Lohengrin

Tomáš Netopil
Opernchor und Extrachor des Aalto-Theaters
Essener Philharmoniker
Date/Location
1 April 2017
Aalto-Theater Essen
Recording Type
  live   studio
  live compilation   live and studio
Cast
Heinrich der Vogler Almas Svilpa
Lohengrin Daniel Johansson
Elsa von Brabant Jessica Muirhead
Friedrich von Telramund Heiko Trinsinger
Ortrud Alexandra Petersamer
Der Heerrufer des Königs Martijn Cornet
Vier brabantische Edle Andreas Baronner
Mateusz Kabala
Joo Youp Lee
Mario Tardivo
Gallery
Reviews
Online Musik Magazin

Auch die allerschönste Musik hilft diesen Frauen nicht

Die Verführbarkeit der Volksmassen hat ja schon so mancher Lohengrin-Regisseur zum Thema gemacht. Kein Wunder: Arg schnell und alles andere als reflektiert wechselt der Chor die Fronten, steht gerade noch hinter Telramund, knickt umgehend angesichts der so reinen Elsa ein und liegt ein paar Minuten später einem Unbekannten zu Füßen. Und Lohengrin als sektiererischer, populistischer Politiker – alles dagewesen. In diesem Terrain bewegt sich auch Tatjana Gürbaca, wenn sie den Heerrufer und die sächsisch-thüringische Gefolgschaft König Heinrichs in den Dienstuniformen der Bundeswehr aufmarschieren und auf eine brabantische Zivilgesellschaft treffen lässt, die sich schnell für den Krieg begeistert. Lohengrin als die das Volk einigende Projektion, die verbindende Idee, das ist ja weder falsch noch neu. Nur geht Tatjana Gürbaca intelligenter damit um als mancher Kollege.

Die Chorszenen sind kunstvoll durchchoreographiert, immer wieder eingefroren oder in Zeitlupe, was den Realismus bricht. Trotz des an sich ausgesprochen schlichten Bühnenbilds von Marc Weeger – eine große weiße, recht enge Treppe (die noch dazu vom Ende des zweiten Aufzugs an verfremdend als hölzernes Bühnenelement gezeigt wird) – entstehen da ein paar eindrucksvolle Bilder, durch die heutigen, in der abenteuerlichen Farbwahl gleichwohl nicht alltagstauglichen Kostüme (Silke Willrett) in unsere Gegenwart versetzt. Man ahnt in der nach Orientierung gierenden Gesellschaft die unsrige, ohne dass das plakativ überzeichnet wäre. Am Ende steht ziemlich trostlos die Desillusionierung, dass es mit der vermeintlichen Lichtgestalt nichts war. Ein strahlender Held war dieser Lohengrin ohnehin nicht, mit Mantel und Hut eher ein Fremder und Außenseiter, der zufällig vorbei schaut. Eine Prise Joseph Beuys steckt in ihm, bis er die Uniform an und die Individualität ablegt. Und der Schwan? Der ist von Beginn an der kleine verschwundene Gottfried, der laut Libretto zum Schwan verzaubert wurde; hier ein sichtlich misshandeltes Kind, das am Ende blind seinen Weg sucht. Ein Anführer wird der bestimmt nicht.

Das ist aber nur eine Geschichte, die die Regisseurin verfolgt. Die spannendere ist die von Elsa und Ortrud – zwei Frauen, die nach ihrer Rolle in der Männergesellschaft suchen und denen die Sympathien des Regieteams gehören. Elsa wandelt sich vom biederen Mädchen zur selbstbewussten Frau, die in der Hochzeitsnacht aktiv den Gatten zu verführen versucht, während der ungerührt von seiner edlen Herkunft singt – das muss sie in ihrem erwachenden Selbstwertgefühl furchtbar kränken. Inszeniert ist da kammerspielartig die Geschichte einer ganz gegenwärtigen Kommunikationskatastrophe, mit unterschwelligem bösem Witz. Ortrud wäre die geborene Anführerin, fanatisch im Anspruch auf ihren ererbten Platz als Fürstentochter, in ihrer Rationalität angesichts der Lohengrin-Hysterie nicht unsympathisch. Wie man auch ihrem Gatten Telramund am ehesten vorwerfen könnte, diese Frau unterdrücken zu wollen. Die Welt ist hier keineswegs so eindeutig in Gut und Böse unterteilt, wie man bei einer als “romantisch” titulierten Oper meinen mag. Ortrud und Elsa sind am Ende einen Moment lang Verbündete – Verliererinnen in dieser Männergesellschaft.

