Götterdämmerung

Guillermo García Calvo
Chor und Chorergänzung der Oper Chemnitz
Robert-Schumann-Philharmonie
Date/Location
22 December 2018
Theater Chemnitz
Recording Type
  live   studio
  live compilation   live and studio
Cast
Siegfried Daniel Kirch
Brünnhilde Stéphanie Müther
Gunther Pierre-Yves Pruvot
Gutrune Cornelia Ptassek
Alberich Jukka Rasilainen
Hagen Marius Bolos
Waltraute Anne Schuldt
Woglinde Guibee Yang
Wellgunde Sylvia Rena Ziegler
Floßhilde Sophia Maeno
1. Norn Anja Schlosser
2. Norn Sylvia Rena Ziegler
3. Norn Cornelia Ptassek
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Reviews
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Der Weltuntergang wird abgesagt

Das tut Chemnitz gut: Die Regie von Elisabeth Stöppler und ein ganz beeindruckendes Ensemble bescheren der Stadt und der Oper eine großartige Deutung von Richard Wagners „Götterdämmerung“.

Eine Welt ganz ohne Männer kann, rein gattungserhaltend gesehen, auch nicht das letzte Wort sein – aber vielleicht ein Punkt des Kräftesammelns und Durchatmens vor einem möglichen Versuch, neu zu versöhnen, was die Menschheit aus der Natur (und sich selbst) gemacht hat. In Elisabeth Stöpplers Inszenierung von Richard Wagners „Götterdämmerung“, dem grandiosen Finale des mit vier weiblichen Inszenierungsteams spektakulär angegangenen Chemnitzer Projekts zum „Ring des Nibelungen“, versammelt am Ende die Urmutter Erda ihre Walküren- und Nornentöchter, die Rheinmädchen und sogar Gutrune, die vom Playgirl zur mitleidend verstehenden Frau gereift ist, um sich.

Kein Weltenbrand, keine Wasserflut, Hagens Verzweiflungsschrei nur noch irrelevantes Echo aus dem Off: Der Widerling ist längst durch die betrogene Gibichungentochter erschossen, das Rheingold wieder an seinen angestammten Platz gebracht worden. Auch das dichte, hypnotisch kreisende Schneetreiben hört auf, welches die Szene einhüllte, als Brünnhilde zwischen Selbst- wie Weltvernichtung und dem schweren Entschluss zum Überleben rang. Sie hat das Feuerzeug weggeworfen, und nun entsteht um den im wortlosen gegenseitigen Trost versammelten Frauenkreis eine große, bannende Stille, aus der heraus Wagners blühend umarmendes, ins Weite weisendes Erlösungsmotiv alles neu öffnen könnte – vielleicht.

Die Stadt, in der dieses Schlussbild fragiler, ganz vorsichtig tastender Zuversicht zu sehen ist, hat selbst Zuversicht nötig. Chemnitz, das seit 1990 siebzigtausend Einwohner verloren hat, aber immer noch so groß ist wie Kiel oder Aachen (nur anders als diese ohne Fern-, sondern nur mit Regionalbahnanschluss) – dieses Chemnitz ringt nach den rechtsextremen, weiter virulenten Krawallen der letzten Monate um Würde und Selbstversöhnung, beschwört im einsetzenden Adventstrubel mit Lichtermarkt und Bergparade positives Heimatgefühl, deklamiert auf Großplakaten vielsprachig den modifizierten Leitsatz der Umwälzung vor dreißig Jahren: „Wir sind (alle) das Volk.“

Den harten Kern der Hasser wird man damit nicht erreichen, aber vielleicht beginnt ein neues Gemeinschafts- und Solidaritätserleben gegen das regionale und geistige Abgehängtsein. Oper und Orchester tun, wie die anderen Kunstorte der Stadt, das Ihre dazu: In nur vier Wochen ist Udo Zimmermanns Oper „Weiße Rose“ als Studioinszenierung, mit der man auch über Land gehen kann, ins Programm genommen worden, und eine Open-Air-Aufführung von Beethovens Neunter – erweitert durch die anderen Sparten des Hauses und unter Mitwirkung von Künstlern aus vierzig anderen Ensembles – versammelte trotz Regens über viertausend Hörer.

