Parsifal

Thomas Hengelbrock
Balthasar-Neumann-Chor
Balthasar-Neumann-Ensemble
Date/Location
20 January 2013
Konzerthaus Dortmund
Recording Type
  live   studio
  live compilation   live and studio
Cast
Amfortas Matthias Goerne
Titurel Victor van Halem
Gurnemanz Frank van Hove
Parsifal Simon O’Neill
Klingsor Johannes Martin Kränzle
Kundry Angela Denoke
Gralsritter Hermann Oswald
Marek Rzepka
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Reviews
Die Welt

Zeitreise mit Hengelbrock – Wagner wie im Jahr 1882

Thomas Hengelbrock dirigiert „Parsifal“ in historischer Aufführung. Dazu gehören Geigen mit Darmseiten. Das Ergebnis ist überraschend gut. Auch dank des hervorragenden Sänger-Ensembles.

„Parsifal“, sagen erfahrene Dirigenten, „Parsifal“ klingt immer gut. Aus dem verdeckten Bayreuther Orchestergraben, für den Wagner sein letztes Werk komponiert hat, in einer normalen Bühnen-Orchester-Situation im Opernhaus, auf dem Konzertpodium. Hier hat Wagner die Summe seiner Komponistenerfahrung gezogen und raffiniert und perfekt ausgewogen instrumentiert. Unter kompetenter Leitung gibt es die vertrackten, Wagner-typischen Balanceprobleme nicht. Jetzt wissen wir: „Parsifal“ klingt auch gut, wenn man die historische Aufführungspraxis auf dieses Werk aus dem Jahr 1882 anwendet, sehr gut sogar.

Der Dirigent Thomas Hengelbrock hat das jetzt unternommen, in einer konzertanten Gemeinschaftsproduktion der Philharmonien in Dortmund und Essen mit dem Teatro Real in Madrid. Er geht so einen Weg weiter, den 2004 in Essen schon Bruno Weill in einem „Holländer“ mit der Cappella Coloniensis beschritten hatte. Das Bühnenweihfestspiel ohne Bühne klingt dunkler, weicher, romantischer, über weite Strecken auch transparenter, fast kammermusikalisch. Hengelbrock wählte eine tiefere Stimmung auf 438 Hertz, das Balthasar-Neumann-Ensemble spielt originale oder nachgebaute Instrumente. Die Geigen haben Darmsaiten, die von Wagner selbst konzipierte Alt-Oboe erklingt anstelle des Englischhorns, die Blechblasinstrumente älterer Bauart haben einen edel mattierten Glanz.

Raum für Holzbläser

Insgesamt treten Streicher und Blechbläser im Klangbild etwas zurück, lassen mehr Raum für die (ausgezeichneten) Holzbläser. Das Ergebnis ist vielschichtig und farbig – freilich keine grundstürzende Umwälzung der Hörerfahrungen mit „Parsifal“. Aber doch konsequenter, als Hengelbrocks letztlich gescheiterter Versuch, 2011 mit seinem Bayreuther „Tannhäuser“ dem Festspielorchester Erkenntnisse der historisch informierten Aufführungspraxis nahezubringen. Viel größeren Gewinn als Instrumente, Stimmung und daraus resultierende klangliche Details versprechen jetzt in seinem „Parsifal“ die aus der Alten Musik resultierenden Erfahrungen mit Spiel- und Vortragsarten.

Bemerkenswert ist die Flexibilität, Schnelligkeit und Entschiedenheit, mit der dynamische Wechsel umgesetzt werden. Dabei wagt und bewältigt Hengelbrock durchaus auch Extreme; im Piano-Bereich nähert sich der Klang manchmal der Grenze des Hörbaren, ohne an Intensität einzubüßen. Das gibt der „Parisfal“-Welt ein deutliches Relief, viel Licht und Schatten. Geschärfte Aufmerksamkeit für rhythmische Details beschert obendrein kleine, feine Überraschungen: das glucksend lachende Kind in Kundrys Erzählung oder die kraftlos wankenden und stolpernden Gralsritter im Bericht des Gurnemanz erkennt man plötzlich in musikalischer Imitation.

