Parsifal

Semyon Bychkov
Chor und Orchester der Wiener Staatsoper
Date/Location
30 March 2017
Staatsoper Wien
Recording Type
  live   studio
  live compilation   live and studio
Cast
Amfortas Gerald Finley
Titurel Jongmin Park
Gurnemanz René Pape
Parsifal Christopher Ventris
Klingsor Jochen Schmeckenbecher
Kundry Nina Stemme
Gralsritter Benedikt Kobel
Clemens Unterreiner
Gallery
Reviews
bachtrack.com

Irre: Alvis Hermanis inszeniert Parsifal an der Wiener Staatsoper

Heutzutage machen alle Selfies – in erster Linie um anderen zu zeigen, wie wahnsinnig toll und in welch irrer Location man gerade ist. Zum Beispiel in der Wiener Staatsoper. Aber wehe, die Selfie-Macher bekommen einen Spiegel vorgehalten. Dann werden’s narrisch.

Zumindest bei der Premiere von Alvis Hermanis’ sehr wienerischem Parsifal, der sich zur Jahrhundertwende in der Psychiatrie zuträgt. Denn in puncto Richard Wagner hört sich in dieser Stadt der Spaß, pardon, Schmäh auf, da schlägt Weinseligkeit in Bierernst um. Erwartet wird, auch wenn man Regie-Kummer gewöhnt ist, das Niveau vom siebten Himmel, wie auch immer dieser aussehen mag. Ansonsten gibt es ein gnadenloses (Buh-)Donnerwetter, wie eben für Alvis Hermanis und seinen Parsifal – und das, obwohl Mitleid ein Hauptthema dieses Werkes ist.

Verdient, zumindest in dieser Vehemenz, war das allerdings nicht, schließlich hatte Hermanis, wie allerorten im Feuilleton zu lesen war, auch die besten Absichten. Nur: gut gemeint ist noch nicht gut gemacht, und manches ist tatsächlich misslungen. Nüchtern betrachtet hat man aber zumindest ein wunderschönes Bühnenbild bekommen, das alle Ostern wieder Freude machen wird, so man am Geschehen darin noch ein wenig arbeitet – vielleicht unter dem Motto „weniger ist mehr“.

Es hat nämlich den Anschein, dass Hermanis alles aufbietet, was ihm zum Thema „Wien um die Jahrhundertwende“ bei Google untergekommen ist. Das von Hermanis persönlich entworfene Bühnenbild sieht als Ort der Handlung die psychiatrische Abteilung des (Otto) Wagner Spitals im 14. Wiener Gemeindebezirk vor. Darin finden sich Elemente der berühmten Kirche am Steinhof, beispielsweise wurden Engelstatuen der Fassade ins Innere des Spitals verlegt. Die Altarkuppel schwebt über der Szenerie und senkt sich auf den heiligen Gral, der sich bei Hermanis als Gehirn entpuppt. Hin und wieder gibt es Ausblicke in den weitläufigen Park; einige Szenen werden mit Videoprojektionen eines bebilderten Librettos in Frakturschrift überschrieben.

So weit, so ausgezeichnet als Idee. Doch leider merkt man dieser Inszenierung an, dass hier die Erzählung der Optik unterworfen und mit zu vielen Anspielungen überfrachtet wurde. Nicht, dass das Ambiente einer Psychiatrie für Parsifal unpassend wäre, immerhin muss Kundry „Irre! Irre!“ singen und schwankt ohnehin zwischen Manie und Depression. Da kann sie ruhig mit Elektroschocks aus dem Schlaf geholt werden und sich unter der Decke eines Spitalsbettes verstecken statt im Gedörn. Ärzte hat sie außerdem gleich zwei: Anstaltsleiter Gurnemanz ist der „good doc“, der Pathologe Klingsor der „bad doc“. Da muss Kundry zwangsläufig auf Siegmund Freuds Couch landen

Dass der Chor herausragende Persönlichkeiten der Jahrhundertwende darstellen soll, beispielsweise Klimt und Schiele (allerdings in mäßig gelungener Maske), ist gut nachvollziehbar, auch, dass diese zur Gralsenthüllung in der Psychiatrie kommen – krank ist schließlich die ganze Gesellschaft. Doch dass sie zum Schluss mit geflügelten Goldhelmen auftreten (Kostüme: Kristine Jurjane) ist Komik pur und daher unangebracht. Auch Kundry trägt zwischenzeitlich einen lächerlichen, goldenen Kopfschmuck und Parsifal rückt zur Fußwaschung gar in einer goldenen (Gladiatoren?-)Rüstung an. Ist er nur ein Hirngespinst? Ist er ein schizophrener Patient und hält sich für Parsifal? Man weiß es nicht, aber das spricht nicht unbedingt gegen den Regisseur.