Man kann der in der Personenregie bestechend genauen Regie vorwerfen, eine Spur zu theoretisch geraten zu sein. Nicht zuletzt die heftigen Reaktionen am Ende der Premiere – die Zustimmung schien die Ablehnung leicht zu übertreffen – zeigen aber, dass die oft überraschenden, nur selten abwegigen Bilder etwas auslösen. Und die Regisseurin hört sehr genau auf die Musik (nebenbei: es wird durchweg mit exzellenter Textverständlichkeit gesungen). Mit Tomáš Netopil am Pult der ganz ausgezeichneten Essener Philharmoniker hat sie einen herausragenden Partner. Der hat in den Kammerspielszenen die Ruhe weg – in Elsas Auftritt im ersten, im Gespräch zwischen Elsa und Ortrud im zweiten, in der Brautgemachszene des dritten Aufzugs kostet er mit betörender klanglicher Schönheit diese Musik aus, ohne den Spannungsbogen zu verlieren. Umgekehrt haben die Massenszenen viel Energie, ohne je lärmend zu werden – mit brillanten Blechbläsern auf der obersten Galerie des Zuschauerraums. Und vielleicht das Schwierigste: Die Übergänge von der einen Sphäre zur anderen gelingen ganz organisch ohne Bruch. Wenn man mäkeln wollte, dann vielleicht, dass das Vorspiel noch zu wenig entmaterialisiert, das “gesegnet sollst du schreiten” zu wenig überirdisch gerät, aber das ist Kritik auf sehr hohem Niveau. Dirigent und Orchester müssen mit dieser Interpretation kaum einen Vergleich scheuen, auch nicht den mit der Vorgängerproduktion unter Stefan Soltesz (hier nachzulesen) – Soltesz’ technische Perfektion hatte ja mitunter etwas Steriles, Undramatisches. Netopil lässt die Holzbläser “atmen”, gibt ihnen mehr Freiheiten, hat viel Gespür für die dramatische Entwicklung und auch für den großen Spannungsbogen, und er “trägt” die Sänger.

Dazu gehören auch der von Jens Bingert sehr gut vorbereitete Chor und Extrachor, (fast) immer sehr präzise, nie mit festem Klang, sondern auch im kraftvollen Fortissimo noch nuanciert. Daniel Johansson ist ein leichter, nicht zu heller Lohengrin mit einer leicht melancholischen Einfärbung, was gelegentlich ein wenig an Operette erinnert. Er hat aber Kraft und Höhe und gewinnt vor allem im Brautgemach an stimmlichem Format – gleichwohl muss man am Ende ein wenig um seine Stimme bangen. Jessica Muirhead gibt ein eindrucksvolles Rollendebut als Elsa mit hoher Intensität im Bereich von Pianissimo bis Mezzoforte; darüber fehlen ein wenig die dramatischen Reserven, wobei sie sicher in diese Partie weiter hineinwachsen wird, und die Bühnenpräsenz besitzt sie sowieso. Katrin Kapplusch hat für die Ortrud eine recht kleine Stimme, singt die Partie aber mit großer Energie und ohne zu forcieren. Heiko Trinsinger ist ein hell timbrierter, dramatischer Telramund, ein wenig eindeímensional auf Forte-Attacken setzend. Almas Svilpa singt einen soliden König Heinrich, Martijn Cornet ist ein leichtgewichtiger, in der Höhe enger Heerrufer.

FAZIT

Spannender Wagner-Abend: Eine Regie mit vielen bemerkenswerten Momenten, ein akzeptables Ensemble und ein großartiges Orchester, Chefdirigent Tomáš Netopil eingeschlossen.

Stefan Schmöe | Premiere im Aalto-Theater Essen am 4.Dezember 2016

rp-online.de

“Lohengrin” als Familiendrama

Tatjana Gürbaca triumphiert mit Wagners Oper im Essener Aalto-Theater.