Die größte Qualität von Hengelbrocks Interpretation liegt in der rhetorischen Kraft und Dramatik, die er in diesem gelegentlich doch auch von hehrer Langeweile getragenen Mysterium aktiviert. Mit der Lehre der Affekte kennen sich die Spezialisten Alter Musik natürlich bestens aus. Wenn man das Balthasar-Neumann-Ensemble gehört hat, begreift man: auch Wagner muss davon eine Menge verstanden haben. Unter jeder Phrase kann diese Interpretation nämlich eine Haltung freilegen, die dann auch die gefürchteten Durststrecken spannend und ereignisreich macht. Was sonst leicht in trockener Vorgeschichte stecken bleibt, wird hier ein gegenwärtiger Konflikt.

Sänger-Ensemble mit Klasse

Hengelbrock hat ein hervorragendes Sänger-Ensemble gewinnen können. Ohne Ausnahme sind alle bereit und fähig, Feinheiten zu durchleuchten und die stimmliche Beherrschung der anspruchsvollen Rollen als selbstverständlichen Ausgangspunkt und nicht als künstlerisches Endergebnis zu sehen. Angela Denoke als Kundry und Frank van Hove als Gurnemanz waren noch vor dem Parsifal von Simon O’Neill, Matthias Goerne (Amfortas) und Johannes Martin Kränzle (Klingsor) in Dortmund die beherrschenden Sängerpersönlichkeiten.

Das leicht paradox klingende Fazit von Thomas Hengelbrocks Wagnerinterpretation in historischer Aufführungspraxis: Das Ergebnis klingt keineswegs rückwärtsgewandt oder museal, es führt selbst konzertant zu einer hochspannenden, gegenwärtigen und unmittelbar dramatischen Begegnung mit „Parsifal“. Bleibt nur ein Wunsch offen: eine Aufführung, die diese Impulse weiterführen könnte in richtiges, lebendiges Theater.

Ulrike Gondorf | 26.01.2013

nmz.de

So also hat sich Wagner das gedacht! Thomas Hengelbrock musiziert einen historisch informierten „Parsifal“

Die Spannung war groß. Hochgestimmt die Erwartungshaltung, von Thomas Hengelbrock, mehr noch von den Veranstaltern Konzerthaus Dortmund und Philharmonie Essen im Vorfeld nach Kräften befördert. Von beglückten Sängern war die Rede, von ganz neuer Transparenz im Orchester. Ein neuer Parsifal?

Ein neues Licht aufs Werk, soviel wird man sagen dürfen. Hinter der Welt des Fal-Parsis, der Erlösung durch den reinen Tor, ist eine andere Welt zu entdecken. So die Botschaft dieses Abends. Wie überhaupt die konzertante Form einer solchen Aufführung selber ein reiner Glücksfall ist, namentlich für den wagnerinteressierten Nicht-Wagnerianer. Weniger möglicherweise für die Eingefleischten. Dass Hengelbrock den Applaus nach dem ersten Akt per Übertitelung unterbinden wissen wollte, wurde ihm zischelnd angekreidet. Das sei hier doch kein „Gottesdienst“, hieß es da. Eine Bemerkung, die zeigte, dass Hengelbrock keineswegs auf bedingungslose Entzauberung setzte, auf Entmythologisierung oder dergleichen den aufrichtigen Wagnerianer kränkenden Schandtaten. Im Gegenteil, könnte man sagen.

Sicher, erkennbar wenig lag ihm am „Bühnenweihfestspiel“ als das dieser Parsifal seit seiner Uraufführung 1882 in Umlauf ist. Was in einem Konzerthaus ja auch zugegebenermaßer schlecht darstellbar ist. Nein, am Herzen lag Hengelbrock etwas anderes. Es war die Musik der zu Liebe er diesen grandiosen Festparcours ausgerichtet hatte. Was man im Übrigen sehen, mit Händen greifen konnte bevor hier überhaupt ein erster Ton erklungen war. Wie nämlich Hengelbrocks Balthasar-Neumann-Ensemble, aufgestockt auf eine ganze Hundertschaft, das erweiterte Podium des Dortmunder Konzerthauses ausfüllte, schalenartig hinten, an den Seiten erhöht, dies allein war und blieb über die gesamte Aufführung eine Augenweide und Erkenntnisquelle – eigentlich der wahre Gral dieses Abends. Trinket alle daraus, stand zwischen den Zeilen.

