Tannhäuser

Daniel Barenboim
Chor der Deutschen Staatsoper Berlin
Staatskapelle Berlin
Date/Location
28 March 1999
Staatsoper Unter den Linden Berlin
Recording Type
  live   studio
  live compilation   live and studio
Cast
Hermann Robert Holl
Tannhäuser Robert Gambill
Wolfram von Eschenbach Roman Trekel
Walther von der Vogelweide Gunnar Guðbjörnsson
Biterolf Hanno Müller-Brachmann
Heinrich der Schreiber Andreas Schmidt
Reinmar von Zweter Gerd Wolf
Elisabeth Angela Denoke
Venus Waltraud Meier
Ein junger Hirt Dorothea Röschmann
Gallery
Reviews
Berliner Zeitung

Breite Straße, nicht nach Rom

Mit dem Venusberg ist es auch nichts mehr. Kein rosiges Licht, keine Bacchantinnen, kein Ungestüm und danach auch keine angenehme Ermattung. Najaden, Nymphen, Sirenen und auch die liebenden Paare Wagners werden durch klassisch wirkende Skulpturen repräsentiert, die im Hintergrund auf und ab fahren. Die Venus im roten Samtkleid (Waltraud Meier) räkelt sich auf einem großen weißen Flügel, auch durchaus gipsern. Denn Tannhäuser ist nicht wirklich im Venusberg, wie der Regisseur Harry Kupfer im Programmbuch der Staatsoper erklärt, er träumt sich nur dahin. Nun gehört zum Traum ja eigentlich nicht die Askese, sondern die Fülle und Überfülle. Doch der Traum in der Staatsoper ist eben der Traum des Latein- und Griechischlehrers vom Gipsgriechentum, gebildet im archäologischen Studiensaal, dem Tummelplatz der Ideale, wie es bei Wilhelm Busch heißt. Es wundert deswegen auch nicht, wenn Tannhäuser das “Königin, Göttin, laß mich ziehen!” recht beiläufig singt, wenig bewegt. Daß er eine große, lustvolle Neigung zu überwinden hätte, daß er zwischen starken Kräften steht, kann man dem Helden nicht anmerken. Er geht jetzt eben, es ist spät. Allerdings fragt man sich, warum es um diesen harmlos akademischen Traum so viel Scherereien geben wird, zunächst den Ärger am Hofe des Landgrafen, dann die Ungnade des Papstes und über allem das tiefe Entsetzen Elisabeths. Der Substanzlosigkeit des Hörselberg entspricht die Substanzlosigkeit auch der konkurrierenden Sphären. Selbstverständlich ist die Hofgesellschaft des Landgrafen oberflächlich, der Sängerwettstreit ein rein gesellschaftliches Phänomen, zu dem die Oberschicht Thüringens in Abendanzug oder Galauniform respektive im schulterfreien Abendkleid kommt. Die Damen tauschen Küßchen, alles wirkt recht entspannt; auch wer die Kraft der Doppelmoral hoch einschätzt, ist überrascht, daß sich diese Herrschaften über Tannhäusers Venus-Affaire so echauffieren. Und wie es mit der bösen Lust nichts ist und mit der guten Gesellschaft auch nicht, so braucht man von Glaube und Frömmigkeit ebenfalls nichts zu erwarten. Gerade steht Tannhäuser im Tal, da wird durch die Hebebühne der erste Pilgertrupp hochgefahren und macht sich mit dem Koffer in der Hand auf den Weg zum Bahnhof, die Gleise sind schon projiziert. Später werden die Pilger zurückkommen und vor einem Marienbild ihre Souvenirs aus Rom abstellen. Den ärgsten Devotionalienkitsch haben sie sich andrehen lassen. Auch aus der Erlösung Tannhäusers wird nichts. Nicht Pilger bringen das Zeichen der göttlichen Gnade, den erblühten Bischofsstab des Papstes, sondern gleich ist wieder die Amtskirche mit Bischofsmütze und Weihrauchfaß zur Stelle; die Ungeschicklichkeit der Obrigkeit, dem Tannhäuser die Absolution verweigert hatte, wird öffentlich ausgebügelt, ein geschicktes Arrangement, nichts als Priestertrug. Sind die bestimmenden Mächte so ganz und gar entkernt, hat es der Titelheld schwer. Er