Guillermo García Calvo, der dort die Robert-Schumann-Philharmonie dirigierte, steht nun auch am Pult der „Götterdämmerung“ – eine kraftvoll knochenfeste, energiegespannte Leistung des bekennenden Wagnerianers von gleichsam wütender Überzeugungskraft, die nur bei einigen lichter gesetzten Bläsersätzen etwas schwächelt. Man lässt sich da umso lieber mitreißen, als auch von der Bühne Erstaunliches tönt. Über ein Heldenpaar wie dieses mit Stéphanie Müthers Brünnhilde und Daniel Kirchs Siegfried, beide strahlend präsent, von unbändiger Leidenschaft und bis zu ihren großen Abschiedsmonologen konditionell unangefochten, dürften in solcher Verfassung selbst größte Häuser glücklich sein. Auch der Klangplastizität der anderen Protagonisten kommt der mittelgroße, akustisch vorzügliche Chemnitzer Raum entgegen.

GERALD FELBER | 11.12.2018

Meißner Tageblatt

Ein neuer Ring im “sächsischen Bayreuth”

An der Chemnitzer Oper hatte die „Götterdämmerung“ Premiere. Sie schließt eine komplette Neuinszenierung von Richard Wagners Ring-Tetralogie ab.

Das Opernhaus Chemnitz verteidigt erfolgreich seinen Ruf, ein „sächsisches Bayreuth“ zu sein. Einige Jahre lang gab es hier im April „Richard-Wagner-Festtage“ mit mehreren Aufführungen. An der bislang letzten kompletten Inszenierung der Tetralogie „Der Ring des Nibelungen“ wurde von 1998 bis 2000 gearbeitet. Doch mit der Premiere von Richard Wagners „Götterdämmerung“ ist im Dezember nun schon wieder eine eigene Gesamtinszenierung dieses Riesenwerkes fertiggestellt worden. 2019 wird es dann drei komplette Aufführungszyklen geben: im Januar, zu Ostern und zu Pfingsten.

Abweichend von der üblichen Praxis wurden die einzelnen Teile diesmal von vier verschiedenen Regisseurinnen inszeniert. Das Publikum merkt die Absicht zunächst einmal nicht und hat darum auch keinen Anlass, verstimmt zu sein. Erst in der Schlussszene der „Götterdämmerung“ sind äußerliche Anhaltspunkte für jenen „typisch weiblichen Blick“ auf den Ring nicht mehr zu übersehen, über den die Chemnitzer Oper Erkenntnisse gewinnen wollte. Doch gerade im Finale braust die Musik besonders beherrschend über alles hinweg und die typischen Merkmale gehen im allgemeinen Getöse unter.

Bei der Premiere trat mitten im ausgiebigem Schlussapplaus das weibliche Inszenierungs-Trio den Sängern zur Seite. Indem sie schließlich die Statistin, die die Erda verkörperte, in ihre Mitte nahmen, unterstrichen sie die sonst eher unaufdringliche Programmatik ihrer Inszenierung.

Statt eines Weltbrands ereignet sich auf der Chemnitzer Bühne ein Wärmetod. Nicht Flammen züngeln. Es senkt sich sanfter Schnee herab. Brünnhilde sammelt die Frauen und weiblichen Naturwesen um sich. Mit langen weißen Haaren und bodenlangem Gewand tritt Erda auf, obgleich das ewige Weib am zweiten Tag des Bühnenfestspiels vom Wanderer bereits in ewigen Schlaf verabschiedet wurde.

Sie lässt Funken aus ihrem Feuerzeug springen. Neben ihr stehen die Nornen, die Rheintöchter und Waltraude. Sogar die tief verletzte Gutrune wird huldvoll in den Kreis aufgenommen. Brünnhild hatte ihr die Pistole gereicht, damit sie den finsteren Halbbruder Hagen erschieße. Dass dieser nun plötzlich wieder mit dröhnendem Bass „Zurück vom Ring!“ fordert, ist zumindest irritierend. Er bekommt bei Wagner das letzte Wort, bevor er in den steigenden Fluten ersäuft und die Rheintöchter als unschuldig spielende Naturkräfte den Ring wieder aufnehmen. Hier widerstreitet die gezeigte Version mit den Vorgaben.

Bis dahin aber hat die Inszenierung von Elisabeth Stöppler eine ganze Reihe ungezwungene und zutreffende Lösungen aufgeboten. Sie erlöst Siegfried vom oft dargestellten Habitus eines automatenhaften Trottels. Er darf ein unschuldiges, wenn auch verblendetes Kind bleiben, auch nach dem Trunk des Vergessens. Nur für eine kurze Weile sind ihm durch Brünnhildens Liebe die Schuppen von den Augen gefallen.