Apropos. So sehr Hengelbrock mit diesem gründlich historisch informierten Parsifal der verwässerten, der verunklarten Klangästhetik des Komponisten zur Seite springen wollte, in einem Punkt wollte, konnte, durfte er dem Bayreuther Klangmagier gerade nicht folgen – sich einen Orchestergraben ins Dortmunder Konzerthaus bauen lassen. Nicht die Musik im Dienst der Überwältigung, im Dienst dieses oder jenes Regiekonzepts – hier sollte sie selber im Zentrum stehen. Deshalb galt es, sie sichtbar zu machen, zu zeigen, woher der Klang kommt, wer ihn macht und was die schöne Entdeckung eines historischen Instrumentariums ist. So ziemlich alles war ja neu und anders. Weiche, zart ansprechende Holzflöten, sogenannte deutsche Oboen, im Einsatz heute noch bei den Wiener Philharmonikern sowie extra nachgebaute Alt-Oboen, die Wagner dem Englischhorn vorzog. Auch die Fagotte und vor allem die Klarinetten fügten sich in einen insgesamt weniger massiven, dafür dunkleren, tiefer führenden, intensiver leuchtenden Klang. Ein weiterer spektakulärer Nachbau die über eine Kurbel angeworfene Bayreuther Donnermaschine. Und auch das Blech fügte sich. Zwei Tenor-, eine Bassposaune, eine kleine Basstuba sorgten für Fülle, ohne Schreikrämpfe. 

Die Aufmerksamkeit, die Hengelbrock dem Parsifal-Instrumentarium gewidmet hatte, war umfassend. Zugleich, trotz aller Anstrengungen, keineswegs abgeschlossen. So saßen vor seinem Dirigentenpult nach wie vor Bratischsten, keine Spieler der Alt-Viola oder der (nach dem Instrumentenbauer genannten) Ritter-Bratsche. Freimütig räumte Hengelbrock ein, dass immer noch einiges zu leisten sei, um auch für die, wie Wagner fand, „näselnden“ Bratschen eine Lösung zu finden. Dafür spielten die Geigen natürlich auf Darmsaiten und durchgehend vibratolos, was eine seidige Färbung bewirkte. Erstaunlich zugleich, wie mühelos der Streicherkorpus dabei auch zu einem starken Ton fähig war. So sehr Hengelbrock mit seiner feinen Zeichnung, seinen geradezu femininen Einsätzen in diesen Parsifal eine humane Liebenswürdigkeit hineinbrachte – das dramatische Aufbäumen stand ihm nicht weniger zu Gebote. Aber eben, auch im Fortissimo schepperte es nicht. Der Klang auch im Forte transparent, groß. Ein Schwach-, zumindest bleibender Reformpunkt das Dortmunder Gralsgeläut, insofern Hengelbrocks Mischung von Plattenglocken, tiefen Java-, hohen Thai-Gongs aus einem verqueren Pochen nicht herausfand. Ein Detail, das den positiven Gesamteindruck mitnichten störte.

Auch mit einem Mammutorchester, dies die Entdeckung von Dortmund, kann alles gut werden, sobald es nicht als Phalanx, als Drohkulisse daherkommt, sondern in der hengelbrockschen schalenartigen Aufstellung mit eingebauter Klangbalance in Gestalt stereophoner Verteilung der schweren Massen Celli und Kontrabässe.