lebt nicht aus fester, eigener Substanz, sondern als eine hochbegabte, aber schwankende Größe in einem Kraftfeld, das nur leider abgestellt ist. Vielleicht lag es daran, daß Robert Gambill wie die Karikatur des Tenors agierte, mit dem üblichsten Armewerfen, dem prahlerischsten Posieren im Sängerwettbewerb. Gambill ist ein Rampensteher, die Freude an sich selbst erfüllt noch das “Erbarm Dich mein”, vorgetragen mit dem Stolz eines Sünders der Superlative. Während die Inszenierung die Momente schwächt, die die Personen unter Spannung setzen müßten, wächst in dem nun undefinierten Raum die Elisabeth der Angela Denoke. Die Rolle ist die undankbarste, die “tugendreichste Maid” und “ihr süß Geheimnis” wirken auf uns unecht süß und überspannt. Angela Denoke hat die Rolle dagegen wie neu geschaffen. Die Stimme ist schlank, nicht füllig, nicht auftrumpfend. Die Hallenarie hat dadurch den Eindruck reiner Freude, im Gebet “Allmächt ge Jungfrau” ist ein Mensch allein mit sich und einer Hoffnung, die schon von Verzweiflung durchzogen ist. Diese Nichte des Landgrafen ist eine couragierte Person, sie hat den Konventionen etwas entgegenzusetzen, aber auch dem Geliebten. Alles aber kann auch sie nicht heilen. Daß die Sphären der Lust, der Religion und der Gesellschaftlichkeit als so hohl dargestellt werden, ist weniger eine kritische Leistung als der Triumph der Gegenwartsgewißheit, ein billiger Triumph naturgemäß. Auf die Bühne werden die Einwände des ersten Blicks gebracht: Daß der Venusberg eine feuchte Primanerphantasie ist und der Landgrafenhof konventionell erstarrt, die Sänger etwas Kränzchenhaftes haben, das ist selbst längst eine konventionell erstarrte Mehrheitsmeinung. Wie sehr das alles schon gesellschaftlich approbiert ist, zeigt die Staatsoper selbst. Während man abends dem Publikum die Behauptung der Gesellschaftskritik zeigt, prahlt man am nächsten Morgen vor der Öffentlichkeit schon mit der Prominenz, die man zu dieser Gelegenheit glanzvoll ins Opernhaus gelockt hat. Man würde das Konzept Kupfers vielleicht günstiger beurteilen, wäre es der szenische Einspruch gegen die musikalische Präsenz. Würde man die Verführungskraft der Musik hören und die heutigen, wenn auch etwas geläufigen Einwände sehen, man könnte sich mit der Komplexität des Eindrucks trösten. Aber Barenboim geht auf der breiten Straße. Schon in der Ouvertüre ist es das Zitat des Tannhäuserlieds, das mit voller Kraft herausgespielt wird und dem Werk gleich das Aroma des Trivialen beimischt. Das ist so eine Stelle, zu der der Dirigent sich erhebt und das Orchester anfeuert. Immer wieder klingt die Staatskapelle dick und klobig. Man hätte sich leicht vorstellen können, daß gerade der “Tannhäuser” Barenboim liegt. Die Neigung, einzelne Momente auszumusizieren, könnte hier ihren glücklichen Moment finden, wie auch die Titelfigur selbst ein Mensch ganz des Augenblicks ist. Doch aus dem Momenthaften wurde das Pauschale. Die differenzierten rhythmischen Anweisungen Wagners waren kaum zu hören, immer trat das Nächstliegende überschwer hervor, als ob aus der ungefähren Erinnerung heraus gespielt würde. Das Orchester war durchaus klangvoll, aber über den starken Effekten der Melodielinie hörte man von den Streicherbewegungen zu wenig. Wer den “Ring” in der Lindenoper verfolgt hat, wird sich erinnern, wie sich Barenboim langsam auf die Akustik des Hauses einstellte und das Orchester zurücknahm. Zur Tannhäuser-Premiere schien er das alles vergessen zu haben, tatsächlich dirigiert er ja kaum mehr hier.