Enttäuschend ist allerdings die phantasielos-statische Verführungsszene am Spitalsbett, auch die Rückeroberung des Speers wird dramatisch verschenkt: Parsifal zieht ihn aus einem Riesengehirn, und Klingsor ist es anscheinend egal. Mehr Witz hat es, dass Fußwaschung und Taufe mit derselben Waschschüssel stattfinden und die getaufte Kundry zum Schluss den Gral enthüllen darf. Für Wagner-Puristen wohl eine Herausforderung

Das traf in mancherlei Hinsicht auch auf die musikalische Seite des Abends zu, die ebenfalls für Kontroversen sorgte. Für einen Dirigenten ist Parsifal schon aufgrund der Länge herausfordernd, doch verlängerte ihn der unerschrockene Semyon Bychkov am Pult noch um eine Viertelstunde. Das führte zu einem Verlust an Spannung, der all das Schöne und Differenzierte, das besonders im ersten Aufzug zu hören war, leider in den Hintergrund treten ließ; die kleinen Unsauberkeiten zum Schluss lassen sich vermutlich auf Ermüdungserscheinungen im Orchester (oder des Dirigenten selbst) zurückführen.

Gesanglich war hingegen alles zum Besten bestellt: Der kurzfristig für Hans-Peter König eingesprungene René Pape gab einen herausragenden Gurnemanz, der wohl jeden zum rechten (Wagner‑)Glauben (ver)führt und frenetisch bejubelt wurde. Jochen Schmeckenbecher als Klingsor war ihm ein Gegner mit vokaler Schärfe, hatte aber wenig Furchteinflößendes an sich. Christopher Ventris posaunte den „reinen Toren“ Parsifal mit großem Heldentenor, schien sich aber in dieser Inszenierung nicht wirklich zurechtzufinden. An Lautstärke überbot ihn noch Nina Stemmes elektrogeschockte Kundry. Ihr Versuch, Parsifal zu verführen, hätte geschmeidiger, erotischer ausfallen dürfen, aber das war vielleicht auch der bereits erwähnten unglücklichen Choreographie dieser Szene geschuldet. Dem stimmschönen Amfortas des Gerald Finley schließlich war in dieser Inszenierung das Überleben nicht vergönnt: Er stirbt letztendlich an seiner Kopfwunde. Solides boten die süßen Wiener Mädel (Blumenmädchen) und der Chor in dieser Inszenierung, die mitnichten indiskutabel ist, sondern eine, die reichlich Stoff für Diskussionen hergibt und nicht auf eine Lesart beschränkt ist.

Snapdragon | 03 April 2017

Online Musik Magazin

Wenn das Hirn leuchtet …

Im Programmbuch zum neuen Wiener Parsifal gibt es einen langen Anhang mit Fotos prominenter Besetzungen der Vergangenheit. Allein in der Vorgängerinszenierung von Christine Mielitz aus dem Jahre 2004 haben Thomas Quasthoff, Stephen Gould, Waltraud Meier, Matthias Goerne, Jonas Kaufmann, Evelyn Herlitzius, Peter Seifert und Johann Botha, Violetta Urmana und Thomas Hampson, Angela Denoke und Michael Volle, Thomas Moser und Falk Struckmann auf der Bühne gestanden. Allein dieses „Who is Who“ der Wagnersänger von Rang belegt, dass die Wiener Staatsoper ein Haus für dieses Ausnahmewerk ist. Nun geben Dirigent Semyon Bychkov und Regisseur Alvis Hermanis den musikalischen und szenischen Rahmen vor.