Die meisten Opernregisseure fürchten sich vor Wagners Längen. Tatjana Gürbaca dagegen kostet Wagners gedehnte Zeit in vollen Zügen aus. Denn die Regisseurin besitzt einen unfehlbaren Spürsinn für rumorende Subtexte und spannungsreiche Widersprüche zwischen Musik und Text, die sie in verblüffende Bilder zu bannen weiß. So gelingen ihr immer wieder aufregende Opernabende, wie nun in der Essener Aalto-Oper mit ihrer furiosen “Lohengrin”-Deutung, die Maßstäbe setzen dürfte. Im Vorspiel ist ein Wald per Video auf einen Gaze-Vorhang projiziert. Leise bewegen sich Blätter und Grashalme im Halbdunkel des Blätterdachs. Sehnsucht, Idylle und Bedrohung melden sich gleichzeitig zu den weltentrückten Klängen. Elsa tritt aus der Gasse vor den Vorhang, schaut träumend auf den Wald. Dann wird der Vorhang halb transparent und zeigt dahinter eine stumme Szene: Ortrud führt den kleinen Gottfried an der Hand. In der nächsten Szene sitzt Gottfried mit roter Krone an einem Tisch, seine Schwester Elsa ihm gegenüber. Von hinten nähert sich Telramund, will Elsa zärtlich übers Haar streichen, zögert. Mit diesen kurzen Szenen gelingt es Gürbaca, die ganze Vorgeschichte des “Lohengrin” zu erzählen und damit die verstrickte Personenkonstellation aufzudecken: Telramund liebte die noch unmündige Elsa, Ortrud war nur zweite Wahl und weiß dies wohl. Dieses fatale Dreieck ist für Gürbaca der Schlüssel ihrer Deutung, die sie mit präziser Wucht erzählt. Lohengrin bleibt in dieser Konstellation ein Fremder, die Zwänge seiner Grals-Herkunft wirken wie eine soziale Behinderung, die ihm menschliche Beziehungen unmöglich machen. Oft verschränkt er die Arme, als komme er nicht aus sich heraus. Sein Erscheinen geschieht beiläufig, denn die Erlösungs-Hysterie des Volks richtet sich ganz auf den Schwan. Und der ist in Essen weder Plüschtier noch Lichtsäule, sondern der misshandelte, verletzte Gottfried, der allgegenwärtig ist und manchmal wie eine tote Puppe an Lohengrin klebt und im Brautgemach einen gellenden Schrei ausstößt, als es einen Moment lang so aussieht, als würde das Paar sich doch noch finden. Das ist nur einer der vielen Gänsehaut-Momente, die diesen Abend zum Ereignis machen. Zu rühmen wäre noch so vieles, die großartige Chorregie, die schlichte, sehr steile Treppe, die so virtuos bespielt und beleuchtet wird, die hinreißende Szene mit dem unendlich langen Schleier vor dem Münster. Und natürlich Tomá Netopils hochsensibles, atmendes Dirigat, das bestens aufgelegte Orchester und das durchweg leicht und jugendlich klingende Sängerensemble, angeführt von Jessica Muirheads berückender Elsa, Daniel Johanssons hochdifferenziert singendem, pianotauglichem und zugleich heldischem Lohengrin, Katrin Kappluschs berührender, schlauer Ortrud mit schlankem Mezzo und Heiko Trinsingers rasendem Telramund. Perfekt und klangschön, makellos intonierend auch der Chor.

Regine Müller | 6. Dezember 2016

concerti.de

Weiße Stufen im blau-goldenen Fluss

Tatjana Gürbaca fehlt der Wagner-Instinkt, aber Chor und Orchester triumphieren über alle Missverständnisse der Regie.

Über die ganze, bekanntlich fast vier Stunden lange Strecke hält Thomas Netopil diese vielleicht romantischste aller Partituren in einem – tatsächlich! – blaugolden schimmernden Fluss. Die geradezu aufregenden dynamischen Steigerungen werden organisch aus den musikalischen Strukturen entwickelt. Der Farbenreichtum dieser Musik, die Selbstverständlichkeit, mit der die vielen Instrumentalsoli artikuliert werden, hat bei Netopil und den Essener Philharmonikern etwas geradezu Berauschendes.