Stephan Speicher | 30.03.1999

Hamburger Abendblatt

Von Spannung keine Spur

Mit dieser Oper gedenke er, eine Revolution zu machen. So hat es Richard Wagner eigenhändig notiert. Das war 1842. Bei Harry Kupfer reicht’s 1999 nicht mal mehr zum kleinsten Revolutiönchen. Dahin scheinen die Zeiten, da der Regisseur sein Publikum mit unbequemen gesellschaftskritischen Deutungen in Rage brachte – sein neuer, Berliner “Tannhäuser” ist nur noch ein schwacher, entpolitisierter Aufguß dessen, was in Dresden und Hamburg einst für Empörung gesorgt hatte.

Der Venusberg – in Hamburg noch mit Hardporno-Filmszenen garniert – ist in Berlin nur noch ein Traum. Ort bürgerlich verklemmter Sehnsucht, von dem der brave Heinrich den Blick schon bald mit Grausen wendet. Kein Wunder also, daß beim Abschied von der Göttin keine rechte Leidenschaft aufkommen will. Braver sind Heinrichs Fluchtversuche lange nicht gewesen, emotionsloser hat kaum je ein Heldentenor seine Liebesschwüre vorgetragen.

Aber Robert Gambill ist ja auch keiner. Er gehört zu denen, die sich vom lyrischen ins schwere Fach hochmendeln wollen. Was manchmal gelingt, und machmal auch nicht. Gambills Bemühungen erinnern zwangsläufig an die alles überragenden Auftritte, die René Kollo – unter anderem in Hamburg – als “Tannhäuser” gegeben hat. Wo Kollo um sein Leben sang, bietet Gambill die Partie weitgehend ungerührt dar, wobei er die Töne zuweilen unangenehm anspringt.

Aber Gambill ist nicht das einzige Problem dieser Neuinszenierung. Für das zweite sorgt Daniel Barenboim. Der zerdehnt die Tempi noch mehr als es ohnehin schon seine Eigenart ist und bringt die Aufführung streckenweise regelrecht zum Stillstand. Daß der zweite Akt – nach einem schwungvoll dirigierten Einzug der Gäste – beim Sängerstreit schon wieder zum Erliegen kommt, geht allein auf Barenboims Konto. Aber wenn man seine Sänger so lange in der Luft hängen läßt, darf man sich eben nicht wundern, wenn die Spannung auf der Strecke bleibt.

Gewachsen waren Barenboims musikalischer Verzögerungstaktik im Prinzip nur die Frauen. Natürlich Waltraut Meier als Venus. Die mit ihrer starken Bühnenpräsenz immer alles aus dem Feuer reißt und sich auch in Berlin nicht aus dem hochdramatischen Konzept bringen ließ. In Berlin lagen ihr die Premierengänger wieder zu Füßen.

Die anderen Ovationen galten Angela Denoke, die in Berlin ein fulminantes Rollendebüt als Elisabeth gab. Eine so schöne, makel- und mühelos geführte volle, warme Stimme hört man selbst an den bedeutendsten Opernhäusern dieser Welt nicht alle Tage.

Die Meier und die Denoke trösteten denn auch über die starken Hänger der Kupferschen Inszenierung hinweg, über manch mimischen Firlefanz im zweiten Aufzug, den man mit seiner schwenkbaren Tribüne haarscharf so schon in Hamburg gesehen hatte.

Daß sich Barenboim den öffentlichen Kotau seines Hausregisseurs – zu den Klängen des Schlußchors wird der Dirigent apotheotisch in einer bühnenbreiten Glaswand gespiegelt – nicht verbeten hat, sagt viel über die Eitelkeiten des Berliner Lindenopern-Betriebs.

BARBARA MÖLLER | 30.03.1999

Tagesspiegel

Kir Royal auf der Wartburg

Es geht nicht, aber es geht! Demgemäß ist die Publikumsmeinung am Eröffnungstag der Festtage in der Berliner Staatsoper geteilt, aber die Zustimmung siegt.Harry Kupfer ist kein Regisseur, dem das Risiko nicht bewußt wäre, das er auf sich nimmt, wenn er Richard Wagners “Tannhäuser” in eine moderne Welt verlegt.