Die exzellente Sängerriege wird diesmal von René Pape als Gurnemanz angeführt, der kurz vor der Generalprobe für den erkrankten Hans-Peter König einsprang, seine Partie hoch souverän meisterte und am Ende berechtigterweise den meisten Beifall bekam. Als Kundry debütierte die Schwedin Nina Stemme. Mit dramatischer Eloquenz und Wärme verlässt sie am Ende gestärkt und vielleicht sogar gesundet diesen pompös ausgestatteten Gralsbezirk. Hörbar bewährt und sicher bewältigt Christopher Ventris die Titelpartie. Grandios leidend singt Gerald Finley den Gralskönig Amfortas. Jochen Schmeckenbecher bleibt als Klingsor etwas hinter der diabolischen Dimension der Rolle zurück, doch auch er glänzt mit großer Wortverständlichkeit und gestaltendem Ausdruck. Alle übrigen Rollen sind so sorgfältig besetzt, wie es dem Selbstverständnis des Hauses entspricht.

Semyon Bychkov setzt am Pult des Staatsopernorchesters auf ein getragenes Tempo und brauchte für den ersten Aufzug 1 Stunde 46 Minuten. Er vermag natürlich allerhand von der Leuchtkraft und der Magie dieser Musik zu entfalten, doch treffen ihn am Ende etliche Buhs. Vermutlich, weil er sich etwas zu sehr in den Gralsdonner steigerte und andererseits auch wieder zu bedächtig dehnte.

Über dem mit der Pracht des Wiener Jugendstils protzenden Einheitsbühnenraum fällt der Schriftzug „Wagner-Spital“ ins Auge. Der meint freilich nicht den Komponisten Richard, sondern den Architekten Otto. Was wir sehen, ist eine Kulissenvariante des berühmten Otto-Wagner-Spitals in Wien. Mit dieser opulenten Ausstattungsidee hat Hermanis, der wie immer zugleich für die Bühne steht, allerdings seinen Trumpf schon ausgespielt. Dass die Engel der Kirche, die zum Spital gehört, den Eindruck des Bühnenambientes noch verstärken und die Altarkuppel, die bei der Grals-Enthüllung von der Decke und sich auf ein immer größer dimensioniertes Modell eines Gehirns senkt, kann man in einem Spital als Interieur durchaus akzeptieren. Der eigentliche Gral ist vom Kelch zu einer Swarowsky-Variante des menschlichen Gehirns geworden, das bei Bedarf hereingetragen wird und leuchtet wie die LED-Deko in den Wiener Läden der österreichischen Glitzerschmuckfirma in der Kärntner Straße.

Die Arbeit am Gehirn der Doktoren Gurnemanz oder Klingsor, ob im Gespräch auf der Couch oder mit dem Elektroschocker und dem Bohrer, gehört offenbar zu den hauptsächlichen Therapie-Ansätzen für die Patienten dieser Klinik, in der wie auf dem Zauberberg ein mit weißem Kittel ausgestatteter Gurnemanz das Sagen hat. Dass der ausgerechnet Klingsor den Schlüssel in die Hand drückt, mit dem er das vergitterte Spezialbett verschließt, in das Kundry verfrachtet wird, lässt tief blicken. Oder ist halt einfach nur recht praktisch in einem Einheitsbühnenraum. Klingsor jedenfalls versucht zunächst mit kräftigen Stromstößen, Tote zu erwecken. Bei einer davon muss es sich um Parsifals Mutter Herzeleide handeln. Immerhin macht der Schrei Kundrys hier Sinn, denn auch sie soll dieser Behandlung unterzogen werden. Des Effektes wegen erheben sich plötzlich die abgedeckten Toten in diesem anatomischen Gruselkabinett und sind die Blumenmädchen. Die entblättern sich bis aufs züchtig geschnürte Korsett und die knielangen Unterhosen. Um Parsifal zu verführen? Ohne Erfolg, versteht sich.

Ebenso von der Ausstattung her gedacht ist die Gralsgesellschaft selbst. Ein Sammelsurium der Wiener Kulturelite um die vorvorige Jahrhundertwende. Klimt etwa. Bei anderen muss man raten. Ob die nur zum Gralsevent mal vorbeischauen oder ob die ganze Gesellschaft in Behandlung ist, wird nicht so ganz klar. Jedenfalls schauen sie bei der letzten Gralsenthüllung so in die Röhre wie Parsifal bei der ersten. Sie verstehen nix und rühren sich nicht von der Stelle. Im Grunde ist das der abschließende Offenbarungseid der Regie, die gar nicht erst versucht hat, mit dem Stück etwas anzufangen.