Das Volk im Dauerzustand der Gerührtheit

Leider kann die Inszenierung von Tatjana Gürbaca mit dieser Ausnahmequalität nicht mithalten. Ihre Stärke ist die genau beobachtete, kleinteilig aufgefächerte Führung von Solisten und Chor, ihre Schwäche tritt vor allem im oft instinktlosen Umgang mit Wagners dramatischen Abläufen offen zu Tage. So bebildert Gürbaca das Vorspiel mit aus Elsas Sicht gezeigten, verschiedenen Kammertableaus. Diese sinnlich-abstrakte, einzigartig durchlichtete Musik verträgt jedoch offensichtlich eine konkrete Bebilderung nicht, zumal die Perspektive Elsas über den ganzen Abend nicht wieder kehrt. Wenn der König, der sauber singende, etwas ausstrahlungsarme Almas Svilpa, die Reihen der Brabanter im klinisch weißen, klaustrophobisch engen Raum abgeht, sinken diese bewusstlos zu Boden. Später löst ein offenbar zombiehaft wiederbelebter, weiß gekleideter Junge als Schwanenwunder Faszination aus, was dem unauffällig von der Seite auftretenden, genauso ausstrahlungsarmen Lohengrin offenbar sofort die Herzen des Volkes zufliegen lässt, das sich hinfort in einer Art Dauerzustand der Gerührtheit befindet. Am Aktende reckt der König eine Maschinenpistole hoch, es wird ein Transparent mit der Aufschrift „Krieg“ hereingetragen und alle jubeln natürlich. Die Rührung ist vergessen, kommt aber später mehrfach zurück.

Unnötige Überdeutlichkeit und unzulässige Verkleinerungen

Es sind diese unmotivierten Sprünge um Wagners Musik und Libretto herum, in Tateinheit mit unnötiger Überdeutlichkeit und unzulässigen Verkleinerungen, die letztlich dazu führen, dass Tatjana Gürbaca „Lohengrin“ verfehlt, am eklatantesten vielleicht in der Schlussszene.

Szenenbild “Lohengrin”Da will sie eine Solidarität zwischen den beiden Frauenfiguren zeigen, deren intensive Begegnung sie im zweiten Akt hochspannend gearbeitet hat. Ortrud will Elsa Trost spenden, nähert sich ihr verzweifelt und Schutz spendend, bricht dann in ihre im Stück stehenden Rachephantasien aus, um danach wieder in die vorherige Haltung zurückzugehen. Dieses ausgestellt schizophrene Verhalten findet im Spiel von Katrin Kapplusch, die sich im Lauf des Abends selbst im Merkel-artigen Kostüm als hervorragende Darstellerin erweist, keinerlei Motivation.

Durchwachsene Sängerbesetzung

Überhaupt, die Sänger: Daniel Johansson muss den Lohengrin durchgängig stemmen und steuert zudem viele Töne von unten an, Heiko Trinsinger wird als Telramund viel zu oft viel zu laut und flüchtet sich zudem häufig in abgestandene Opernposen, und Martijn Cornet ist der Heerrufer-Partie mit seiner lyrischen Stimme – noch – nicht ganz gewachsen. Jessica Muirhead intoniert rein, phrasiert fein und eigenständig, hat aber eine für die Partie zu lyrische Stimme. Ist Expansion gefordert, verrutscht der Stimmsitz und das obere Register vibriert so ungesund wie unschön. Sollte sie die Partie öfter singen, scheinen Beschädigungen dieser wunderschönen Stimme nicht ausgeschlossen.

Rückhaltlos zu bejubeln ist hier einzig der resonante, wortdeutliche und spürbar engagierte Chor unter der neuen Leitung von Jens Bingert. „Lohengrin“ auf der Bühne bleibt schwierig!

Andreas Falentin | 5. Dezember 2016

nmz.de

Kleinste Nuancen – Richard Wagner „Lohengrin“ im Aalto-Theater Essen

Die Opern von Richard Strauss, Giacomo Puccini und vor allem Richard Wagner gehörten und gehören noch immer zum Kernrepertoire sowohl der Essener Philharmoniker als auch des Spielplans des Essener Aalto-Theaters – Stefan Soltesz hat dieses Repertoire während seiner langen Amtszeit als Generalmusikdirektor und Opernintendant in Personalunion von 1997 bis 2013 intensiv gepflegt. Die Philharmoniker wissen also sehr genau, wie Wagner „geht“. Aktuell zu erleben im „Lohengrin“, der am Wochenende Premiere feierte.