Auch sonst gelingen der Inszenierung beziehungsreiche Bilder. Da schleichen die Nornen des Vorspiels auf gefiederten Beinen und in weißen Hauben gleich monströsen Schleiereulen durch den weißen Dunst. Als Sklaven sind sie an das Seil gebunden, das alles Vergangene durchzieht, aber in keine Zukunft mehr führt. Wenn der Nebel sich legt, wird Brünnhildes Felsen sichtbar. Daniel Kirch als Siegfried und die Brünnhilde von Stephanie Müther sind ein sich gegenseitig gewachsenes Heldenpaar von vitaler Kraft. Die eigentlichen Sängerhelden des Abends sind Marius Boloş als Hagen und Anne Schuldt als Waltraude. Schuldt singt Waltraudes flehentliche Warnung der Brünnhilde mit berückendem Schmelz entgegen. Da bleibt keine Leerstelle. Sie füllt die dramatische Figur vollständig aus und ihre Stimme ist in den fahlen Tönen ebenso präsent wie in den stimmhaft perlenden.

Nun ist sie mit einem Auftritt freilich auch nicht derart gefordert wie die anderen, die entsprechend wirtschaftlich mit ihren Ausdrucksmöglichkeiten umgehen müssen. Sobald sich die Schwester unverrichteter Dinge entfernt hat, treffen Gunther und Siegfried in widerlich-gelben Skianzügen mit dunklen Schneebrillen auf dem Felsen ein. Siegfried agiert wie ferngesteuert und doch zeigt er sich von Brünnhildes Bestürzung seinerseits bestürzt. Ohne dass sie ihm eigentlich bewusst wird, lässt ihn doch die Last eigener Schuld schwanken.

Die Halle der Gibichungen ist eine holzgetäfelte Hotelbar. Ohne eine zweite Ebene in ihr Bühnenbild zu bauen, hat Annika Haller mit der Theke ein Podest geschaffen, von dem Hagen zuweilen herausfordernd herabsingt. Die darstellerischen Ausfälle stimmen immer gut mit dem musikalischen Verlauf überein. Brünnhilde bemächtigt sich des Speeres, auf den sie den Eid leisten soll, und treibt als eine gerechte Furie damit die Gibichungen in Scharen durch ihre eigene Halle. Es gibt dabei kein hyperaktives Gewimmel. Die Figuren sind immer in klaren Volumen gegliedert. So bleibt die Inszenierung dem Auge wie dem Ohr angenehm. Der neue Chemnitzer Generalmusikdirektor Guillermo García Calvo erweist sich bei dieser Herausforderung als ein würdiger Nachfolger Frank Beermanns am Pult der Robert-Schumann-Philharmonie.

Sebastian Hennig | 20. Dezember 2018

nmz.de

Siegfrieds Schlittenfahrt – Wagners Götterdämmerung an der Oper Chemnitz

Wie eiskalt ist der Wagner hier. Mit den ersten Takten der „Götterdämmerung“ in Chemnitz erleben wir ein Gefrieren aller Gefühle. Nicht etwa, weil die Robert-Schumann-Philharmonie unter ihrem spanischen Generalmusikdirektor Guillermo García Calvo unterkühlt musizieren würde – im Gegenteil: hier wird heißblütig aufgespielt, dennoch ausgewogen klangstark, wohlbedacht dosiert und bestens begleitet. Eiskalt ist der Ort dieses Weltuntergangs-Szenarios von seinem Anfang bis zum frostigen Ende.

Damit ist der Chemnitzer „Ring“, der von vier Regisseurinnen inszeniert worden ist, nun ein weiblicher geworden. Freilich kein feministischer, das hätte sich mit der Wagner-Welt wohl auch kaum vertragen. In vorsichtigen Ansätzen haben ja schon Verena Stoiber („Das Rheingold“), Monique Wagemakers („Walküre“) und Sabine Hartmannshenn („Siegfried“) Themen wie Prostitution, Kindesmissbrauch und Vergewaltigung in die Chemnitzer Tetralogie gesetzt; Elisabeth Stöppler nun, die mit ihrem Wagner-Debüt (!) der „Götterdämmerung“ den in nur zehn Monaten geschmiedeten „Ring“ krönt, hat dafür einen ebenso überraschenden wie berührenden Schlusspunkt gefunden.