Aufregender als die Inszenierung, die es vor allem schafft, dass man am Ende erst einmal genug vom Jugendstil hat (was ja eine ziemliche Leistung ist), waren wieder einmal die Statements des Letten, der in Hamburg am Thalia sein Engagement gekündigt hat, weil ihm die deutsche Flüchtlingspolitik nicht passt. Höhepunkt war diesmal ein Satz im Wiener „Standard“: „Wenn ich heute eine Wiener Zeitungen lese, dann sehe ich, dass meine Sicht von damals heute Regierungspolitik ist. Die Zeitungen von Deutschland erinnern mich hingegen immer noch an die der Sowjetunion: Wenn jemand eine abweichende Meinung hat, dann wird er zum Feind.“ So spricht ein Lette, der in Deutschland und Österreich italienische und deutsche Opern inszeniert. Dabei aber leider nur die Verpackung im Blick hat. Und so was wie eine triftige Personenregie beiseite lässt. Von einer ambitionierten Deutung ganz zu schweigen. Da kann Bayreuth froh sein, dass der ursprünglich mal geplante Lohengrin-Kelch am Grünen Hügel vorüber gegangen ist.

FAZIT

Wien hat einen neuen Parsifal mit Ur-Wiener Ambiente. Musikalisch hat die Produktion ihre Vorzüge – die Regie von Alvis Hermanis freilich streckt die Waffen vor dem Werk.

Roberto Becker | Premiere an der Wiener Staatsoper am 30. März 2017

Wiener Zeitung

Erlösung auf der roten Couch

“Parsifal” an der Staatsoper: Bychkov zelebriert musikalische Zartheit, Hermanis versteigt sich in Jugendstil-Fantasien.

Das Wien der Jahrhundertwende, des goldenen Jugendstils und der sich ausformenden Psychoanalyse haben es Alvis Hermanis angetan. So sehr, dass er seine Neuinszenierung von Richard Wagners “Parsifal” in einer vom Otto-Wagner-Spital inspirierten Nervenklinik ansiedelt. Die sich nicht schließen wollende Wunde des Gralskönigs Amfortas, die Sehnsucht nach Heilung, warum auch nicht. Das Streben dieser Epoche nach Erkenntnis – rund um die aufkeimende Psychoanalyse Sigmund Freuds – hat Hermanis auch noch mit in sein Konzept genommen, den sagenumwobenen Gral mit der Erkenntnis des (erleuchteten) Gehirns gleichgesetzt.

Rund um diese freie Assoziationsfolge präsentierte der Regisseur am Donnerstag in der Staatsoper eine Hommage an das Wien um 1900, das jedes Touristenherz höher schlagen lässt. Die Kirche am Steinhof ist ins hochästhetische Bühnenbild eingebettet, Freuds rote Couch kann besichtigt werden. Und der Chor bietet sich an für ein Prominentenraten des Fin de Siècle – Gustav Klimt taucht auf, ein Egon Schiele lässt sich ausmachen, Johann Strauß, Freud sowieso. Der Regisseur ist in einen wahren Jugendstil-Rausch gekommen bei der Beschäftigung mit dem Stoff. Und hat sich ziemlich darin verstiegen. Denn mit dem “Parsifal” hat die Inszenierung letztlich kaum etwas zu tun. Ganz im Gegenteil, sie entzieht dem Mythos durch die letztlich unentschlossene Verortung in einer Irrenanstalt seine tiefe Ernsthaftigkeit und führt ihn ins (oft unfreiwillig) Lächerliche, opfert ihn manch billiger Pointe.

Die Assoziationsketten ergeben im ersten Aufzug noch erstaunliche Text-Bild-Deckungen, werden jedoch immer (sinn-)freier und lassen letztlich ratlos zurück. Warum steckt der heilige Speer als gigantische Stricknadel in einem ebensolchen Gehirn? Leitet Klingsor die Damenabteilung der Psychiatrie oder doch die Pathologie, ist er etwa Sigmund Freud höchstselbst? Sind die blassen Blumenmädchen, die von Seziertischen erwachen, Scheintote? Ist Kundry vielleicht sogar Freuds Anna O.?

Aufgeklarte Zartheit

Es erlebt einen weit erfüllenderen Abend, wem es gelingt, diese Fragen nach und nach auszublenden und sich möglichst wenig von den zunehmenden szenischen Absurditäten ablenken zu lassen. Vor allem, um die eigentliche Kostbarkeit dieses Abends auszukosten – und die kommt aus dem Graben. Selten erklangen Richard Wagners weihevolle Klangwelten in solch aufgeklarter Zartheit, ja Zärtlichkeit. Semyon Bychkov nimmt in seiner Lesart das Orchester immer wieder enorm zurück, wählte sehr getragene und dennoch fein strömende Tempi. Der rote Faden der Produktion, er ist hier zu hören, wenn schon nicht zu sehen, ist wie eine ewig rollende Welle, die niemals bricht.

