Parsifal

Horst Stein
Choeur du Grand Théâtre de Genève
Orchestre de la Suisse Romande
Date/Location
February 1982
Grand Théâtre Genève
Recording Type
  live   studio
  live compilation   live and studio
Cast
Amfortas Tom Krause
Titurel Peter Meven
Gurnemanz Kurt Rydl
Parsifal Jon Vickers
Klingsor Franz Mazura
Kundry Yvonne Minton
Gralsritter Volker Horn
Alfred Burgstaller
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Die Zeit

Der reine Tor und unsere Angst

Als Intendant, das war das Bekenntnis von Rolf Liebermann, habe man nicht das Recht, seine eigenen Kompositionen herauszubringen, weil man sonst seinen Kollegen die wenigen bevorstehenden Möglichkeiten einer Aufführung verbaue. Solange er ein Opernhaus leitete, in Hamburg wie in Paris, hielt er sich an diese Selbstbeschränkung. Er dehnte sie sogar aus: Anders als seine noch so großen Kollegen hat er in all den Jahren weder selber dirigiert noch inszeniert (und erst recht nicht gesungen).

Was nicht heißt, daß es ihn nicht zuweilen dazu gereizt hätte – in manch einer Probe, beispielsweise, war. ihm deutlich anzusehen, wie gern er es selber (besser) gemacht hätte. Jetzt, aller Ämter ledig, muß er nicht länger widerstehen. Das Angebot seines früheren Adlatus Hugues R. Gall nahm er an: „Nach 30 Jahren“, so ist es im Programmheft faksimiliert, „fühle ich mich wie der ewige Regieassistent, der sich endlich traut, Verantwortungen zu übernehmen, ohne sich hinter seiner Rolle als Theaterleiter oder Komponist zu verbergen.“ So präsentiert das Grand Théâtre von Genf die erste von vermutlich vielen Inszenierungen des Opern-Jubilars dieses Jahres, Wagners „Parsifal“ (Uraufführung in Bayreuth am 26. Juni 1882), und setzt damit gleich eine Orientierungsmarke, für das Stück im besonderen und die Operninterpretation im allgemeinen.

„Parsifal“ nach Hiroshima. Alle Versuche mit Gründerzeit, Faschismus, Kapitalismus, Futurismus, Science-fiction im „Ring“ mögen als modische Flucht aus dem Unbehagen über den angeblich unspielbar gewordenen Originalentwurf gelten. Alle Anstrengungen von Neu-Bayreuth, den „Parsifal“ aus der gefährlichen Nähe von Kult und Männerbund und Anti-Feminismus zu reißen, mögen dessen Neutralisation erreicht haben. Die von Wagner selber nur umrißhaft beantwortete, eher mit immer wieder neuen Mysterien ausgeweitete Frage nach dem Gral und damit der Metaphysik hat im nuklearen Zeitalter eine neue Dimension bekommen: die Angst. Immerhin ist es fast schon 37 Jahre her, daß die Katastrophe von Hiroshima 260 000 Tote forderte, eine Stadt zerstörte und eine Erde veränderte, aber das Wettrüsten nicht verhinderte.

Das „Bühnenweihfestspiel“ also als mahnender Appell, zudem in der Stadt, in der die Politiker seit Jahren sich selber, einander und die ganze Welt an der Nase herumführen? Ein genialer Einfall, eine notwendige Überlegung. Wagner als Mitglied der Friedensbewegung? Historisch eher fragwürdig, aber in der Denkrichtung des „Parsifal“ durchaus vorstellbar. Der „Karfreitagszauber“ als grüne Vorbereitung des Ostermarsches? Eine zwar nicht logische, aber auch nicht unglückliche Konsequenz.