Neben der Liebe zum historisch informierten Instrumentarium vermittelte sich im Dortmunder Konzerthaus ferner überaus ansprechende Musizierlust. Dass es glänzte und schimmerte, dafür sorgte eben auch ein kompletter Wonnegarten teuflisch holder Stimmen. Den Solisten, befreit vom Zwang, sich gegen das Orchester durchsetzen zu müssen, war das Glücksmoment dieser Aufführung durchweg anzuhören. Insbesondere Matthias Goerne (Amfortas) und Frank van Hove (Gurnemanz) suchten das Lied- im Opernhaften. Wozu die, gemessen an der konzertanten Darbietungsform, zur Überzeichnung neigenden Angela Denoke (Kundry) und Simon O’Neill (Parsifal) an den weiteren Aufführungsorten Essen und Madrid noch finden können. Ansonsten, von der Empore singend, ein samtener Balthasar-Neumann-Chor und, ganz oben im Top, die famosen Jungs von der Dortmunder Chorakademie. Wagner, soviel steht fest, hätte jedem von ihnen ein Eis spendiert.

Georg Beck | 23.01.2013

Die Zeit

Parsifal, der originale Tor

Thomas Hengelbrock spielt Wagner fast wie zur Wagner-Zeit.

Über kein anderes Werk der Opernliteratur hat sich die Musikwelt so zerfleischt wie über Wagners Parsifal. Tempi, Spielorte, Instrumentarium, Weihe oder Nichtweihe: Kein Konsens, nirgends. Und das könnte der Schlüssel sein, genau das könnte Wagnerianer wie Anti-Wagnerianer nun aus ihren geistigen Sofakissen lupfen. Denn Wagners »letzte Karte« huldigt einem Werkbegriff, der so offen ist, dass er nicht nur alles Musikdramatische von innen her aushebelt, sondern uns alle, die wir nach parsifaleskem Weltaufschluss suchen, gleich mit.

Wie sonst sollte die Nachwelt es sich erklären, dass ausgerechnet Arturo Toscanini, der Zuchtmeister eines straffen Interpretationsstils, 1931 als der langsamste Parsifal-Dirigent aller Zeiten in die Annalen der Bayreuther Festspiele eingeht? Was lehrt denn die Überzeugung, dass Wagners Bühnenweihfestspiel am besten in Bayreuth aufgehoben sei, für dessen Festspielhaus und gedeckelten Orchestergraben es einst komponiert wurde? Woher sollen wir wissen, wie die ominösen Gralsglocken beschaffen sind, wenn Wagner selbst damit bis zum Schluss experimentierte und haderte? Und seit wann ist es eigentlich erlaubt, nach dem ersten Akt zu klatschen? Immerhin hat Parsifal, der reine Tor, just versagt und die erlösende Frage nicht gestellt; immerhin wird Amfortas, der Gralskönig, noch anderthalb Akte weiter an jener mythisch-freudianischen Wunde laborieren, die ihm die Lust beigebracht hat (und natürlich ein böses Weib) und die sich allen balsamischen Ritualen zum Trotz nicht schließen will.

Die Gralsglocken rufen zum Letzten Gericht oder zum Halali in der Hölle

Es ist der Dirigent Thomas Hengelbrock, der solche Fragen neuerlich schärft, und das ist ihm kaum genug zu danken. Und zwar nicht, weil er wasserdichte Antworten fände oder sich am Pult seines Balthasar-Neumann-Ensembles plötzlich als jene Wagner-Kapazität entpuppte, die er bei seinem eher glücklosen Tannhäuser-Gastspiel in Bayreuth 2011 nicht sein konnte oder durfte und irgendwann wohl auch nicht mehr sein wollte. Ein Magier und Metaphysiker, einer, der einen gleichsam paradiesisch-ungebrochenen, im Parsifalschen Sinne »wissenden« Kontakt zur Musik pflegt, wird Hengelbrock niemals werden. Andere freilich, die das genauso wenig sind, haben sich auf ihrem Weg in die entgegengesetzte (ebenfalls historisch-aufführungspraktisch grundierte) Richtung viel mehr aufgeplustert als er, legen ein ganz anderes Sendungsbewusstsein, eine andere Arroganz auch an den Tag als der gebürtige Wilhelmshavener.