Soltesz’ Nachfolger Tomas Netopil setzt dabei durchaus eigene Akzente, wählt gute, rasche Tempi, schafft Transparenz im Zusammenklang von Streichern, Holz- und Blechbläsern und koordiniert vor allem Graben und Bühne geradezu perfekt! Schon allein diese orchestrale Brillanz ist ein Highlight dieser Produktion. Im Publikum deshalb für den Dirigenten und seine Philharmoniker völlig zu Recht rauschender Applaus bereits zur Pause nach dem ersten und dem zweiten Akt.

Wenn sich der Vorhang nach dem ultimativen Finale senkt, gehört der Applaus aber auch Tatjana Gürbaca, der Regisseurin dieses „Lohengrin“ und ihrem Team (Bühne: Marc Weeger, Kostüme: Silke Willrett). Lautstarke „Buhs“ gab es vereinzelt auch. Aber weshalb?

Gürbaca gelingt eine überzeugende Interpretation, in der es (auch) um aussichtslosen Machterhalt geht: König Heinrich der Vogler scheitert daran, seinem Volk, den Brabantern, eine Perspektive aufzuzeigen. Da kommt eine Lichtgestalt wie Lohengrin gerade recht, der dem Volk irgendeine bessere Zukunft verheißt. Obwohl Lohengrin in Gürbacas Lesart eigentlich gar keine Lichtgestalt ist. Eher ein „ganz normaler“ Typ, zwar geheimnisumwittert, weil niemand um seine Herkunft weiß. Aber er kümmert sich! Animiert das Volk, voller Überzeugung in den Krieg zu ziehen. Fähnchen werden geschwungen, ein Transparent mit der Aufschrift „Krieg“ wird ausgebreitet, schäumende Stimmung. Alle sind begeistert, die Truppen formieren sich. Zum Krieg aber kommt es nicht. Weil Elsa, die gefährliche Hexe und vermeintliche Mörderin an ihrem Bruder Gottfried, die Lohengrin eigentlich in ihrer „Ehre“ wiederherzustellen gedenkt, sich nicht an das Frageverbot hält. In der Liebesnacht ignoriert sie das „Nie sollst du mich befragen“ – und das Unheil nimmt seinen Lauf.

Gürbacas Bühnenbildner schafft für die riesig breite Essener Opernbühne einen engen Raum: hohe Wände, riesige Treppenstufen. Da wird im eigenen Saft geschmort. Eine Umgebung, in der es Agitatoren und Meinungsmacher leicht haben. König Heinrich (herausragend: Almas Svilpa) wirkt da eher wie ein Ministerialdirektor der Bonner Republik. Und es ist eine Umgebung, die dichte Personenführung zulässt. Ohne großen Gesten! Stattdessen prägen kleinste Nuancen in den Beziehungen der Protagonisten untereinander Gürbacas Lesart. Sie thematisiert das Gegensatzpaar Individuum und Kollektiv und erklärt scheinbar so simpel und doch so kunstvoll die manipulative Beeinflussbarkeit sowohl von Massen als auch einzelner Menschen.

Viel Psychologie ist hier im Spiel. Man muss allerdings genau hinsehen – und die Inszenierung womöglich noch ein zweites Mal hören und sehen. Das lohnt sich, denn es wird vortrefflich gesungen. Da ist, allen voran, der schwedische Gasttenor Daniel Johansson in der Titelrolle mit sehr balsamischer, nie aufdringlicher Stimme – kein heldenhafter Erlöser, eher ein Verführer. Jessica Muirhead gibt eine erst kindlich-naive Elsa, die im 2. und 3. Akt erwachsener wird. Eine plausible Entwicklung dieser Figur, die Muirhead stimmlich wie darstellerisch nachvollzieht. Katrin Kapplusch und Heiko Trinsinger treffen genau den richtigen, fiesen Ton für Ortrud und Telramund, Almas Svilpa ist der hilflose König Heinrich. Ganz prächtig agiert der Chor (Jens Bingert), die Essener Philharmoniker fühlen sich (siehe oben) bei Wagner ohnehin wie ein Fisch im Wasser.