Rolf Liebermann beginnt so, sein erster „Parsifal“-Akt verspricht dies, Landschaft und Schloß „Montsalvat“: in der Hitze der Atomexplosion ist alles zerschmolzen und zu vulkanischen Klumpen erstarrt, letzte Reste ehemaliger Strukturen sind noch erkennbar – hier Kopf und Faltenwurf einer Pfeilerfigur, dort das Gerippe eines gotischen Spitzbogens, die abgeknickten Säulenverbinder und die Plattformen ehemaliger Emporen. Diese Bilder (Bernard Daydé) haben eine gewaltige und furchtbare Ausdruckskraft: Mit den Augen erfaßbar, ergreifbar, ist die Katastrophe kaum direkter auf die Bühne zu bringen – und in all ihrer Anschaulichkeit bleibt sie um so unbegreifbarer, bleiben die Skrupellosikeit und Menschenverachtung unvorstellbar, mit der die Enscheidung zum Abwurf gefällt wurde (werden wird?).

Die Ritter in dieser Szene: Überlebende, die das Glück (das Unglück?) hatten, weiter existieren zu können (zu müssen?), die sich ihre Mäntel selber webten und ihr Geschirr eigenhändig töpfern. Die aber eben, und hier fängt die Konzeption an, sich selber festzulegen und zu verunsichern, nicht wirklich wieder anfangen, nicht realiter aufzubauen sich der Mühe unterziehen, sondern in dumpfer Gefolgschaft und trüber Erinnerung dem Kult huldigen als dem einzigen ihnen verbliebenen Sinn ihrer Existenz.

Die Kinder unserer Zeit? Die Manifestanten einer depressiven Gesellschaft? Der Ausdruck eines epidemisch schnell um sich greifenden Bewußtseins von Sinn- und Ziellosigkeit, von Resignation und Weltflucht? Rolf Liebermann mag sich heute als Warner und Mahner verstehen, als durch Erfahrung klug gewordener Seher – aber er ist, glaube ich, immer noch kein Kulturpessimist, Kein Defätist, kein Prediger des nahen Weltendes. Wo immer er früher seine Hand im Spiel hatte, wurden Grenzen durchbrochen, die Rahmen erweitert, die Möglichkeiten vergrößert. Auch dieser „Parsifal“ setzt zur Reflektion und Realisation des „Danach“ und „Darüber-hinaus“ an. Aber dann hatte der gelernte Prinzipal und ungelernte Praktiker doch einen Dramaturgen zuwenig.

Das zeigt sich spätestens im zweiten Akt. Klingsors Zauberschloß: die Atomzentrale des großen Vernichters, eine weite Halle mit Spiegeln an Wänden, Decken und Boden, in der das Individuum (Kundry, Parsifal) seine ganze Isolation, seine Verlorenheit, sein Ausgeliefertsein erfährt. Am hinteren Ende in einer Art Kommandostand Klingsor, im selbstgeschaffenen Käfig durch Hochspannung und Laserstrahlen geschützt.

Aber dieser Usurpator, der Menschen tötete, eine Stadt zerstörte und eine Erde veränderte, ist ein Bühnendämon geblieben: motiviert, aber nicht prädestiniert, nur ausgedacht, eine zur Figur gewordene Idee. Die Figur wird sichtbar, nicht jedoch die Idee. Dieser Schaltraum, in dem Planetenschicksale entschieden wurden und werden, erweist sich als der auf -zig Quadrat- und Kubikmeter ausgeweitete Prunksaal einer großbürgerlichen Welt, in der von Schrecklichem und Scheußlichem geredet wird, wo aber die Gefährlichkeit nur inihrem Schein besteht. Was uns wirklich bedroht, wird so verharmlost.

Daß für Richard Wagner das Reine, Heilige, die Elite durch eine Frau gefährdet, verletzt, versucht wird, mag die Psychoanalyse interessieren. Daß auch Rolf Liebermann den ins Bildhafte übertragenen Reiz des Irdischen brennpunktartig in der Erotik zusammengezogen sieht, ist wiederum nur die eine, die großartige Hälfte seines Inszenierungskonzeptes. Wenn Parsifal in diesem Zauberschloß mit einer psychedelischen Bilderorgie auf den Spiegelwänden begrüßt und überrumpelt werden soll – Projektionen zwischen Symbolismus und Dadaismus und Op-art, mit Schlemmer und de Chirico und geometrischem Schnickschnack und perspektivischem Zauber –, ist hier unsere moderne Erfahrungswelt transponiert, samt Medien-Kultur und Lustgewinn-Ersatz.

