Tannhäuser

Wolfgang Bozic
Chor und Extrachor der Staatsoper Hannover
Niedersächsisches Staatsorchester Hannover
Date/Location
20 January 2007
Staatsoper Hannover
Recording Type
  live   studio
  live compilation   live and studio
Cast
Hermann Albert Pesendorfer
Tannhäuser Robert Künzli
Wolfram von Eschenbach Jin-Ho Yoo
Walther von der Vogelweide Latchezar Pratchev
Biterolf Young Myoung Kwon
Heinrich der Schreiber Hans Sojer
Reinmar von Zweter John In Eichen
Elisabeth Brigitte Hahn
Venus Khatuna Mikaberidze
Ein junger Hirt Hinako Yoshikawa
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Online Musik Magazin

Schuldig geblieben

“Ich bin der Welt noch den Tannhäuser schuldig” hat Wagner kurz vor seinem Tod erklärt. Er hätte gern den vielen Fassungen des Werkes noch eine endgültige hinzugefügt. Doch diese selbsterklärte Schuld ist – wie so viele Schulden in seinem Leben – offen geblieben. In Hannover blieb man dem Publikum den “Tannhäuser” über 3 Jahrzehnte hinweg schuldig. Nun hat man ihn zwar endlich auf die Bühne der Staatsoper gebracht, die Ansprüche der Gläubiger wurden dennoch nicht befriedigt.

Regisseur Philipp Himmelmann und Generalmusikdirektor Wolfgang Bozic haben sich für die “Dresdener Fassung” entschieden. Also kein Ballett und ein auf das Wesentliche beschränkter Venusberg, aber mit dem Auftritt der Venus im letzten Bild. Das Einheitsbühnenbild von Elisabeth Pedross wird von drei Seiten durch hohe Zuschauertribünen mit hellblauen Hartschalensitzen begrenzt. Die Spielfläche in der Mitte soll mit (echtem) Wasser und waberndem Bodennebel Urinstinkte und Urtriebe symbolisieren. Tannhäuser – ein gewöhnlicher Hippie, mit den wohl unvermeidlichen ungepflegten langen Haaren – schreibt seine künstlerischen Ergüsse auf den Oberkörper eines halbnackten Venusdoubles von denen einige wenige mehr auf den Sitzen der Tribüne herumhängen. Ihre langen schwarzen Nylons und die viel zu weiten, grauen Seidenblusen sollen wohl erotisch wirken. Papier und Bücher werden von Frau Venus im Wasser verteilt und dabei singt man so ein bisschen um sich herum. Von Leidenschaft oder gar Erotik, vom Hin- und Hergerissensein spürt und sieht man nichts. Dieser Venusberg ist geradezu spektakulär langweilig.

Nachvollziehbar verlässt Tannhäuser diesen Ort, weil es dort langweilig ist. Der nicht unerhebliche Aspekt, dass ihn dort nichts mehr reizen, nichts mehr inspirieren kann, weil ihn die Überfülle der Reize langweilt, geht so aber gänzlich verloren. Eine vom Schnürboden herabschwebende zweite Spielfläche mit Kunstrasen und Madonna bedeckt die wässrige Peinlichkeit des ersten Bildes. Doch unter dieser Decke brodelt der Nebel weiter. Die Urtriebe sind immer noch da. Ein bisschen plakativ, aber nachvollziehbar.

Mit den Rucksäcken auf dem Rücken, den Nasen in den Gesangbüchern und hellblauen Tüchern um den Hals wandern die Pilger nach Rom – oder doch eher zum Kirchentag? Schade, dass sie durch das Besteigen der Tribünen den ersten Teil des Hirtenliedes vertrampeln.

Wer sich früher zum Jagen traf, geht heute zusammen auf den Golfplatz. Der Landgraf sollte sich allerdings einen Outfitberater zulegen. Orange steht ihm nicht wirklich. Ganz nett ist die Idee, dass man nicht zufällig hier vorbei kommt, sondern einen verschlagenen Ball sucht, den das Hirtenmädchen im roten Lackmäntelchen artig auf den Rasen legt. Reizvoll wäre es, die einzelnen Sängerritter bzw. Sängergolfer durch Personenregie deutlicher individuell zu charakterisieren. Aber Kostümbildnerin Petra Bongard hat da erfolgreich nachgeholfen. Wie auch immer, man einigt sich – wohl auch, um endlich in Ruhe weiterspielen zu können. “Führt mich zu ihr!” Ja, doch! – aber erst wird eingelocht. Landgraf Herrmann holt aus, der Vorhang fällt.

Im Ambiente eines noblen Vereins oder einer Verbindung spielt der zweite Akt. Klassisches Holz und moderne Stühle verbinden Tradition mit Aktualität. Elisabeth im Trenchcoat begrüßt die Halle nicht wirklich froh. Der Vereinsvorsitzende, Landgraf Hermann, kommt mit Aktenkoffer und hat seine Robe in Plastikfolie, frisch aus der Reinigung, über dem Arm. An der Decke hängen phantasievolle mittelalterliche Wappen. Die Sänger erscheinen später in dazu passender, sehr individueller, geradezu albern mittelalterlicher Verkleidung.