In archäologischer Kärrnerarbeit hat Hengelbrock nun sämtliche Parsifal-Quellen noch einmal studiert: Die Uraufführungs-Notate des Bayreuth-Assistenten Heinrich Porges, Cosima Wagners Tagebücher, die das Werden des »Weltabschiedswerks« minutiös begleiten, das mit violetter Tinte geschriebene Autograf der Partitur, Berichte zur zeitgenössischen Instrumentenkunde und etliches mehr. So stieß Hengelbrock etwa auf die Ruine der legendären Bayreuther »Donnermaschine« für den Klingsor-Akt und ließ sie restaurieren: Ein sperriges, höchst effizient zu bedienendes Bauteil, das, einmal in Aktion, einen Höllenkrach macht und mit seinen sausenden Schlegeln ein bisschen an Walt Disneys Goofy auf der Flucht erinnert. Die Gralsglocken indes kommen bei ihm eher dezent daher (im Gegensatz zu den diversen historischen Vorläufern, die die Größe von Futtersilos erreichten), wie etwas fülligere asiatische Gongs. Da jedes klangliche Fremdeln beabsichtigt sein dürfte, kann man sich aussuchen, ob sie nun zum Letzten Gericht rufen oder zum Halali in der Hölle.

An fünf konzertanten Abenden in Dortmund, Essen und Madrid ist das Ergebnis der Hengelbrockschen Recherche nun zu besichtigen. Um es gleich vorwegzunehmen: Das Sensationelle daran ist nicht die Andersartigkeit um jeden Preis, ist nicht, dass Wagner hier einmal mehr gegen die Sitten und Unsitten seiner Rezeption in Stellung gebracht würde oder dass die Fehde zwischen heißblütigen Wirkungsästhetikern hier und magersüchtigen Strukturalisten da, zwischen Priestern und Provokateuren, Nebelwerfern und Nebellichtern neue Nahrung erhielte. Das haben von Pierre Boulez bis Roger Norrington auch andere besorgt, wenigstens ansatzweise. Das Sensationelle ist, dass die Differenzen in Tat und Wahrheit gar nicht so groß sind.

Einmal keine orchestralen Lavamassen – die Sänger genießen es

Parsifal auf Original-Instrumenten oder auf modernen, mit Vibrato oder ohne, mit 120 Mann Chor oder nur mit 40 (wie im Fall des regelrecht protestantisch agierenden Balthasar-Neumann-Chores), im gedeckelten »mystischen Abgrund« von Bayreuth oder auf offenem Konzertpodium – was sich wie der Kalte Krieg der Musik liest, verfolgt doch nur mit unterschiedlichen Mitteln das gleiche Ziel: Wagners Parsifal in seiner Spätwerk-Hybris zu begreifen und in seinem Drang, alles Gattungshafte, jeden Guckkasten zu sprengen; dem geradezu filmisch flackernden Fokus des Geschehens auf der Spur zu bleiben; die impressionistisch aufschäumenden Farben in ihren Pigmenten zu erkennen.

Arturo Toscanini soll dafür im ersten Akt sagenhafte zwei Stunden und sechs Minuten gebraucht haben (bei insgesamt fast fünf Stunden). Hengelbrock tendiert in Essen mehr zu Boulez’ Lesart von 1970, mit knapp dreidreiviertel Stunden fürs Ganze die flotteste von allen. Stark ist die Aufführung immer da, wo er – ohne die Daumenschrauben anzuziehen – der Genauigkeit seines Blicks vertraut: im betörend weichen Konzertieren der Holzbläser, im Ächzen und Verenden des von Parsifal erlegten Schwans oder in einem Karfreitagszauber, der sich wie eine Klanginstallation über stark beglänzter Aue erhebt.

Die Sänger vor allem genießen es, ihre Partien nicht gegen orchestrale Lavamassen und Lautstärken verteidigen zu müssen (was nicht heißt, dass es kein Forte gäbe), sondern sich – apropos Impressionismus! – als Instrumente unter Instrumenten fühlen zu dürfen. Das ist der springende Punkt. Am eindringlichsten gelingt das Matthias Goerne als Amfortas in den Todeshalluzinationen des dritten Aktes; aber auch Kwangchul Youns sonorer Gurnemanz, Johannes Martin Kränzles kerniger, hoch idiomatischer Klingsor und Victor von Halems Titurel finden ergreifend zueinander. Dass Angela Denoke sich als gurrende Kundry in der Verführungsszene wohler fühlt als bei den hohen Hs, nimmt man fast beruhigt zur Kenntnis, ebenso wie die Nasalitäten und das rührende Gestenrepertoire von Simon O’Neill in der Titelpartie. Schließlich hat das Wagner-Jahr gerade erst begonnen.

