhnlich dominant ist Wiebke Lehmkuhl als Magdalene. Klaus Florian Vogt singt den Walther als jungen Wagner-Heißsporn mit voluminös verbreiterter Mittellage aber sehr enger Höhe. Als Fehlbesetzung erweist sich Anne Schwanewilms als eine zwar zumeist jugendlich herumhüpfende, doch in Maske und französischem Kostüm die ältere Cosima verkörpernde Darstellerin. Die fünf Kinder Cosimas kommen hier allerdings nicht ins Spiel. Die Stimme der Sopranistin scheitert am dramatischen Ausbruch in der Schusterstube, und so empfing sie beim heftigen Schlussapplaus auch Buhrufe.

Geteilt war dieser Applaus auch für das Regieteam, einhellig und emphatisch für den fulminant singenden Festspielchor, einstudiert von Eberhard Friedrich, für den Dirigenten sowie für die beiden Haupt-Protagonisten, hier Beckmesser und Sachs.

Peter P. Pachl | 26.07.2017

Online Musik Magazin

Freispruch auf Bewährung für die Meistersinger

Es wird viel Gericht gehalten in den Meistersingern von Nürnberg. Vordergründig über die beste Gesangsleistung, über die ein Preisgericht entscheiden soll und für die eine Heiratskandidatin als Gewinn ausgelobt ist; aber eigentlich geht’s natürlich um die wahre Kunst zwischen Traditionsbewusstsein und Erneuerung. Was für Wagner freilich der Frage um das Wohl und Wehe der deutschen Nation gleich kommt. Wenn Barrie Kosky in seiner Neuinszenierung von Bühnenbildner Rebecca Ringst einen Gerichtssaal bauen lässt, greift das freilich weiter, denn der Raum ist eben dem Saal nachempfunden, in dem die Alliierten die Nürnberger Prozesse gegen führende Vertreter des NS-Regimes abhielten. So zieht die Regie eine Leitlinie von Wagners Entwurf von Nürnberg als dem utopischen (halb)demokratischen Gemeinwesen über das Nürnberg der Reichsparteitage und der Nürnberger Rassengesetze bis zur Zerstörung der Stadt durch die Luftangriffe und die juristische Aufarbeitung der NS-Greuel. Kosky will die Meistersinger nicht von ihrer Rezeptionsgeschichte trennen, die von Wagner durchaus geplant war: Die Figur des Beckmesser hatte für Zeitgenossen unverkennbar die Überzeichnung des “undeutschen” Juden. So wird letztendlich Gericht gehalten über die Oper selbst. Das Wunder daran ist, dass Kosky dies ganz großartig und bei aller Komplexität mit spielerisch leichter Hand gelingt.

Es beginnt ganz harmlos und sehr witzig in Wagners Bayreuther Villa Wahnfried. Der Meister selbst hat zu einer Lesung der Meistersinger geladen, und das müssen seinerzeit Abende ganz besonderer Art gewesen sein, wenn der Komponist und Textdichter in die verschiedenen Rollen geschlüpft ist oder am Klavier daraus gespielt hat. Liszt ist zu Gast, außerdem Hermann Levi, der erste Dirigent des Parsifal (dem Wagner und Gattin Cosima seine jüdische Abstammung keineswegs nachsahen). Die Pantomime zum Vorspiel geht in die “richtige” Oper über, Liszt wird zum Pogner, Cosima zu dessen von Stolzing umworbene Tochter Eva. Wagner selbst identifiziert sich mit dem abgeklärt altersweisen Hans Sachs, aber gleichzeitig auch mit dem ungestümen Neuerer Walther von Stolzing und sogar mit dem Lehrbuben David – das macht die biographischen Bezüge deutlich, schließlich heiratete Wagner Liszts Tochter Cosima, und in der Abfolge David-Walther-Sachs mag man den Komponisten der Jugendwerke wie des Liebesverbots, den politischen wie musikalischen Revolutionär und schließlich den Königs-Freund und die Selbststilisierung zum verständigen Volkstribun sehen, eine hübsche These der Regie, die humorvoll ausgekostet wird. Wichtiger ist aber, dass Levi unfreiwillig in die Rolle des Beckmesser gedrängt wird. Kosky spielt auf die Ambivalenz Wagners an, Levi einerseits zur christlichen Taufe gedrängt zu haben (anders hätte er Levi nicht als Dirigenten des Parsifal akzeptiert), andererseits gerade die Assimilierung jüdischer Mitbürger zu verdammen. Der Beckmesser der Oper ist ein eleganter älterer Herr, ein ernst zu nehmender und honoriger Gegenspieler von Sachs. Am Ende des zweiten Akts, dessen Prügelszene man in diesem Zusammenhang als Progrom deuten muss, wird ihm eine fratzenhafte Maske aufgesetzt, die ihn als den “typischen” Juden zeigt, und gleichzeitig wird ein riesiger Ballon mit ebendieser Fratze aufgeblasen – da entsteigt der Oper der antisemitische Ungeist wie der Geist aus der Flasche.