Und sie hat von Anfang an in ihrer Inszenierung darauf hingearbeitet, angefangen mit den wissenden Nornen im Vorspiel. Dann wird die Dekadenz dieser Männerwelt deutlich gemacht, dieses durchtriebene Geifern um Ring und Tarnkappe, also um Macht und Besitz, das schon so lange keine Zukunft mehr hat. Ziemlich sensibel zeigt Stöppler den hinterhältigen Missbrauch von Frauen, über die ausschließlich von Männern bestimmt wird – bis ganz am Ende nur mehr Frauen auf der Bühne sind: Brünnhilde, Rheintöchter, Nornen, sogar Erda, die Erdgöttin, schaut aus „Rheingold“ und „Siegfried“ in stummer Versöhnung noch einmal herüber. Ganz weiblich und damit anrührend wie selten gerät dieses Finale: Siegfried, der große Held, ist tot, von Hagen erschossen, Brünnhilde trauert, sie und Gutrune haben begriffen, wie sehr sie mit ihrer jeweiligen Liebe männlichen Intrigen aufgesessen und zum Opfer gefallen sind. Alles wegen des verfluchten Ringes! Der Weltenbrand soll hier eine Selbstverbrennung werden, Brünnhilde hat einen Benzinkanister vor sich und ein Feuerzeug in der Hand. Auf diese Ausweglosigkeit fällt dicker Bühnenschnee – und doch ist diese leidgeprüfte Frau nicht so zerstörerisch wie all die Männer mit ihren Waffen, mit Drogen und reichlich Alkohol.

Berührend brutal? Brutal berührend

Die Gibichungenwelt bildet den Gegenpol zur an Caspar David Friedrich erinnernden Eiseskälte. Überwiegend am Bartresen und mit harten Drinks reichlich freigiebig, schmiedet Hagen seinen finsteren Plan, im Auftrag des Vaters den Ring zu erlangen. Dicke Heizflächen hängen an den hölzernen Wänden in dieses Ambiente, das die Gesellschaft dann allerdings doch in dicker Winterkleidung betritt. Später zur Jagd wird man Ledermäntel und lange Flinten tragen. Und auch auf dem Felsen glüht kein Feuerrot.

Vieles in dieser von Annika Haller (Bühne) und Gesine Völlm (Kostüme) ausgestatteten Inszenierung ist deutbar, manches auch fragwürdig. Manche Beinkleider zum Beispiel sind nicht immer ganz vorteilhaft für die Figuren. Doch wer je erlebt hat, wie ein Schlitten innig umschwärmt und betrauert werden kann, wird berührt und ergriffen sein. Dieser Schlitten symbolisiert Brünnhildes Pferd Grane. Das kann man als albern ablehnen, lässt sich dann aber einiges an Wirkung von diesem Sinnbild entgehen.

Wagners Männerwelt wird mit solchen Anspielungen als recht armselig entlarvt, ist gerade damit aber recht realitätsnah dargestellt, brutal und durchtrieben, bewaffnet und fast ohne Skrupel. So spiegelt sie auch aktuelle Gegebenheiten. Ob das mit Schusswaffen oder auch eine Spur diffiziler hätte umgesetzt werden können, sei dahingestellt. Spielerisch ist die Personage allemal bestens geführt, hier werden Charaktere deutlich dargestellt, selbst in den Chorszenen. Hagen etwa ist ein intriganter Finsterling (der übrigens schon als stumme Figur im „Siegfried“, da noch im Kindesalter neben Vater Alberich, eingeführt wurde), Siegfried ein heldischer Lüstling, durchaus des Nachdenkens fähig, und Brünnhilde eine ehrlich liebende Frau, in dieser Sicht das absolute Prinzip Hoffnung. Daher kann sie zum Schluss auch nicht die Welt in Brand setzen.

Dafür sorgt allerdings das Orchester, bei dem es lodert und zündet (schade nur, dass ab und an ein mal Horn einen Strich durch die Partitur machen muss), wogt und wabert, ohne aber je sinnfrei zu überborden. Der bekennende Wagnerianer Guillermo García Calvo hat mit diesem „Ring“ einmal mehr bewiesen, wie tief er diese Musik zu durchdringen weiß. Neben der großartigen Orchesterleistung besticht auch die sehr hörenswerte und zumeist gut textverständliche Besetzung. Als Siegfried wirkte wieder Daniel Kirch mit, ein starker, aber nicht kraftmeiernder Sänger-Darsteller. Als betörend wandelbare Brünnhilde mit voluminöser Stimmkraft agierte die ja bis zum Schluss heftig geforderte Stéphanie Müther (sie soll bei den zyklischen „Ring“-Aufführungen im kommenden Jahr alle drei Brünnhilden singen, was man ihrer kraftvollen und stets wohldosierten Stimme unbedingt zutraut). Aber auch Cornelia Ptassek als Gutrune und dritte Norn, Pierre-Yves Pruvot als Gunther, Jukka Rasilainen als Alberich und (mit Abstrichen in der Artikulation) Marius Bolos als finsterer Hagen sind exzellent; sehr fein auch Anne Schuldt als Waltraute – und selbst alle Nornen und Rheintöchter fügen sich hier mitsamt dem bestens aufgelegten Chor in einen musikalisch großen Abend.