Die teure Halle auf der Wartburg hat in der Ausstattung Hans Schavernochs den Charme eines Funkhaus-Sendesaals.In der Höhe hinter der letzten Sitzreihe erscheinen im Frack, wie es sich gehört, Mitglieder der Staatskapelle, um die “Trompeten auf dem Theater” zu stellen.Und schon nahen die thüringischen Ritter, zahlreicher als sonst, wie es im Text heißt, weil Elisabeth, die Nichte des Landgrafen, des Festes Fürstin sein wird.Sie sind kostümiert (Buki Shiff) wie ein diplomatisches Corps beim Neujahrsempfang durchmischt mit einer Schickeria à la Kir Royal.Manche unter den Edelfrauen haben Erlaubnis, das hohe Fräulein mit Wangenküßchen links und rechts zu begrüßen und im schulterfreien Abendkleid die Worte der “Edelknaben” zu übernehmen.Sektkelche zieren das Party-Bild.

Und nun geschieht das Absurde, daß diese Gesellschaft (Harry Kupfer liebt Gesellschaftsporträts), die von sexueller Befreiung heute doch schon einiges mitgekriegt haben dürfte, mehr als erregt ist, weil einer der auftretenden Künstler sich zeitweise bei Frau Venus wohlgefühlt hat.”Ein furchtbares Verbrechen ward begangen.” Dank dem Einspruch der “reinen Jungfrau” Elisabeth wird Tannhäuser nicht gerichtet, sondern auf Pilgerfahrt nach Rom geschickt.Wie soll diese Geschichte in unsere Gegenwart passen und zu unseren Promis passen?

Zunächst einmal entwickelt der zweite Aufzug mit dem “Sängerkrieg auf Wartburg”unter der musikalischen Leitung von Daniel Barenboim eine Eigendynamik, die Einwände erstickt.Es wird fulminant gesungen – und im wesentlichen auch agiert.Angela Denoke ist eine Elisabeth, die Musik wie aus ihres “Herzens Tiefe” singt, souverän in der Technik, reich an stimmlicher Schönheit und Nuancierung.Die Gefühlsskala von Nachdenklichkeit bis zu verliebtem Überschwang wird optisch beglaubigt, indem die Sängerin zunächst kauernd in der ersten Reihe des noch leeren Auditoriums die Vergangenheit wachruft – “Da er aus dir geschieden” – und sich schließlich von ihrem stürmischen Verehrer über den schwarzen Konzertflügel ziehen läßt, der als Kunstsymbol die Bühne dominiert.Dieser Tannhäuser ist Robert Gambill, ein Tenor mit erstaunlichen Reserven und einem Impetus, der in der Romerzählung des dritten Akts seinen Höhepunkt erlebt.Kupfer verdammt den Titelhelden nicht einseitig, indem er ihn mit dem Verantwortungsgefühl eines Popstars ausstattet – “er schwankt ja wie ein Rohr im Wind”.Auch Liebreiz, allerdings der überheblichen Art, Heimatlosigkeit und Schutzbedürfnis bestimmen das komplexe Wesen dieses Künstlers, der kindlich seinen Kopf im Schoß der Elisabeth wie der Venus birgt.

In den lauten Turbulenzen und Konflikten des Wartburgaktes fällt auf, daß auch Elisabeth allein ist, wenig Verständnis findet und der Landgraf (Robert Holl mit Basses Würde) sie mitnichten “ihr Gesicht an seiner Brust” bergen läßt.Sie hat nur diesen einen Menschen Tannhäuser, zu dem sie steht, mit der Unbedingheit ihrer mutigen Persönlichkeit.Walther von der Vogelweide (Gunnar Gudbjörnsson) ist ein Angeber und Wolfram von Eschenbach ein Lügner, wenn er die versammelten Männer “tapfer, deutsch und weise” und deren Frauen “hold und tugendsam” nennt.Roman Trekel macht aus dem Schicksal Wolframs einen Entwicklungsroman zum Lyriker hin, der sein Lied an den Abendstern sucht und findet.Er hat erlitten, daß Elisabeth selbstbewußt in den Tod gehen und seine Begleitung auf ihrem Weg abweisen muß.Hier inszeniert Kupfer am strengsten nach Wagners Anweisungen.