So viel orchestrale Luzidität hat ihre Tücken, man hört jeden noch so kleinen Wackler. Viel Geheimnis bietet diese alles durchdringende Ausleuchtung nicht mehr. Dennoch geling Bychkov mit dem Orchester der Balanceakt, dem Bühnenweihespiel alles Schwere und Pathetische zu nehmen und den tiefen poetischen Kern dahinter freizulegen. Ein zarter, lyrischer und dennoch kraft- und seelenvoller Wagner ist vor allem in Wien ein nicht allzu häufiges Erlebnis, das sich wohl auch nur beim “Parsifal” ausgeht. Dass diese Lesart nicht jedermanns Sache ist, zeigte sich am Premierenabend allerdings auch.

Den Sängern und vor allem deren Wortdeutlichkeit kam Bychkovs Zurücknahme jedenfalls entgegen. Zum vokalen Zentralgestirn wurde der erst kurzfristig eingesprungene René Pape als auch darstellerisch würdevoll gütiger “Oberarzt” Gurnemanz. Gerald Finley legt seinen Amfortas voll tönend und fein gebrochen an und artikuliert mit der Präzision eines Liederabends.

Christopher Ventris in der Titelpartie ist stimmlich kein sehr jugendlicher Parsifal. Sein Tenor ist heldisch und kraftvoll, für die Partie jedoch recht hart und kühl. Nina Stemme zeigt als ewige Verführerin Kundry betörende Tiefe und eine imposante Stimmkontrolle, deren Differenziertheit im dramatischen zweiten Aufzug deutlich abflacht. Die Erotik, die die Regie ihr zugesteht, ist eher morbid. Von den tragenden Partien bleib einzig Jochen Schmeckenbecher als unfassbarer “Psychoanalytiker” Klingsor blass.

Bei aller – schon vor dem dritten Aufzug lautstark leidenschaftlich ausgetragenen – Uneinigkeit über das Dirigat: Selten war ein Premierenpublikum einiger darin, einem Regieteam mit einem Buh-Orkan zu entgegnen. Das ist doppelt traurig für Wien: Dirigent und Solisten des Abends werden weiterziehen, die Inszenierung wird bleiben.

Judith Belfkih | 31.03.2017

Die Presse

Bei diesem “Parsifal” gingen die Wogen hoch

Semyon Bychkov führte Sänger und Orchester bei dieser Staatsopern-Premiere aufs sicherste über Wagners Pfade „der Irrnis und der Leiden“. Dass Regisseur Alvis Hermanis das Geschehen in die Psychiatrie verlegte, sorgte für Buh-Rufe.

Die Wogen gingen hoch. Am Ende gab es eine Publikumsschlacht zwischen Gegnern und Befürwortern, wie das bei einer Neuinszenierung von Richard Wagners philosophisch verrätseltem Spätwerk wohl unvermeidlich ist. Doch regte sich auch Widerspruch gegen den Dirigenten. Selbst das hat aber bei „Parsifal“ in Wien (schlechte) Tradition. Wer sie erlebt hat, wird die wütenden Auseinandersetzungen um Horst Stein während und nach der „Parsifal“-Premiere von 1979 nicht vergessen haben . . .

Wobei die musikalische Gestalt der jüngsten Auseinandersetzung mit dem Bühnenweihfestspiel der Wiener Oper zur Ehre gereicht. Eine „Parsifal“-Besetzung dieser Qualität wird man weltweit nicht leicht finden. Und der mehrheitlich doch bejubelte Semyon Bychkov führte Sänger und Orchester aufs sicherste über Wagners Pfade „der Irrnis und der Leiden“. Bychkovs feine Klangmalerei

Das Werk wird unter seiner Stabführung zu einem großen Adagio in drei Teilen. Bychkov nimmt sich Zeit, er realisiert, was Herbert von Karajan einst gefordert hat und was selten in solcher Konsequenz zu erleben ist: Die Taktstriche scheinen für einige Stunden abgeschafft. Die Musik fließt, verfließt. Bychkov spielt auf dem philharmonischen Instrument oder vielmehr: Rr spielt auf der Wagner-Kompetenz des Wiener Orchesters, er nutzt den Reichtum, den die Musiker anzubieten haben, um wie ein bildender Künstler auf einer Riesenpalette Farben anzumischen.