Wagnerianer kommen in dieser Neuproduktion in Chemnitz musikalisch unbedingt auf ihre Kosten, und in dieser ausdeutbar ‚weiblichen‘ „Götterdämmerung“ hat Elisabeth Stöppler für reichlich Diskussionsstoff und Nachdenklichkeit gesorgt.

Michael Ernst | 02.12.2018

concerti.de

Helden schluchzen, Helden sterben

Elisabeth Stöppler beschert dem von vier Frauen in Szene gesetzten „Ring“ sein fulminantes Finale.

Schon im Vorfeld hörte man viel über das Ende im ewigen Eis und von der vereisten Gesellschaft, mit der dieses megacoole Finale des neuen „Ring des Nibelungen“ ins Schlittern kommt. Gewiss wäre das als gut gehütete Überraschung für das Publikum noch überwältigender gewesen. Mit einer Viertelstunde Schlussapplaus endete die Premiere der „Götterdämmerung“ an der Oper Chemnitz. Vier Regisseurinnen widmeten sich den vier Teilen von Richard Wagners Bühnenfestspiel, das in nur zehn Monaten komplett zum Chemnitzer Stadtjubiläum 875 Jahre herauskam.

Elisabeth Stöppler hätte aufgrund der verzahnten Produktionsabläufe als einzige darauf reagieren können, was sich ihre Kolleginnen Verena Stoiber („Rheingold“), Monique Wagemakers („Walküre“) und Sabine Hartmannshenn („Siegfried) einfallen ließen. Aber sie tat es, anders als Tobias Kratzer am Staatstheater Karlsruhe als wiederum letzter von vier „Ring“-Regisseuren, gerade nicht. Es war auch nicht planbar, dass genau Stöpplers Kerngedanken für diesen perversen Genre-Flirt, in dem Wagner seine spezifische Form des Musikdramas mit der großen Oper kreuzte, während der „Ring“-Probenzeiten im langen trockenen Sommer 2018 zu Hauptthemen gesellschaftlicher Diskurse wurden: Klimawandel und soziale Kälte. Die ersten kompletten Zyklen gibt es nun im Januar, zu Ostern und Pfingsten 2019.

Eisscholle und Überzivilisation

Waltrautes versprochene Fallschirmlandung auf dem Walkürenfelsen verschwand zwar im Nebel, dafür gelingt Anne Schuldt die lange Erzählung und Auseinandersetzung mit der Halbschwester Brünnhilde voll intensiver Bravour. Nach Siegfrieds Tod verschmelzen Brünnhildes Scholle und die von Annika Haller gebaute Edel-Lounge der Gibichungen mit ständigem Ressourcen-Missbrauch drinnen und dem Technik-Verhau draußen zu einem einzigen Schauplatz. Die in der Gibichungen-Sphäre lustvoll beschworene Endzeitstimmung könnte leicht beliebig wirken, selbst wenn sie sich so farbenfroh gibt wie Gesine Völlms knallbunter Klamotten-Wahnsinn für den unter Stefan Bilz‘ Leitung klangschönen Opernchor. Doch was Elisabeth Stöppler spielen lässt, greift an Nerven und Gemüt.

Götterdämmerung: Packendes Endspiel

Die länger als vier Stunden Musikdauer gehaltene und zum Schluss noch beklemmend gesteigerte Deutung packt durch intensive Personenführung und eine beglückende Ensembleleistung. Stéphanie Müthers Wechsel vom Mezzo zum hochdramatischen Sopran ist mit diesem Brünnhilde-Debüt auf dem allerbesten Weg, und Daniel Kirch liegt der hier jämmerlich von Drogen zerfressene „Götterdämmerung“-Siegfried weitaus besser als der des zweiten „Ring“-Tages. Sie und alle Sängerdarsteller sind als Individuen wie im Zusammenspiel ein Glücksfall par excellence: Der Rumäne Marius Boloş leidet als Hagen mehr als dass er intrigiert. Ein aschgrauer Prachtkerl ist dieser Nachtalben-Sohn, den Gutrune erst von sich stößt und später an der Leiche Siegfrieds abknallt.

