Lohengrin

Ingo Metzmacher
Chor der Hamburgischen Staatsoper
Philharmonisches Staatsorchester
Date/Location
18 January 1998
Staatsoper Hamburg
Recording Type
  live   studio
  live compilation   live and studio
Cast
Heinrich der Vogler Harald Stamm
Lohengrin Thomas Moser
Elsa von Brabant Inga Nielsen
Friedrich von Telramund Hans-Joachim Ketelsen
Ortrud Éva Marton
Der Heerrufer des Königs Wolfgang Rauch
Vier brabantische Edle Jürgen Sacher
Frieder Stricker
Dieter Weller
Carl Schultz
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Berliner Zeitung

Was heißt das: Wagner verjuxen?

Nach der Verhaftung führte man Jesus zum Hohepriester Kajaphas, bei dem sich die Schriftgelehrten und die Ältesten zum Gericht versammelt hatten. Der Hohepriester, so heißt es bei Matthäus, stand auf und fragte Jesus: “Willst du nichts sagen zu dem, was diese Leute gegen dich vorbringen?” Jesus aber schwieg. Man muß daran denken, wenn im ersten Akt von Wagners “Lohengrin” Elsa, das unschuldige junge Mädchen, vor das Gericht des Königs tritt. “Bist du es, Elsa von Brabant?”, fragt der König. “Was entgegnest du der Klage?” Elsa aber entgegnet gar nichts. Das Mädchen schweigt, und an ihrer Stelle läßt Wagner die Musik sprechen, einen zarten, empfindlichen Holzbläsersatz, mehr Luft als Ton, mit ätherischen Harmonien, die wie durch feine Seidenfäden miteinander verbunden sind.Blick für das Überirdische Am schönsten ist das zweite dieser Zwischenspiele. Es klingt, als öffne sich das himmlische Auge nur für einen Blick. Elsa sieht den König an. In Wirklichkeit sieht sie aber etwas ganz anderes. Mitten in die kurze Akkordfolge hat Wagner die harmonische Abbreviatur jenes Moments hineingeschrieben, in dem, wenig später, Elsas überirdischer Retter hereintritt in die Welt der Könige, der Fürsten, der Soldaten, des Gerichts. Bereits in der Gerichtsszene leuchtet also ein Vorschein Lohengrins auf, und Elsa, die angebliche Mörderin, wird als Wesen vorgestellt, das einen Blick für das Überirdische hat. Nur in Peter Konwitschnys neuer “Lohengrin”-Inszenierung ­ am Sonntag hatte sie an der Hamburgischen Staatsoper Premiere ­ ist davon nichts zu sehen. Elsa, ein junges Ding mit Zöpfchen, Kleidchen und Kniestrümpfen, tritt aus einem Wandschrank vor den König, und anstatt einfach dazustehen, zu schweigen und verklärt zu blicken, verschwindet sie nach jeder Frage wieder im Schrank, und dazu erklingt die überirdische Musik.Es ist wirklich viel gelacht worden in der ersten Vorstellung dieses “Lohengrin”, große Teile des Publikums folgten der Aufführung so heiter, wie man es bei Opernpremieren selten erlebt, schon gar nicht bei einer Oper von Richard Wagner. Ein anderer Teil des Publikums betrachtete die Inszenierung indessen mit großem Unmut, mit Ärger, Groll, Entrüstung. So kann man mit Wagner nicht umgehen, war zu hören, Konwitschny habe den “Lohengrin” verjuxt. Aber was heißt das: Wagner verjuxen? Konwitschny läßt den “Lohengrin” als Spiel in einer Schule, in einem Klassenzimmer vielleicht der frühen 30er Jahre spielen, irgendwo zwischen Kaiserreich und Diktatur. Jedenfalls hat man über weite Strecken den Eindruck, es werde gespielt. Anläßlich der Gerichtsszene wird das Schaubild einer Gerichts-Eiche an einem Kartenständer befestigt. Zur Szene im Dom hängt ein historischer Kirchen-Grundriß, die intime Szene nach der Hochzeit Lohengrins und Elsas wird durch anatomische Aufrisse illustriert.Andererseits läßt sich der Spiel-im-Spiel-Charakter im “Lohengrin” gar nicht durchhalten, gelegentlich hat man den Eindruck, das Geschehen widerfahre erst den Personen auf der Bühne. Und schließlich geht es dem “Lohengrin” in der Schule nicht anders als mit aller Welt, die in die Schule kommt ­ die Oper wird zum Stoff, die Personen und ihre Beziehungen lassen sich mit einem Stück Kreide auf die Tafel zeichnen. So undiszipliniert wie möglichDa hat Konwitschny sicher etwas gefunden. Rufen nicht die verwikkelten historischen, genealogischen, mythologischen, historisch-phantastischen und phantastisch-genealogischen Verhältnisse ebensosehr nach dem Schaubild wie nach der Oper? Wagner ist fern davon, einfach aufgeführt und angeschaut zu werden, man muß ihn immer zuerst einmal durchnehmen. Also wird er, gewissermaßen reformpädagogisch, erst einmal durchgenommen. Die Jungs und Mädels im Klassenzimmer sind König, Heerrufer, Ortrud, Telramund, sächsische, thüringische, brabantische Soldaten, Edelfräulein, Pagen, Dienerinnen. Alle Jungs tragen kurze Hosen, Kniestrümpfe und Schulmützen, alle Mädels haben knielange Schulkleider, Kniestrümpfe und Zöpfe. Die Jungs haben Holzschwerter. Alle Jungs und Mädels sind so undiszipliniert wie möglich, sie werfen Papierflieger und schießen mit Papierkügelchen, sie laufen auf den Schulbänken herum. Die Jungen