Lohengrin

Andris Nelsons
Chor und Orchester der Bayreuther Festspiele
Date/Location
19 August 2012
Festspielhaus Bayreuth
Recording Type
  live   studio
  live compilation   live and studio
Cast
Heinrich der Vogler Wilhelm Schwinghammer
Lohengrin Klaus Florian Vogt
Elsa von Brabant Annette Dasch
Friedrich von Telramund Thomas J. Mayer
Ortrud Susan Maclean
Der Heerrufer des Königs Samuel Youn
Vier brabantische Edle Stefan Heibach
Willem Van der Heyden
Rainer Zaun
Christian Tschelebiew
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Von Ratten und Schwänen

Betrachtet man die zeitliche Reihenfolge der Premieren am Grünen Hügel, hätte eigentlich Hans Neuenfels’ Inszenierung des Lohengrin in diesem Jahr zum letzten Mal auf dem Spielplan stehen müssen. Aber bereits im letzten Jahr stand fest, dass 2015 nicht der Lohengrin, sondern Baumgartens Tannhäuser aus dem Jahr 2011 nach vier Jahren aus dem Programm genommen wird. Begründet wurde diese Entscheidung offiziell mit dem Hinweis darauf, dass man keine Möglichkeiten mehr habe, das riesige Bühnenbild für die Produktion zu lagern. Inoffiziell macht sich allerdings die Vermutung breit, dass es dem großen Erfolg von Neuenfels’ Inszenierung zuzuschreiben ist, dass der Lohengrin nun noch ein Jahr länger im Programm bleibt, was ja mit Blick auf das Publikumsinteresse durchaus nachvollziehbar wäre. Mittlerweile hat nämlich diese Produktion einen ähnlichen Kultstatus erreicht wie vor ein paar Jahren Herheims Parsifal-Inszenierung, da sie über die Ratten-Metapher den Blick auf den Kern der Erzählung nicht verschließt und trotzdem etwas völlig Neues bietet. Neuenfels’ Ansatz, Wagners nach eigenem Bekunden traurigste Oper als Laborexperiment zu betrachten, geht im Großen und Ganzen nämlich auf, auch wenn sich immer noch nicht jeder Regieeinfall erschließt.

Fraglich ist, welche Funktion die Titelfigur in diesem Laborexperiment eigentlich einnimmt. Wenn Lohengrin während des Vorspiels vor einer verschlossenen weißen Tür steht und die komplette weiße Wand nach hinten schiebt, bis ein großer weißer Raum im Bauhausstil sichtbar wird, lässt sich nicht eindeutig entscheiden, ob er ein Teil des Experiments ist und ihm am Ende der Ouvertüre zunächst der Ausbruch aus dem Labor gelingt, wenn er in gleißendem Licht durch die sich öffnende Tür entschwindet, oder ob er dieses Experiment in Gang gesetzt und mit dem Verschieben der Wand das Labor dazu geschaffen hat. Mit seinem ersten offiziellen Auftritt im ersten Akt lassen sich beide Sichtweisen rechtfertigen. Wenn er als Streiter für Elsa auftritt und die Ratten den Schwan, der Lohengrin eigentlich an Land bringt, in einer schwarzen Barke, die eher an einen Sarg erinnert, hinterhertragen, könnte dies einerseits bedeuten, dass er aus eigenem Antrieb zurückgekehrt ist, um Elsa zu retten, und den Schwan als Symbol der Rettung mitbringt. Andererseits könnte es ihn aber auch als Leiter des Experiments in den vom ihm ausgelösten Versuch zeigen, wobei in beiden Fällen nicht zuletzt auch durch den gerupften Vogel, der nach Lohengrins Sieg über Telramund aus dem Schnürboden herabgelassen wird, bereits angedeutet wird, dass das Experiment zum Scheitern verurteilt ist.

Ob man nun die aufwendig gestalteten Rattenkostüme (Kostüme und Bühnenbild: Reinhard von der Thannen) niedlich oder abstoßend findet, mag jeder selbst entscheiden. Parallelen zu menschlichem Verhalten lassen sich jedenfalls nicht leugnen. Bei den Schwan-Motiven, die sich durch die ganze Inszenierung ziehen, dürfte in Bezug auf die ästhetische Schönheit schon eher Einigkeit im Publikum bestehen, ob es nun die anmutige riesige Schwanenfigur ist, die in Elsas Gemach im zweiten Akt in weißem Glanz erstrahlt, oder die aufwendig gestalteten wallenden Federkleider, die Elsa und Ortrud auf dem Weg zur Hochzeit tragen und Elsa mit den weißen Federn wie einen weißen Schwan, Ortrud hingegen als ihr schwarzes Gegenstück erscheinen lassen. Umso abschreckender gelingt dann der Schluss, wenn die Barke erneut auftaucht, dieses Mal mit einem großen Ei – wahrscheinlich einem Schwanenei, wenn man dem Tuch, das das Ei bedeckt und auf dem ein weißer Schwan abgebildet ist, Bedeutung zumessen darf -, und dem Ei Gottfried als embryonenhafte Missgeburt entschlüpft und seine Nabelschnur wie Weißwürste auf die zu vollständigen Menschen mutierten Ratten verteilt, die alle leblos zu Boden gesunken sind. Das Experiment ist gescheitert, und Lohengrin nimmt nach Verklingen der letzen Töne wieder seine Ausgangsposition ein, jetzt allerdings nicht mehr in Weiß, sondern in Schwarz.