Christoph Schulte im Walde | 06.12.2016

der-neue-merker.eu

Eine heftig bejubelte Premiere. Musikalisch ist das einschränkungslos nachvollziehbar. Darum sei entgegen dem üblichen Rezensions-Usus mit den Leistungen auf diesem Sektor begonnen. Die ESSENER PHILHARMONIKER haben vor Jahren schon unter Stefan Soltesz eine bedeutsame Interpretation des „Lohengrin“ geboten. Der jetzige GMD TOMÁS NETOPIL findet bei seinem ersten Dirigat des Wagnerschen Musikdramas sogleich den rechten Zugang: Klangschönheit bei allen Instrumentengruppen, sphärisches Schimmern, nobles Pathos (besondere Wirkung: die Fanfarenbläser auf einer der hinteren Emporen). Die Chöre (JENS BINGERT) besitzen hier elementare Wucht, dort luziden Piano-Wohllaut.

Für die Sänger stellt sogleich MARTIJN CORNET als markanter, jungmännlicher Heerrufer ein hervorragendes Zeugnis aus, ALMAS SVILPA folgt mit einem raumgreifenden Bassbariton als Heinrich der Vogler (die Leistung hätte mehr Beifall verdient). HEIKO TRINSINGER gibt den Telramund vielschichtig im Charakter, baritonal immer wieder aufbrausend. An seiner Seite KATRIN KAPPLUSCH als noch recht jugendliche Ortrud, auch stimmlich. Dass die Spitzentöne ein wenig grell geraten, wundert bei einer gestandenen Turandot freilich.

Elsa und Lohengrin: ein Traumpaar. Die britisch-kanadisch Sopranistin JESSICA MUIRHEAD vereinigt lyrische Zartheit mit kraftvoller Vokalresonanz; ihr Sopran klingt in allen Lagen gleich gut. Der Schwede DANIEL JOHANSSON singt den Lohengrin zum ersten Mal – man möchte es nicht glauben. Das Timbre erinnert ein wenig an das von Klaus-Florian Vogt, was das noble, fein lasierte Timbre angeht; allerdings klingt die Stimme erdhafter, maskuliner. Dieser Lohengrin vermittelt „Glanz und Wonne“ auf ideale Weise, dazu sieht der Sänger attraktiv aus.

Die Inszenierung stammt von TATJANA GÜRBACA, in Sachen Wagner erst vor kurzem mit dem „Holländer“ in Antwerpen vorstellig. Mit ihr sowie mit den Ausstattern MARC WEEGER (Bühne) und SILKE WILLRETT (Kostüme) gibt es im Programmheft ein Konzeptionsgespräch zu lesen. Man möchte es gerne als Deutung dessen heranziehen, was realiter geboten wird. Dazu gehört nämlich manch Rätselhaftes. Aber die Auskünfte (wie auch die an anderer Stelle zu lesenden Auslassungen des Dramaturgen MARKUS TATZIG) sind intellektuell einigermaßen hochgestochen und verbal verschwurbelt. Man hält sich also besser an das, was man auf der Bühne zu sehen bekommt und mit schlichtem Menschenverstand zu verarbeiten imstande ist.

Immerhin: die Erklärung „Eine zu klein gewordene Lebensscholle, die nach Veränderung verlangt“ taugt begrenzt zum Verständnis des Bühnenbildes. Auf welche Weise visualisiert sich das Konzept aber zuletzt? Durch eine nüchterne Treppenlandschaft mit überhohen Stufen, eingeengt von massiven Seitenwänden, welche seitlich sitzenden Zuschauern den Blick auf die Bühne versperren. Im Mittelakt schiebt Telramund (!) die Sichtblenden beiseite und man blickt in eine große, kühle Leere. Die weiteren „Zutaten“ nehmen für diese Bühnenidee auch nicht sonderlich ein. Dass man im Finalbild an den historischen Szeniker Adolphe Appia denken muss, ist ebenfalls kein wirkliches Plus. Optisch also kaum etwas, womit einem die Oper näher rückt.

Bei der Regie ist das anders. Auch für sie sprechen, wie bereits angedeutet, weniger konzeptionelle Erläuterungen als visuelle Ergebnisse. Bei einem in enger Räumlichkeit versammelten Chor ist große Aktion kaum möglich. Muss es bei Tatjana Gürbaca aber auch nicht. Sie versteht die Brabanter als ein wenig individualisiertes Kollektiv, welches von einer Hochstimmung in die andere fällt. Mal verhöhnt man Elsa als „Hexe“ (Kleidüberwurf beim ersten Auftritt), mal trägt man sie auf Händen (Zug zum Münster). Das Land, von den Ungarn bedroht, steckt in der Bredouille, weswegen ja auch Zuchtmeister „König Heinrich“ aufkreuzt, um die Menschen für den Krieg zu begeistern. Er verrichtet stoisch das ihm auferlegte Amt, nicht mehr. Ein Ausführer. Die braven und immer gehorchenden Brabanter dürften kaum glücklich mit ihm sein, allen „Heil“-Rufen zum Trotz.