Chor und Reigen der Blumenmädchen auf einem brillanten Pas de deux (Moses Pendieton und Allison Chase) zu konzentrieren, bei dem eine liebende Umarmung getanzt wird, heißt hinweisen auf einen wesentlichen Aspekt menschlichen Verhaltens heute: die Reduktion auf eine Zweierbeziehung und die Isolation von der Umwelt. Daß er aber so getanzt wird, daß Parsifal die Szene zwar betrachtet, aber keineswegs selber attackiert wird, offenbart eine Distanz: Die Verführung geschieht höchstens noch subjektiv.

Und wer, was ist in diesem Konzept Kundry? Als Frau im Büßergewand mit der Frisur eines Punk-Mädchens tritt sie auf, als blau verschleierte Madonna gibt sie sich mütterlich. Da ist dann nicht mehr leicht erkennbar, wo eigentlich noch die „Schuld“ liegt, von der „erlöst“ werden muß.

Denn das, nicht wahr, müßte doch schließlich dabei herauskommen: die Erlösung durch den „reinen Toren“. Erlösung wessen, wovon und wozu? Das, mit Verlaub, bleibt, auch nach der Atomkatastrophe, die Frage. „Durch Mitleid wissend“ – was „weiß“ Parsifal, was wird ihm geoffenbart, wenn er von Kundry „als Muttersegens letzten Gruß der Liebe ersten Kuß“ erhält, aber mit „Amfortas! Die Wunde!“ reagiert? Zu was bricht er auf? Nur zu neuer, allenfalls ein bißchen veränderter kultischer Feier, zunächst im dunklen Kämmerlein (vor dem schwarzen Zwischenvorhang), dann im umgestalteten Spiegelsaal-Atombunker?

Ist die Welt wieder in Ordnung, wenn ein Projektor eine grünende Birke zwischen den Trümmern dieser Welt enstehen läßt? War unsere Angst so ohne Grund, so überflüssig? Läßt sie sich so einfach überwinden oder vergessen? Ist es so einfach? Dann müßten die wenige Schritte neben dem Grand Théâtre tagenden Politiker eigentlich längst die Schlußkommuniques unterschrieben haben.

Eine aufregende Frage also zu Beginn, mit einem verstörenden und wachrüttelnden ersten Halbsatz zu einer Antwort dann, die schließlich doch nur mit bühnenwirksamer, dramatisch klingender, pathosgeladener Leerformel das Problem zerredet. Erstaunlich genug, denn gerade der dem schönen Schein des gesellschaftlichen Alibis „Oper“ entkommene Rolf Liebermann hatte, was die Überlebenschancen menschlicher Kultur betrifft, in jüngster Zeit viel Realistisches wie Utopisches, jedenfalls viel Zukunftweisendes zu sagen.

Musikalisch auf der Bühne und im Orchestergraben die grundsoliden Leistungen eines von Horst Stein in gewohnter Verläßlichkeit dirigierten renommierten Ensembles: Tom Krause (Amfortas), Kurt Rydl (Titurel), Peter Meven (Gurnemanz), Jon Vickers (Parsifal), Franz Mazura (Klingsor), Yvonne Minton (Kundry).

Das „Parsifal“-Jahr hat also begonnen. Die Jahre der Angst aber sind noch nicht vorbei.

Heinz Josef Herbort | 12. Februar 1982

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(4/5)
Media Type/Label
Technical Specifications
606 kbit/s CBR, 44.1 kHz, 1.0 GByte (flac)
Remarks
A production by Rolf Liebermann (1982)
Looks like the sound track of the TV broadcast.