Der Wandel von der autobiographisch gefärbten Komödie, die die Meistersinger vielleicht im frühen Entwurfsstadium einmal gewesen sein mögen, zur bedeutungsschweren Nationaloper mit ebenjenem hetzerischen Subtext, den die Nazis nicht ohne Grund begeistert aufgriffen, deutet sich bereits am Ende des ersten Aufzugs an, wenn die Wände Wahnfrieds gegen den Gerichtssaal ausgetauscht werden (der aber erst im Schlussbild, der Festwiese, seine eigentliche Bedeutung erhält). Zunächst beschwört eine ziemlich verkrautete Wiese zwischen diesen holzgetäfelten Wänden so etwas wie Naturstimmung herauf (auf den besungenen Flieder wollen sich Kosky und Ringst aber nicht einlassen). Wie zuvor gibt es also ein “falsches” Bühnenbild, und doch erzählt Kosky die Geschichte erstaunlich genau. Die anfängliche Idee, aus der Imagination des fabulierenden Künstlers heraus einen Kosmos wider alle Vernunft entstehen zu lassen, mit putzigen Meistersingern in herrlich historisierenden Kostümen (Klaus Bruhns), zieht Kosky konsequent durch, immer wieder mit ironischen Brechungen, und doch ist das eine von vielen Liebeserklärungen an diese schwierige Oper. Es ist ein Idyll voller Brüche, das hier aufgezeigt wird, immer wieder mit witzigen Momenten, vor allem aber mit ungeheurer Spielfreude – die Meistersinger sind, daran lässt Kosky keinen Zweifel, allerbestes Musiktheater.

Die bis ins kleinste Detail ausgefeilte Regie hört sehr genau auf die Musik – und umgekehrt: Dirigent Philippe Jordan geht ungeheuer flexibel auf das Bühnengeschehen ein, setzt passgenau die Zäsuren und phrasiert im Sinne des Textes. Altdeutsche Kraftmeierei ist ohnehin nicht seine Sache, die Musik fließt vom ersten Takt des Vorspiels an sinnlich überströmend (wobei ein wenig mehr Klarheit da nicht schaden würde), und da, wo die Musik vor Kraft nur so strotzen will wie im “Wach auf!”-Chorfortissimo, da unterschlägt zwar nicht die Wucht, paart diese aber mit einer Eleganz und Geschmeidigkeit, wie man sie kaum je gehört hat bei diesem Werk. Dabei wird keine Note zu leicht genommen. Gerade die leisen Passagen erhalten eine Nachdenklichkeit, die ihresgleichen sucht. Chor und Orchester setzen das großartig um.

Wie auch die Sänger. Klaus Florian Vogts knabenhaftes Timbre ist ja durchaus Geschmackssache; wenn er im dritten Aufzug unter Sachs’ Anleitung sein Preislied erfinden soll und jede Phrase zaghaft suchend wie aus dem Nichts beginnt, um sich dann zunehmend sicherer zu imposanten tenoralen Ausbrüchen aufzuschwingen, dann bekommt das plötzlich eine dramaturgische Funktion und man möchte das gar nie anders hören als hier von Vogt und Jordan behutsam entwickelt und grandios fortgeführt – mit einem volltönenden Michael Volle als Sachs, wie ihn Bayreuth lange nicht gehört hat, mit jugendlicher Energie statt altväterlicher Dröhnung. Johannes Martin Kränzle ist ein immer wohlklingender, sehr genau nuancierender Beckmesser, Daniel Behle ein nicht zu leichter David mit lyrischen Zwischentönen, Günther Groissböck ein tadellos souveräner Pogner. Anne Schwanewilms kann mit solchem Festspielglanz nicht mithalten, ihre Eva schwankt etwas unentschlossen zwischen lyrischem und dramatischem Tonfall, hat aber ein paar wunderschöne Pianotöne. Wiebke Lehmkuhl ist eine unscheinbare Magdalene. Und ausnahmslos alle, Meistersinger und Lehrbuben eingeschlossen, zeigen eine unbändige Lust am Spiel.

“Verachtetet mir die Meister nicht”: Bleibt der gefürchtete Schlussmonolog des Hans Sachs über die vermeintlich rettende deutsche Kunst. Kosky inszeniert gegen alle Konvention, wenn er vorher alle außer Sachs abgehen lässt. Der steht allein da und hält das Schlussplädoyer – gerichtet an das Festspielpublikum, und Michael Volle, Philippe Jordan und das Festspielorchester suchen und finden die Zwischentöne und das Zweifelnde und brechen das fatale Pathos der Szene. Und für den emphatischen Schluss mit seinen fatalen “Heil”-Rufen hat sich der Chor in blitzschnell seiner Renaissance-Kostümierung entledigt und neutral-schwarze Konzertkleidung angezogen, und Sachs-Wagner dirigiert, als wolle er sagen: “Hört die Musik, wenn ihr über diese Oper urteilt”. In den Salon der Villa Wahnfried, wo alles begann, kehren wir nicht zurück, von solcher privatbiographischen Sphäre haben sich diese Meistersinger viel zu weit entfernt. Kosky hat nichts unterschlagen von dem Furchtbaren, was von ihnen ausging und mit ihnen angerichtet wurde; die Meistersinger gibt es bei ihm nicht ohne die Abgründe, die sich darin auftun. Aber gleichzeitig ist er in jedem Moment ein Theater-Begeisterter und -Begeisterer. Den Bayreuther Festspielen hätte nichts Besseres passieren können.

FAZIT

Kosky, Jordan und einem festspielreifen Ensemble gelingt das Kunststück, eine ungemein kluge und sehr nachdenkliche Inszenierung entstehen zu lassen, die gleichzeitig in jedem Takt großartiges und oft auch witziges, musikalisch überragendes Theater bietet.

Stefan Schmöe | Festspielhaus Bayreuth am 31.07.2017

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Media Type/Label
Technical Specifications
320 kbit/s CBR, 48.0 kHz, 631 MByte (MP3)
Remarks
Broadcast from the Bayreuth festival
A production by Barrie Kosky (premiere)
Also available as video