Und dann kommt Lohengrin, aussehend wie ein Wanderhirte. Etwas Magisches geht von ihm aus, eine Wirkung, die nicht wenig der außerordentlichen Bühnenpräsenz von DANIEL JOHANSSON herrührt. Der gute Hirte denkt man und assoziiert ihn unwillkürlich mit Jesus Christus. Ihm lag das Volks erst zu Füßen, später forderte es seine Kreuzigung. Ähnlich heterogen und gefühlsschwankend verhält sich in Essen der „Lohengrin“-Chor.

Warum verlässt der Gralsritter seine außerirdische Welt? Er hört „da draußen“ von Elsas Not und will helfen (von sich aus oder aufgrund höherer Weisung?) Ihn begleitet ein Knäblein (Schwan, Gottfried?), welches über die empor gereckten Hände der Brabanter leicht unsicher, wie auf schwankendem Boden seinen Auftritt absolviert. Lohengrin selber taucht eher von ungefähr in der Menschenmasse auf. In all diesen Momenten von chorischer Euphorie und Hysterie weiß Tatjana Gürbaca zu faszinieren. Warum das Kollektiv immer wieder mal dahin sinkt und im 3. Akt ein Soldat offenbar epileptische Anfälle bekommt, entschlüsselt sich dem Zuschauer allerdings nicht. Und wie die Regisseurin den Brautchor vergackeiert, verärgert in solch oberflächlicher Albernheit nachdrücklich.

Die Brautgemach-Szene gerät indes hochspannend. Elsa und Lohengrin sind nicht alleine, der Knabe, von dem der Bräutigam nicht lassen zu wollen scheint, ist ständig um sie. Ein adoleszentes Alter Ego des gereiften Mannes, der das Leben seinerseits noch nicht beherrscht? Elsa will den attraktiven Mann – drastisch ausgedrückt – ins Bett bekommen, macht ihn an auf Teufel komm raus. Ihre erste Umarmung hält er schon mal nicht aus. Später flüchtet er sich immer wieder in schöne Worte („Atmest du nicht“). Wurde Lohengrin im „fernen Land, unnahbar euren Schritten“ etwa klösterlich und zölibatär erzogen und dadurch verklemmt? Ist ihm das „Elsa, ich liebe dich“ im 1. Akt lediglich vorschnell entschlüpft? Ist er zuletzt gar froh, dass er „nur ein Jahr an deiner Seite“ bei Elsa gar nicht absolvieren muss? Er kehrt zurück in seine ferne Enklave, von den Ereignissen aber doch nachhaltig gezeichnet. Das sind wirklich schmerzvoll erschütternde Momente der Inszenierung. An ihnen liegt es wohl auch, dass man Wagners Musik mit Tränen in den Augen hört.

Ein eigenwilliger Regieakzent wäre noch zu beschreiben, das Verhältnis Elsa-Ortrud betreffend. Die Gattin Telramunds ist ja nun wirklich die Bösartigkeit in Person. Beim Gang zum Münster ohrfeigt sie Elsa sogar und nimmt sie doch wenig später beschwichtigend und schwesterlich in die Arme. Das „Fahr heim, du stolzer Helde“ ist in Essen weniger Finale eines Racheakts, als eine letzte emanzipatorische Eruption. Die Aufführung am Aalto-Theater besitzt Fragwürdigkeiten, aber sie lässt nicht kalt. Insofern ist die einhellige Begeisterung des Publikums am Schluss doch irgendwie zu verstehen.

Christoph Zimmermann | Premiere am 4. Dezember 2016

Rating
(5/10)
User Rating
(3/5)
Media Type/Label
Technical Specifications
320 kbit/s CBR, 44.1 kHz, 483 MByte (MP3)
Remarks
In-house recording
A production by Tatjana Gürbaca (2016)