Klangfarbe ist im “Parsifal” vielleicht Wagners wichtigstes Ausdrucksmittel, zaubert Stimmungen, Seelenbilder, sorgt für eine fortwährende Verwandlung. Denn kaum eine der Instrumentations-Nuancen wiederholt sich. Die musikalische Erzählung ist in stetem Fluss, selbst Erinnerungen an Gewesenes erscheinen stets in neuem Licht. Auch die exzellent realisierten Chorpassagen – in vielfacher Mischung mit Stimmen aus der Ferne, vielfach geteilten Solostimmen (Blumenmädchen, Knappen) und einem diesmal besonders beeindruckenden Glockengeläute – haben ihren Anteil an dieser fein verästelten Klangmalerei. Das konsequent herausgearbeitet zu haben, sichert Bychkovs „Parsifal“-Deutung, dem ruhigen Grundpuls zum Trotz, durchwegs Spannung.

Eine Spannung, die von den Sängern durch prägnante Artikulation und differenzierte Vokalleistungen in genuine Musikdramatik umgemünzt wird. Hier schöpft die fast durchwegs von Debütanten getragene Wiener Produktion aus dem Vollen.

Nobel-Einspringer René Pape

Gerald Finley ist der neue Amfortas, für viele vermutlich die größte Überraschung des Premierenabends. Die Intensität seines Singens verwandelt körperliche und seelische Qualen des Gralskönigs ebenso in Klang wie die ekstatischen Beschwörungen einstiger „unbefleckter“ Heilserfahrungen. Da wird Finley geradezu zum Belcantisten.

Als Nobel-Einspringer für den erkrankten Hans-Peter König gab René Pape den Gurnemanz – vom Publikum lauthals bedankt für seine nicht minder weit gefächerte Gestaltungskunst: Dieser alte Ritter ohne Furcht und Tadel hat, man hört es, ein weites Herz, kann seine oft gewaltig anschwellenden Bass-Register in geheimnisvolle Flüsterregionen zurücknehmen. Wer je die Erzählungen des Gurnemanz als langatmig empfunden haben mag, versteht mit einem Mal, was es heißt, wenn er verkündigt: „zum Raum wird hier die Zeit“. Hier verfliegen die Viertelstunden . . .

Nina Stemme setzt alle Leuchtkraft ein

Mit Spannung erwartet wurde das Debüt der führenden Hochdramatischen unserer Zeit in der vielschichtigen Partie der Kundry: Nina Stemme setzt alle Leuchtkraft ein, alle Expressivität, derer sie fähig ist. Und sie vollbringt das Wunder, sogar die gefürchteten letzten zehn Minuten des zweiten Aufzugs ohne Blessuren bis zum bitteren Ende zu steigern. Die Verwandlung der sirenenhaft werbenden „heiligen Hure“ in eine entfesselte Hasspredigerin vermag sie bis zur Fortissimo-Neige auszukosten. Das hat in der jüngeren Aufführungsgeschichte des „Parsifal“ (nicht nur in Wien) kein Vorbild.

Christopher Ventris, als einziger aus früheren Aufführungen vertraut, geht dem „unseligen Weib“ dennoch nicht ins Netz. Er kann bestehen, denn die jugendlich-naive Attitüde dieses Parsifals wendet sich im entscheidenden Moment der Erkenntnis in beeindruckende heldentenorale Schlagkraft. Die „Welthellsichtigkeit“ derer dieser „reine Tor“ plötzlich teilhaftig wird, spiegelt sich auch in seinem Spiel. Die Stärke der Neuinszenierung durch Alvis Hermanis ist gewiss die Tatsache, dass Wagners Regieanweisungen in puncto Personenführung über weite Strecken ziemlich genau umgesetzt werden.

Wie die gerade nicht Singenden auf Worte, auf Phrasen reagieren, wie Blicke – etwa im Ausklang des ersten Aufzugs zwischen Amfortas und Parsifal – gewechselt werden, wie Gurnemanz am Karfreitagsmorgen den verlorenen Sohn wiedererkennt; das sind starke Bilder zu den tief lotenden Klängen der Musik.