Cornelia Ptassek, die diesen oft undankbaren Part zu einer mit Souveränität ersungenen und gespielten Hauptrolle macht, kniet am Ende während Wagners Erlösungsmotiv vor dem Kreis der mythischen Mutter- und Schwesterfiguren, die nichts gegen den Untergang ausrichten konnten und Gutrune dann wie eine begnadigte Sünderin in ihre Mitte holen.

Die Rückkehr der zerstörten Schwestern

Aus dem apokalyptischen Schnee, nach der emotionalen Eiszeit des Anthropozäns kommen sie also zurück: Die Urmutter Erda mit ihrer Tochter Brünnhilde, den im Eis ihr Wissen verlierenden Nornen und den zu Müll-Aliens degenerierten Rheintöchtern. Am Ende rücken doch noch die Frauen in den Fokus. Nicht als Retterinnen vor bodenlos-grenzwertigen Männertaten, denn das wäre zu eingleisig.

Aber ihre Rückkehr lässt fragen, wie es nach dem Ende dieser unrettbar kaputten Zivilisation und der missbrauchten Kinder Siegfried, Brünnhilde, Hagen weitergehen könnte. Pierre-Yves Pruvot als ganz und gar haltloser Gunther und Jukka Rasilainen als Alberich, der seinen in bitterer Einsamkeit schluchzenden Sohn Hagen zum rächenden Vollstrecker instrumentalisiert, machen den glänzenden Eindruck perfekt.

Siegfried, das Drogenwrack

Stöppler braucht keine Smartphones zur Darstellung kommunikativer Leere. Dafür gibt es andere maßlos traurige Bilder: An der Bar in der Gibichungenhalle wird immer getrunken, denn die Ödnis des totalen Reichtums wäre sonst nicht ertragbar. Gutrune erholt sich vom Champagner-Dauerdusel auf dem Eisbärfell, das Siegfried sich überzieht, wenn er zur mit Skandal endenden Hochzeit eilt. Das ist der letzte Scherz des Helden, der mit dem Brünnhildes Ross ersetzenden Rodelschlitten Grane angebraust kommt und dann in nur 48 Stunden zum Drogenwrack abstürzt. Denn Hagens und Gutrunes Zaubertränke machen nicht nur extrem rattig, sondern auch süchtig. Zur Brautentführung rücken Siegfried und Gunther zu zweit an, gut vermummt in sündteuren Trekking-Anoraks und mit einer exklusiven Sportbrille des Designer-Labels Tarnhelm. Meisterhaft sind die Irritationen, die nicht nur Brünnhilde, sondern auch das Publikum täuschen, wenn Siegfrieds verstellte Stimme aus faktisch zwei Männern tönt.

Am ergreifendsten die Trauermusik: Siegfried, von Hagens Rückenschuss tödlich getroffen, halluziniert sich nach Walhall, wo ihn Brünnhilde vor einer Halde mit nackten Helden wie in ihrem früheren Leben als Walküre salbt und pflegt. Männlichen Trug und weibliche Wut lädt Stöppler mit pfeilgenauer Treffsicherheit und Detailschärfe auf. Die bunte Gruppe, als die der Chor zur Hochzeitsparty tobt, führt Götter und Traditionen nur noch als Worthülsen mit sich. Erst am Ende besinnen sich also Siegfried und Gutrune auf ihre früheren kulturellen Prägungen. Die letzten Worte „Zurück vom Ring!“ tönen aus dem Off, Hagen ist da längst tot.

Musikalische Hochspannung

Und was für einen sagenhafter Partner hat Elisabeth Stöppler am Pult! Unter Guillermo García Calvo singt es aus der Robert-Schumann-Philharmonie mit jedem Bassklarinetten-Solo, jedem Tuba-Ton, jeder chromatischem Streicherlinie. Kein Sänger muss Angst haben vor Schweiß treibenden Orchestereruptionen. Guillermo García Calvo lässt sich Zeit und baut gerade dadurch einen immensen Spannungsdruck auf. Seine Wagner-Farben sind wie edle Orchideen unter dunkelgrauer Gaze. Das hat genüsslich qualvolle Dimensionen wie eine lyrische Tragödie und steigert sich an den pompösen Stellen zu fahler Großartigkeit: Grausam, zutiefst bewegend, mit bohrender Intensität. Den Chemnitzer „Ring“ sollte man erleben, mit allen Wonnen und Widersprüchen!