Christine Lemke-Matwey | 31. Januar 2013

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Aus dem Geist des Oratoriums

Ohne Vibrato, aber mit monströsem Originaldonnerhall: Thomas Hengelbrock führte in Dortmund den ersten „Parsifal“ mit historischen Instrumenten auf.

Vorher bitte nicht! Aber hinterher, am Morgen danach, da will er gern ein paar Takte sagen. Über das sehr spezielle Instrumentarium der Aufführung zum Beispiel und über seinen neuen Blick auf die Musik Richard Wagners. Der Umgang des Dirigenten Thomas Hengelbrock mit der Presse ist so eigenwillig wie manche seiner Interpretationen. Dass ein Künstler im Nachklang des Konzertes über seine eigene Leistung sprechen will, müsste bei jedem Journalisten die Alarmglocken läuten lassen: Sollte er etwas gutzumachen haben? Will er womöglich schönreden, was weniger gelungen war? Gemach. Nach dieser Aufführung im Konzerthaus Dortmund gab es tatsächlich Gesprächsbedarf. Hengelbrock hatte mit seinem Balthasar-Neumann-Ensemble zum ersten Mal Wagners „Parsifal“ im Originalklanggewand dirigiert. Längst ist die sogenannte historische Aufführungspraxis im vergangenen Jahrzehnt über ihre ursprüngliche Domäne, die Barockmusik, hinausgedrungen, bis in die Hoch- und Spätromantik. 2005 legte Bruno Weil mit der Cappella Coloniensis die erste Lesart des „Fliegenden Holländers“ auf alten Instrumenten vor, und Roger Norrington erprobt die stilistischen Erkenntnisse der Originalklangbewegung mittlerweile an den Symphonien Gustav Mahlers. Den „Parsifal“ von gut einhundertdreißig Jahren einer bewegten Rezeptionsgeschichte zu befreien ist dennoch ein Wagnis. Wer Wagners letzte Oper auf die Klangästhetik des Uraufführungsjahres 1882 zurückführt, bricht nämlich nicht nur mit einer musikalischen Interpretationstradition, sondern unweigerlich auch mit der politisch-ideologischen Vereinnahmung des „Bühnenweihfestspiels“.

Der Gralsritter singt Mendelssohn

Von der lastenden Aura eines christlich-germanischen Kultrituals, mit der die entschiedene Antisemitin Cosima Wagner den Blick auf das Stück nach des „Meisters“ Ableben so dauerhaft vernebelte, ist bei Hengelbrocks Dortmunder Aufführung nichts zu spüren. Nicht wabernde Weihe, erst recht nicht die kollektive Berauschung einer eingeschworenen, am besten auch noch „rassereinen“ Jüngerschar sind hier Programm. Allenfalls geht es um religiöse Ergriffenheit in jenem schlichten, weit universaleren Sinne, wie sie auch Aufführungen der „Matthäus-Passion“ oder des „Elias“ vermitteln können. Hengelbrock stellt die Musik des „Parsifal“, historisch ungewohnt, aber korrekt, in die Überlieferungsgeschichte des romantischen Oratoriums. Er kann sich dabei auf die Tatsache berufen, dass Wagner in den kirchlich überhöhten Passagen, also vor allem in den Schlussteilen des ersten und dritten Aufzugs, bewusst hinter den kompositorischen Avantgardismus des „Tristan“ und der „Götterdämmerung“ zurückgegangen ist. „Der Prophet singt Mendelssohn“, lautete bezeichnenderweise ein Vorwurf, der 1905 gegen die vermeintlich rückschrittliche Musik des Jochanaan in der „Salome“ von Richard Strauss gerichtet wurde. Auch Wagners kunstreligiös gepanzerte Gralsritter sind, rein stilistisch betrachtet, eher Jünger Felix Mendelssohns-Bartholdys als Jünger des Fortschritts (auch wenn diese Sicht dem fanatischen Mendelssohn-Hasser Wagner nicht gefallen hätte). Ein krakenhaftes Monstrum paukt alles nieder