Hermanis verkehrt die Dinge

Auch dass der beißend-böse, ungemein prägnante Klingsor des Jochen Schmeckenbecher im ersten Aufzug schon verstohlen hereinschleicht, um die Kundry zu holen, gehört zu den klugen Pointen der Produktion, die freilich das Geschehen in die wienerischen Steinhofgründe verpflanzt, das Grals-Drama also als Angelegenheit für die Psychiatrie zu betrachten scheint.

Das freilich könnte man, da die Geschichte im Übrigen nachvollziehbar gemacht wird, wie sie im Büchel steht, als Aperçu werten, würde Hermanis zuletzt nicht die Dinge verkehren. Er lässt den erlösten Amfortas sterben, während Kundry den Gral enthüllt, die unerlöste Gemeinde dann aber durch die Hintertür verlässt.

Der Gral ist ein riesiges Gehirn

Man folgt ihr in Gedanken, ist doch der Gral in diesem Fall ein riesiges Gehirn – und eine Gesellschaft, die in diesem einem Kult der absoluten Machbarkeit huldigt, ist verloren, selbst wenn sie aus jenen von Klimt und Altenberg angeführten Geistesgrößen des „Wien um 1900“ bestünde, die sich hier unter der Kuppel der Steinhof-Kirche versammelt. Dass die Kräfte des Bösen auf der Couch Sigmund Freuds wirken, ist immerhin ein gutes Signal – auch anno 2017. In Zeiten der schon von Hölderlin konstatierten Gottesfinsternis hilft uns die totale Rationalisierung ja nicht weiter, führt uns weniger in die Tiefe als in die Irre.

Wagners „Parsifal“ könnte das Menetekel unserer verlorenen Spiritualität sein. Das wäre ja schon einmal ein Anfang für eine Generation, die mit der Anflutung ungeahnter Herausforderungen konfrontiert ist. Die Willigen unter den Zuschauern dürfen bei der Neuproduktion darüber nachdenken; bei luxuriös schöner Musik – und dank Otto Wagner in ästhetischen Dekors . . .

Wilhelm Sinkovicz | 31.03.2017

classicalsource.com

Like the main theme in the Prelude to Wagner’s Stage Consecration Festival Play, Semyon Bychkov also emerged from nowhere to begin Parsifal, without applause. Immediately the strings’ simplicity and softness, and the warmth of the brass, portended a special performance.

The acoustic of the Vienna State Opera is divine, and thanks to the conductor and orchestra’s musical awareness, the principal singers never needed to push to be heard. The role of Gurnemanz is terrifically difficult on this account due to its low range. Kwangchul Youn gave a rich yet nuanced account and demonstrated a beautiful relationship to the text.

Klingsor, a part that is so often barked, was fully sung by Jochen Schmeckenbecher. He provided plenty of nefarious and repelling characterization without sacrificing good voice. Both Christopher Ventris (Parsifal) and Nina Stemme (Kundry) gave commanding portrayals. Ventris mixed-in moments of beauty and float amongst the sheer capacity needed for much of this undertaking; and Stemme remains one of the finest Wagnerians singing today.

In the last handful of years Gerald Finley has added larger roles to his repertoire, sometimes with mixed results. Here, within the intimate acoustic, he was marvelous as Amfortas. His first entrance was inspiringly quiet, and he knew exactly how much volume to give so as to be heard over the orchestration. Finley is an expressive singer, noted for finesse and his acting abilities: his Amfortas left nothing wanting.

The only mar on the whole was the amplification for the off-stage chorus and Titurel. It was disappointing to not have the chorus sing from the wings, or better yet on the stage. While the male supernumeraries (standing in for the chorus at times) gave nuanced accounts of their wordless roles, it was odd to not at least have them mouth along with the text; when it was present, the chorus was consistently hearty and engaged.

The State Opera Orchestra’s connection to its musical heritage is palpable, perhaps most clearly through the continued usage of Wiener Horns, and the trombones’ smaller bells, allowing the brass to bloom, rather than strike. Bychkov conducted a patient but never dragging interpretation. He and his musicians demonstrated great endurance and specificity throughout over four hours of music.

Thomas Phillips | April 09, 2017

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Media Type/Label
Technical Specifications
320 kbit/s CBR, 48.0 kHz, 583 MByte (MP3)
Remarks
Broadcast (Ö1)
A production by Alvis Hermanis (premiere)