Roland H. Dippel | 4. Dezember 2018

onlinemerker.com

Eine “eiskalte” Abrechnung mit der morbiden Männerwelt

Konzeptioneller Hintergrund

Siegfried und Brünnhilde leben in einer paradiesähnlichen Welt, umgeben von eisigen Felsplatten. Sie kennen weder Macht- noch Besitzanspruch und mit ihrer innerlichen aufrichtigen Liebe erzeugen sie so viel Wärme, dass ihnen die arktische Kälte nichts anhaben kann.

Die Gibichungengesellschaft handelt eiskalt und berechnend, um ihre machtpolitischen Ziele zu erweitern. Da gibt es keinen Platz für liebevolle Wärme, deshalb wird die fehlende innerliche Wärme durch entsprechende Kleidung kompensiert oder im Wohnbereich diese durch den Abbau der begrenzten Ressourcen ersetzt.

Im weiteren Verlauf treffen die ungleichen Pole aufeinander und es ist vorhersehbar, wer letztendlich bei dieser Auseinandersetzung auf der Strecke bleibt.

Statt “Siegfrieds Rheinfahrt” “Siegfrieds Schlittenfahrt”

Während zu Beginn die Nornenszene in normalen Bahnen abläuft, taucht beim Liebesduett von Siegfried und Brünnhilde, anstatt des bekannten Walkürenfelsen ein großer Eisberg auf. Das Bild ist fast eine Kopie des Gemäldes “Das Eismeer” von Casper David Friedrich, das als gescheiterte Hoffnung interpretiert wird, weil man auf dem Gemälde ein Schiffswrack erkennt. Dieses Bild ist auch richtungweisend für den weiteren Verlauf der Handlung, denn mit der arktisch ähnlichen Landschaft wird eine Metapher zu einer kalten herzlosen Gesellschaft hergestellt.

Anstatt der beängstigenden Gibichungenhalle sieht der Besucher einen holzgetäfelten Raum, wo reichlich alkoholische Getränke vorhanden sind und zum eigenen Genuss, aber auch zu Manipulationszwecken, anstatt der Zaubertränke, unterschiedliche Drogen angeboten werden. Es wird ein Luxusdomizil gezeigt, das sich in einem Skigebiet befindet. Die Mächtigen der Welt geben sich dem feuchtfröhlichem Vergnügen hin, gleichzeitig werden Überlegungen angestellt, wie man durch Heirat die kapitalistische Macht ausbauen könnte.

Der Auftritt des Helden versetzt den Zuschauer in einen kleinen Schockzustand, denn Siegfried mit altmodischer winterlicher Kleidung ausgestattet und mit einem Schlitten kommend, passt so gar nicht zu den Anwesenden mit salonfähiger Robe. Er ist ein Außenseiter, ein Wesen, wie von einer fremden Galaxie, kaum zu glauben, dass er ein starker Held sein soll, wie Hagen es behauptet. Die nächsten Szenen werden beweisen, dass buchstäblich mit dem Eindringling “Schlitten gefahren” wird. Siegfried hat die Abenteuer aus der sinfonischen Dichtung missachtet und hat den direkten Weg zu seinem zukünftigen Untergang gewählt. Die Drogen, die anstelle für den Zaubertrank, Siegfried als Willkommenstrunk gegeben werden, erfüllen demzufolge sofort den beabsichtigten Zweck. Im Laufe der Zeit wird Siegfried, als unerfahrener Mensch drogen- und alkoholabhängig.

Allerdings sind Zweifel angebracht, ob dadurch das totale Vergessen zu seiner großen Liebe ausgelöst wird. Die anschließende Begegnung mit Brünnhilde auf ihrem Eisfelsen wird in einer Doppelfunktion vollzogen, der stumme Gunther spielt und Siegfried singt als sein Spiegelbild.

Statt “apokalyptischen Weltenbrand” „Eiszeit-Endstimmung“

Mit Beginn von Siegfrieds Tod, der von Hagen erschossen wird, beginnt die einsetzende Dämmerung der morbiden Gesellschaft. Gunther fällt im Kampf mit Hagen, der wird aber kurz darauf mit einem gezielten Schuss von Gutrune zur Strecke gebracht. Somit ist das Ende einer rücksichtslosen Gesellschaft der Gibichungen vollzogen worden. Mit der einsetzenden Eiswelt, wird anstelle des Weltenbrandes der Weg frei gemacht für eine neue Weltordnung. Zur Verdeutlichung ist plötzlich der eisige Walkürenfelsen in der Gibichungenwelt implementiert worden. Die letzten Worte von Hagen: „zurück vom Ring“ werden aus dem Off gesungen.