Auch im fünften Jahr stellt man sich immer noch die Frage, ob es der zahlreichen Videoeinspielungen von Björn Verloh, die zwar gerade mit Blick auf die “drei Wahrheiten” im Lohengrin schlüssige Geschichten erzählen, bedarf, da sie teilweise eine Überfrachtung der Szene darstellen und von der eigentlichen Handlung auf der Bühne ablenken. So läuft man beispielsweise Gefahr, den Kampf zwischen Lohengrin und Telramund im ersten Akt regelrecht zu verpassen, wenn man sich auf die Videoeinspielung konzentriert, und ist beinahe schon überrascht, dass Telramund plötzlich besiegt auf dem Boden liegt. Auch die verunglückte Kutsche zu Beginn des zweiten Aktes, die von den Ratten geplündert wird, erklärt sich genauso wenig wie die Tatsache, dass Telramund Lohengrin im dritten Akt im Rattenkostüm angreift, während Neuenfels mit Ausnahme der vier Edlen ansonsten konsequent darauf verzichtet, die Hauptfiguren mit Ratten-Attributen zu versehen.

Überwältigend gelingt wie schon in den Vorjahren die musikalische Umsetzung. Edith Haller hat in diesem Jahr die Partie der Elsa übernommen, die in dieser Inszenierung vier Jahre lang sehr erfolgreich von Annette Dasch interpretiert wurde. Dabei gestaltet sie im Vergleich zu Dasch Elsas große Traumerzählung im ersten Akt “Einsam in trüben Tagen” weniger lyrisch, sondern eher jugendlich-dramatisch und wirkt dabei in ihrer Interpretation mehr wie eine entschlossene junge Frau als wie ein naives Mädchen. Der Glaubhaftigkeit ihrer Unschuld tut das jedoch keinen Abbruch, zumal damit das in ihr wachsende Misstrauen, was letztendlich dazu führt, dass sie Lohengrin die verbotene Frage stellen muss, noch nachvollziehbarer wird. Petra Lang verkörpert als Ortrud stimmlich und darstellerisch einen kongenialen Gegenpart. Wenn sie mit ihrem dramatischen Mezzo und eindringlichem Spiel Elsa den Zweifel ins Herz pflanzt, gewinnt sie absolut dämonische Züge. Thomas J. Mayer steht ihr mit kräftigem Bariton als Friedrich von Telramund zur Seite und überzeugt darstellerisch ebenfalls als absolut böser Charakter. Warum Neuenfels den König Heinrich als wankelmütigen und schwachen Charakter anlegt, bleibt auch im fünften Jahr diskutabel. Wilhelm Schwinghammer setzt Neuenfels’ Personenregie jedenfalls überzeugend um und punktet mit solidem Bass. Wie schon in den Vorjahren begeistert Samuel Youn als Heerrufer mit großem Bariton, und auch Stefan Heibach, Willem Van der Heyden, Rainer Zaun und Christian Tschelebiew wissen, als vier Edle zu überzeugen.

Ob es derzeit einen besseren Interpreten für die Titelpartie als Klaus Florian Vogt gibt, der den Lohengrin im Premierenjahr 2010 nach drei Aufführungen für den erkrankten Jonas Kaufmann übernommen und in den Folgejahren in allen Aufführungen interpretiert hat, ist fraglich. Mit seinem lyrischen, nahezu ätherischen Tenor verleiht er dem Gralsritter eine überirdische Aura, die auch durch seine optische Erscheinung unterstützt wird. Die Gralserzählung wird in Vogts Interpretation zu einem weiten Höhepunkt des Abends. Bei seiner hervorragenden Diktion dürfte es auch der Zuhörer, der den Wortlaut des Librettos nicht so genau kennt, verkraften, dass in Bayreuth noch immer auf eine Übertitelung verzichtet wird. Andris Nelson arbeitet mit dem Orchester der Bayreuther Festspiele die Klangvielfalt der Partitur differenziert heraus und vermag sowohl mit dem ätherischen Sirren der Geigen im Vorspiel das Publikum zu hypnotisieren, als auch mit zupackendem Verve die Dramatik an anderen Stellen voluminös herauszuarbeiten, auch wenn darunter teilweise die Textverständlichkeit der Solisten leidet. Der von Eberhard Friedrich exzellent einstudierte Chor glänzt einmal mehr durch Homogenität und Präzision, so dass die großen Chorpassagen den Zuhörern ein weiteres überwältigendes Klangerlebnis bieten. Auch darstellerisch lassen sich die Sängerinnen und Sänger des Chors als Ratten wunderbar auf Neuenfels’ Regie-Konzept ein. So gibt es am Ende einhelligen, frenetischen Applaus für alle Beteiligten.

FAZIT

Neuenfels’ Inszenierung dürfte szenisch im Moment die erfolgreichste Aufführung am Grünen Hügel sein. Von daher ist es gut, dass sie auch nächstes Jahr noch zu erleben ist. Musikalisch bewegt sich der Abend auf absolutem Festspielniveau.

Thomas Molke | Aufführung im Festspielhaus Bayreuth am 06.08.2014

Rating
(6/10)
User Rating
(3/5)
Media Type/Label
Technical Specifications
320 kbit/s CBR, 44.1 kHz, 464 MByte (MP3)
Remarks
In-house recording from the Bayreuth festival
A production by Hans Neuenfels (2010)