hänseln die Mädchen.Wagners weihevoller Ton wird auf der Bühne völlig aufgelöst (und, wenn nötig, aus der Partitur gestrichen). Die Statuarik des Sozialen geht in der Klassenkameradschaft unter. Auch von der Ikonographie des Wagner-Sängers, des Bühnenweihfestspielstars, bleibt nicht viel übrig, man staunt nicht schlecht, eine Sängerin wie Eva Marton mit Kleidchen, Kniestrümpfen und geflochtenen Zöpfen auf dem Tisch herumturnen zu sehen. Dabei ist es nicht nur so, daß das Sängerensemble offenbar mit Lust ins Backfischstadium zurückfällt und auf der Bühne herumtollt. Einige Stimmen klingen auch anders als bei Wagner gewohnt, Inga Nielsen in der Rolle der Elsa singt bis in den dritten Akt hinein sehr gerade, mit wenig Vibrato und kaum gerundetem Register-Mischklang, gewissermaßen unreif. Eva Marton als Ortrud nutzt den ganzen dramatischen Klang ihrer Stimme erst ab der Mitte des zweiten Akts, nachdem sie, das Haar hexenhaft gelöst, ihr Schülerinnenkleid zerrissen hat.Thomas Moser, der Lohengrin, scheint, indem er reichlich Kopfstimmen-Weichmacher in seinen Stimmklang mischt, alles Allzuheldische aus dem Vortrag verbannen zu wollen, konform übrigens mit dem Dirigat Ingo Metzmachers, der den pathetischen Ausbrüchen des Orchestersatzes vielfach die Spitze nimmt und lieber das Vielgliedrige des Tonsatzes betont, das Geflecht der Einzelstimmen in den persönlichen Auseinandersetzungen des zweiten und dritten Akts, das wache, ungemein bewegliche Vorwärtsdrängen und Verzögern in den Partien, in denen die Sänger führen.Wagners “Lohengrin” ist oft vorgeworfen worden, er habe etwas Gewaltsames, Autoritäres, sei es in der reaktionären sozialen Hierarchisierung, sei es mit der Forderung nach fragloser Anerkennung übermenschlicher Instanzen, und auch die Musik hat dieses Autoritäre, in der groben Dreiklangsmusik der Herrschaftsszenen, aber auch im sakralisierenden Dreiklangsgewebe der mystischen Partien. Konwitschnys scheinbar respektlose Auflösung, Verflüssigung dieses Anspruches gehört also dialektisch zum Werk, noch die logisch unschlüssigen Aspekte seiner Inszenierung wirken wie ein bewußter Verstoß gegen die verordnete Geschlossenheit der Oper. Umgekehrt konnte man einen Teil des Hamburger Premierenpublikums regelrecht erstarren sehen, aus den wütenden “Buhs” hörte man das unterdrückte Gelächter heraus.Überdies zeigt sich am Ende, daß die diesseitige Tollerei des ersten Akts über den Tabubruch hinaus als dramaturgisches Mittel planvoll eingesetzt wird. Die gestisch wie klanglich wirren Chöre entsprechen der moralisch wie konstitutionell dezentrierten Ausgangslage der Figuren, die ­ “ohne Fürsten” ­ in innerer und äußerer Unordnung leben. Das Schlußbild im leeren Bühnenraum, nach dem Abbau der Kulissen, zeigt dagegen das ganze Volk, König, Heerrufer, Edelfäulein, sächsische und brabantische Krieger, um die Figur Lohengrins zentriert, teils stehend, großenteils auf Knien, und hier ist auch der Chorklang so homogen, wie man ihn bei Wagner erwartet.Das Spiel ist ausDaß die Kulissen weg sind, zeigt in der Inszenierung Konwitschnys: Die Schule ist aus. Mehr als Elsa ist daher Lohengrin die tragische Figur der Hamburger Inszenierung. Lohengrin ist als Erwachsener in die Welt der Schule gekommen. Er will Mensch sein unter Menschen, und das heißt hier: Bursche unter Burschen. Aus seinen langen Hosen werden kurze, aber aus der Geschichte mit der jungen Elsa wird es nichts, Elsa ist einfach noch nicht so weit. Lohengrin will in der Schul-Welt sein, aber im Ernst. Verzweifelt bemüht er sich noch auf dem Hochzeitsbett um Elsa, obwohl er schon weiß, daß sein Liebesprojekt verloren ist. Telramund dringt noch einmal ein, diesmal als Rivale, und jetzt wird er von Lohengrin mit einem richtigen Schwert richtig erstochen. Die ernste Liebe und der echte Mord sind in der Welt des Klassenzimmers nicht möglich, darum ist an dieser Stelle, mitten im dritten Akt, das Spiel aus.Wer will, kann jetzt bemerken, wie hinter dem Jux der Ernst zum Vorschein kommt. Auch in der Welt der Schule gibt es eine Metaphysik ­ der sogenannte Ernst des Lebens. Insofern ist es ganz konsequent, wenn alles in dieser Inszenierung auf den Abschied zuläuft. Die Schule ist aus und die Schüler finden sich auf dem Feld wieder. “Nach Osten!”, heißt es bei Wagner. Konwitschny läßt einen Knaben erscheinen, Gottfried, den neuen Herzog von Brabant, den Wagner am Ende seiner Oper zum “Führer” ernennt. Der wunderbare Knabe ist der Vorschein des totalitären Deutschland. Das hat die Befragung des “Lohengrin” ergeben.

Klaus Georg Koch | 20.01.98

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Media Type/Label
Technical Specifications
192 kbit/s CBR, 44.1 kHz, 272 MByte (MP3)
Remarks
In-house recording
A production by Peter Konwitschny (premiere)