Der erste und der dritte Aufzug sind nur aus der Korrespondenz mit dem zweiten zu verstehen.Daher läuft die Aufführung, die von Ungeschicklichkeiten nicht frei ist, etwas schwer an.Unser Zeitgenosse Tannhäuser erträumt sich einen Venusberg in Abhängigkeit von seiner Wartburgwelt, der er in der Partitur auch musikalisch verpflichtet ist.Im Bacchanal der Dresdner Fassung gibt es eine abendländische Mixtur aus Romanik, Herrenchiemsee, “Schönheit-Abend”, wie das Varieté der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert seine Nacktdarstellungen nannte, und schließlich den versteinerten Konzertflügel.In dieser Vision ist der Lack ab, das Instrument sieht nach schadhaftem antikem Marmor aus und ist Sitz der Frau Venus.Für die gefeierte Waltraud Meier, das einzige Ensemblemitglied der ganzen Produktion, das nicht in seiner Rolle debütiert, ist die erweiterte Pariser Fassung der Partie gewählt worden.Als eine Dame in dunkelrotem Samt und schwarzem Haar sucht sie Tannhäuser zurückzuhalten mit ihrer wunderbar gesungenen Arie “Geliebter komm”, bevor ihr Sänger sich endgültig der Marienstatue zuwendet, das Mailied des Hirten (klar und anmutig: Dorothea Röschmann) erklingt und die Pilger als Reisende mit Koffern aus der Versenkung auftauchen.

Der Venustraum ist so mit der Erinnerung an Elisabeth gemischt, das Paar auf dem weißen Flügel verhält sich ähnlich dem auf dem schwarzen.Und wenn Tannhäuser in der Wartburg dem Schwung seines Venusliedes anheimfällt, kniet er vor Elisabeth, ihrer Sinnlichkeit in blauem Kleid und blondem Haar.Die Vermittlung zwischen den Sphären, die hiermit von der Regie geschaffen wird, ist interessanter als bekannte Versuche, beide Sopranpartien mit einer Sängerin, so sie sie bewältigt, zu besetzen.

Daniel Barenboim macht mit der Staatskapelle seine romantische Seelenmusik dazu, Klarinetten, Hörner und Fagotte intonieren den keuschen Pilgerton, den die Streicher aufblühen lassen und der Staatsopernchor weiterträgt.Der Magier Richard Wagner preist die Venus.Sehr ruhig und innig begleiten die Holzbläser den Abgang Elisabeths, der wahrhaftigsten Figur der Oper.

Bleibt die Frage, ob sich das Stück in modernem Gewand spielen läßt.In den Augen der mittelalterlichen Christenväter war Venus ein Dämon, ihr Stern der Liebe aber stand am Himmel.Die antiken Götter wurden in die Hölle geschickt.Bei Richard Wagner verquickt sich die Legende mit dem “Tannhäuser”-Gedicht Heinrich Heines, das eine Parodie ist.

Dennoch haben Entsetzen, Abscheu, Bestürzung, die unsere zeitgenössischen Wartburgleute auf der Bühne der Lindenoper ergreifen, als sie von Tannhäusers Sündenfall hören, einen irrationalen Grund: Wagners Stück übermittelt durch das 19.Jahrhundert hindurch den Mythos, den Schock, die Urangst, den Rausch in die Gegenwart.Kupfers zweiter Aufzug wird spielbar und hat, anders als Peter Konwitschnys liebevolle Meisterinszenierung in Dresden 1997, die Zeitschichten des Werkes zum Thema: das meint heute und hier eine kritischere Sicht auf den anarchischen Künstler wie die verlogene heile Welt.