Hengelbrock betont zu Recht, dass der „Parsifal“ Teil jener nazarenischen Rückbesinnungs- und Vereinfachungsstrategie in der Kirchenmusik der Romantik ist, die sich als „Cäcilianismus“ selbst noch in den Oratorien Franz Liszts, bei Anton Bruckner und stellenweise in der achten Symphonie von Mahler manifestiert. Wie aber klingt Hengelbrocks derart „bereinigter“ Wagner?

Neben den historischen Instrumenten, die per se etwas dunkler und vor allem deutlich weniger füllig tönen, wird das Klangbild am stärksten durch den generellen Vibrato-Verzicht bei den Streichern beeinflusst. Plötzlich fließen Themen wie das langgesponnene „Glaubensmotiv“ auf einem endlosen Bogen dahin, schlicht, gesanglich, ohne Druck und Dauer-Emphase. Auch im Fortissimo wird der Satz nie massig, die Farben leuchten, schimmern, strahlen, wie frisch befreit vom Firnis. Und auch in den anderen Instrumentengruppen hört man diese unvermischten Klänge.

Einst kühne Orchestrierungseffekte wie das Stopfen der Hörner erhalten ihren Biss zurück, das Blech glänzt weniger golden, hat dafür mehr Kern im Ton. Hinzu kommen Besonderheiten wie Holzflöten, eine Oboe deutscher Bauart, wie sie heute noch bei den Wiener Philharmonikern verwendet wird, und eine eigens rekonstruierte Alt-Oboe, die Wagner dem Englischhorn vorzog. Und dann hatte auch noch der im Fundus der Amsterdamer Oper bewahrte Nachbau der originalen Bayreuther Donnermaschine seinen spektakulären Auftritt: ein krakenhaftes Monstrum samt kurbelgetriebenen Schlägelarmen, das Klingsors Zauberreich mit grundstürzender Gewalt in den Orkus paukt.

Entschlackung ohne Weihrauch

Was für ein erhellender Effekt, wenn solche Bühnengeräusche nicht synthetisch zugespielt werden, sondern Teil der Musik sind! Das gilt zumal für die Gralsglocken, die schon Wagner arge Not bereiteten. Da man weiß, dass er sich schließlich für eine Kombination aus mehreren Schlaginstrumenten entschied, mischt Hengelbrock Plattenglocken mit tief gestimmten Java- und hohen Thai-Gongs – eine gewöhnungsbedürftige Lösung.

Der im Ganzen gedämpftere Klang des Orchesters eröffnet nicht zuletzt dem Wagner-Gesang eine neue Bühne. Frank van Hove (Gurnemanz), Johannes Martin Kränzle (Klingsor) und Matthias Goerne (Amfortas) nutzen dies für eine fast liedhafte, stets textnahe Gestaltung ihrer Partien. Die überragend intensive Angela Denoke als Kundry dürfte sich dagegen bei den weiteren Aufführungen in Essen und Madrid noch stärker von der pastosen Tongebung des herkömmlichen Wagner-Singens lösen. Die Chöre verbinden Bayreuther Niveau mit der Klarheit eines Bach-Chorals, und Thomas Hengelbrock unterstützt diese Entschlackung mit fließenden, aber nie überhetzten Tempi, die am Ende zu einer Spieldauer von unter vier Stunden führen. In der Tat ein neuer „Parsifal“, vielleicht sogar der ursprüngliche. Auf jeden Fall einer ohne Weihrauch.

Christian Wildhagen | 22.01.2013

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Media Type/Label
Premiere, PO
Technical Specifications
128 kbit/s CBR, 44.1 kHz, 199 MByte (MP3)
Remarks
Broadcast of a concert performance