Als Abschluss noch eine Überraschung, denn auf der Bühne versammeln sich alle weiblichen Darsteller um die Urmutter Erda in freundschaftlicher Atmosphäre, allerdings ohne eine einzige männliche Person, was darauf schließen lässt, dass für die Weiblichkeit kein Platz für Gewalt und Machtmissbrauch vorhanden ist.

Großes Lob für die abwechslungsreiche und überzeugende Personenregie, ausgestattet mit gestylten, farbenfrohen Kostümen und einer großartigen Bildersprache, die eine spannende und unterhaltsame Handlung präsentiert. Für die Freunde des Regietheaters ist es eine prachtvolle und erfassbare Interpretation mit Hinweis auf die großen Probleme der Welt, während das Lager der etwas konservativ geprägten Besucher, die eine textbezogene Handlung wünschen, sich die Frage stellt: Wie viel Wagner steckt in der Darstellung, aber bei einer skeptischen Beurteilung einräumen müssen, dass für die szenische Umsetzung, eine intensive, ideenreiche Arbeit zugrunde liegt.

Die Robert-Schumann-Philharmonie mit einer überaus überzeugenden Darbietung

Der GMD, Guillermo Garcia Calvo, hat mit seiner feinen, durchstrukturierten und zurückhaltenden Lesart für eine enorme Spannung gesorgt, das Forte beim „Trauermarsch“ zur vollen Geltung gebracht, indem er mit großem Crescendo, hell leuchtend, das Schwertmotiv zum Klingen brachte. Er war immer darauf bedacht, die nötige Harmonie zwischen Graben und Bühne herzustellen.

Brünnhilde, die zentrale Figur über alle drei Akte

Stefanie Müther hat diese Rolle eindrucksvoll interpretiert. Sie war in allen Phasen stets eine emotionale, immer von ihrem Herzen geleitete Brünnhilde, ob beispielsweise im ersten Akt ihre aufrichtige Liebe zu Siegfried, im zweiten Akt als betrogene Frau die Beteiligung an der Verschwörung zu Siegfrieds Tod oder im dritten Akt, der mit viel Pathos vorgetragene Schlussgesang. Mit ihrer überaus einfühlsamen Stimme und der entsprechenden Bühnenpräsenz hat die Schweizerin, die, wie so viele ihrer Kolleginnen vom Mezzo kommt, im Handumdrehen die Herzen der Zuschauer erreicht. Ihre dramatische Stimmlage ist sehr wandlungsfähig, sie besitzt eine tragfähige, ausladende Mittellage und wurde am Ende zurecht lautstark gefeiert.

Chor und Sänger erfüllten alle in sie gestreckten Erwartungen

Siegfried: Daniel Kirch, Alberich: Jukka Rasilainen, Hagen: Marius Bolos und Gunther: Pieree-Yves Pruvot, trugen wesentlich zum erfolgreichen Abend bei.

Gutrune und 3. Norn, Cornelia Ptassek, hat mit ihrer klaren ausdruckstarken Wiedergabe einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen, ebenso Waltraute, Anne Schuldt, deren intensive Bitte an ihre Schwester Brünnhilde, den Ring wieder den Rheintöchtern zurückzugeben, nicht fruchtete.

Die Rheintöchter, mit zerzaustem Haar und unansehnlichem Outfit, hausen an der Gibichungenrückwand, wo die Heizungsaggregate angebracht sind. Unvorstellbar, dass sie einst im Rheingold das Lustobjekt von Alberich darstellten. Woglinde: Guibee Yang, Wellgunde: Sylvia Rena Ziegler, Floßhilde: Sophia Maeno.

Für den Chor war Stefan Bilz verantwortlich.

Mit der erfolgreichen Götterdämmerung hat die Oper Chemnitz einen besonderen Beitrag zur diesjährigen 875-Jahrfeier dieser Stadt geleistet.

Franz Roos | 23.12.2018

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Media Type/Label
Technical Specifications
320 kbit/s CBR, 44.1 kHz, 600 MByte (MP3)
Remarks
In-house recording
A production by Elisabeth Stöppler (2018)