SYBILL MAHLKE | 29.03.1999

Die Welt

Wenn der Wind weht

Die Überraschung des Abends ist auf den Namen Robert Gambill getauft. Gambill singt die Titelpartie in “Tannhäuser” von Richard Wagner, der Festtags-Premiere in der Staatsoper an Berlins “Unter den Linden” und macht im Handumdrehen (nach Ben Heppners Tristan in Salzburg) deutlich, daß die Zeiten des besinnungslosen heldentenoralen Wagner-Gebrülls vorbei sind. Von jetzt an wird wieder gesungen. Gambill tut es auf ausdauernd klare, überredende und gleichzeitig dramatisch gespannte Weise. Selbst die Rom-Erzählung im 3. Akt klingt frischkehlig wie zu Beginn und baut sich voller Leidenschaft und Leidenskraft anschaulich und mitreißend auf. Gambill ist ein glänzender Gestalter aus Leib und Kehle. Beides weiß natürlich auch Waltraud Meier als Frau Venus glücklich ins Feld zu führen. Sie macht den braven Thüringer Hörselberg geradezu zum Mount Everest der Liebesumtriebigkeit: eine Mezzosopranistin im Zenit ihres Könnens, von einer Singpräsenz auch, die selbst die kargste Szene (und an der ist in dieser Neuinszenierung Harry Kupfers kein Mangel) wie mit hohen Wogen zu überfluten versteht. Man trägt es selbst dem wundervollen Gambill ein bißchen nach, daß er diese Parade-Venus an die eher laute als heilige Elisabeth am Thüringer Hofe verrät. Daniel Barenboim leitet die Staatskapelle zu saftigem, temperamentvollem Wagner-Spiel an. Er ist ganz und gar überlegener Herr der musikalischen Lage. Er formuliert den dramatischen Vorgang ohne Zaghaftigkeit aus. Er gibt der Venusbergmusik den ihr zustehenden, flirrend sinnlichen Reiz, obwohl man sich nur mit einem knappen Griff der Pariser Fassung bedient, sonst aber der Dresdner mit Abstand den Vorzug gibt. Barenboim führt die Sänger vorzüglich. Wenn Roman Trekel als Wolfram im Sängerkrieg auch noch als der geborene Liebes-Langweiler erscheint, im 3. Akt beschert ihm Barenboim ein derart eindringliches Rezitativ, daß der gepflegte Herr von Eschenbach plötzlich eine durchaus dramatische Kontur gewinnt. Trekel singt die Rolle in einen ganz neuen Kontext hinauf.Das gelingt Angela Denoke noch nicht. Sie führt einstweilen Stimme vor, doch noch keinen Charakter: eine Jubelstimme, die kein Wässerchen, aber auch noch keine tiefere dramatische Einsicht trübten. Ihre Heilige Elisabeth zieht am Ohr vorüber wie bei einem Stimmdefilee der Haute-Couture-Soprane. Sie gibt den glücklichen Auftakt der Rolle, das traurig opfervolle Ende spart sie noch aus. Entzückend singt dagegen Dorothea Röschmann das Hirten-Liedchen. Zu bedauern bleibt mitunter nur, daß sich über Harry Kupfers inszenatorischem Larifari gnadenlos dreimal der Vorhang hebt. Hans Schavernoch hat ihm die Bühne gebaut: ein optisches Eintopfgericht sozusagen mit viel Zeitgeist als Ketchup. Vorgestern, Gestern und Heute schaukeln durcheinander.Die Pilgerzüge nach Rom gehen offenbar von Gleis drei, mit dem Lastenfahrstuhl hievt man die Glaubenstouristen auf den Singperron. Landgrafens, wie auch Frau Venus, protzen natürlich mit einem Steinway, wobei der im Besitz der Göttin tatsächlich von Stein scheint. Brunnenaufsätze, wimmelnd von menschlichen Liebes-Maden fahren heraus aus den Hörselbergtiefen. Ähnlich, allerdings in Frack und Claque, wimmeln die Gäste zum Fest auf der Wartburg herbei und ergreifen rigoros des Landgrafen Hand, ohne auch nur abzuwarten, daß er sie ihnen entgegenstrecke. Doch der Schluß gelingt Kupfer plötzlich grandios. Da zieht zum Zeichen der plötzlichen himmlischen Gnade mit der Bahre der Heiligen Elisabeth die schicke Wartburg-Gesellschaft herbei, dazu daherprunkend die benedeiende Kir-che. Doch ein Sturm des Geistes, der Dichtung erhebt sich und weht die ganze heilige oder unheilige Gesellschaft unaufhaltam auf und davon. Klug, wie er ist, hätte er Kupfers Inszenierung von Anfang gleich mitreißen sollen.

Klaus Geitel | 30.03.1999

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User Rating
(2/5)
Media Type/Label
Premiere 560
Technical Specifications
320 kbit/s CBR, 44.1 kHz, 427 MByte (MP3)
Remarks
Broadcast
A production by Harry Kupfer