Mit “So stehet auf!” erinnert Elisabeth Tannhäuser auf die von ihm einmal mehr ignorierte Etikette, weil er sich in einen der Hartschalensessel gefletzt hat, nicht etwa weil er zu ihren Füßen auf die Knie gefallen ist. Ähnlich leidenschaftslos verläuft der Rest der ersten Wiederbegegnung zweier Liebender, die ihre Liebe gut zu verstecken wissen. Wolfram, der die ganze Zeit über anwesend ist und seine Felle erneut wegschwimmen sieht, wirft Tannhäuser kurzerhand hinaus.

Auch die Gäste des Landgrafen haben sich verkleidet. Die Männer haben ihre ritterlichen Festumhänge über die Anzüge geworfen, die Damen haben ihre Abendkleider mit hellblauen Schärpen geschmückt. Dazu gibt es Schwerter für die Herren und weiße Lilien für die Damen. Ganz klassisch. In einem Eingangsritual unterwerfen sich die Frauen ihren Männern. Exakt einstudiert, sehr ordentlich, wie sich das gehört.

Doch dann zerren die pummeligen, ungehobelten Edelknaben eine junge Frau in die Runde. Der Landgraf hängt ihr ein Schild um den Hals “Ich habe Lust empfunden”. Er peitscht sie aus, sie wird getreten und bespuckt, die Kleider werden ihr vom Leib gerissen. Zu den “Heil”-Rufen des Chores präsentiert Herrmann den Jubelnden die Peitsche. Das ist deutlich genug um verstanden zu werden. Doch scheint sich der Regisseur hier im Regie-Werkzeugkasten vergriffen und den allzu großen Holzhammer erwischt zu haben. Fraglich bleibt auch, ob hier wirklich die weibliche Lustempfindung und ihre Unterdrückung Thema sind oder ob die Unterdrückung der Frau hier nicht eher durch das Verschachern Elisabeths an einen Sänger ein näher liegendes Thema sein könnte. Die Provokation ist dem Regisseur jedenfalls gelungen. Ob uns das wirklich weiterbringt steht auf einem anderen Blatt. Zumindest ist diese Szene nicht langweilig – was sie jedoch keinesfalls rechtfertigen soll.

Tannhäuser ist ein ungehobelter Kerl, der sich an keine Regel hält. Er sitzt, steht und singt, wann und wie er will. Während alle anderen Minnesänger mit Applaus begrüßt werden, wird er ausgebuht. Das Schlimme ist folglich auch nicht sein persönliches Venusberg-Intermezzo, sondern die Tatsache, dass er die Ordnung stört. Für einen Moment bringt er die Wartburggesellschaft gehörig durcheinander. Doch dann findet der Vorsitzende Landgraf in den Statuten die Lösung: Entweder schießt sich Tannhäuser ehrenhalber eine Kugel durch den Kopf – die Pistole drückt ihm Herrmann erst in die Hand und dann an die Schläfe – oder er muss nach Rom. Elisabeth wird gehörig eingeschüchtert, der Schreibtisch wieder aufgeräumt und dann geht das Singen um Elisabeth weiter, als sei nichts geschehen. Und alles hat wieder seine schöne Ordnung. Das ist eine ziemlich gute Idee! Mehr davon hätte aus dieser Produktion wirklich etwas werden lassen können.

Eher ärgerlich als demütig betet Elisabeth im dritten Akt zur Mutter Gottes. Ein Gebet während dessen sie den Verstand verliert. Sie steigt auf das Podest, nimmt Kopftuch, Umhang und Heiligenschein der Statue ab und legt sich die heiligen Requisiten selbst an. Vermessen oder verrückt? Mit “Elisabeth, dürft’ ich dich nicht geleiten” fragt Wolfram möglicherweise an, ob sie ihn mit in den Wahnsinn nimmt. Er legt sich zu ihren Füßen nieder und singt seinen “Abendstern” im Liegen.

Doch schon wieder stört Tannhäuser die Wahnsinns-Idylle. Nachdem ihm die Vergebung versagt wurde und er in dieser Welt keinen Fuß mehr fassen kann, versucht er in die Venus-Welt zurückzukehren. Spektakulär fährt die Elisabeth-Maria-Statue mit der Spielebene in die Höhe und gibt die wässrig-nebligen Abgründe der Seele, also den gefluteten Bühnenboden darunter, frei. Doch auch zu Frau Venus führt kein Weg zurück. Als Wanderer zwischen den Welten, in denen er sich jeweils schuldig gemacht hat und schuldig bleibt, platzt Tannhäuser geradezu der Schädel beim Heilsgesinge der Nonnen (= jüngeren Pilger), die überflüssigerweise auf der Tribüne die La-Ola-Welle und dergleichen Firlefanz mehr machen. Spätestens hier wird das Ganze lächerlich gemacht und das ist das, was eine Oper am wenigsten verdient hat.

Die Publikumsreaktion im Schlussapplaus der Premiere war denn auch ziemlich eindeutig: Hielten sich “Buh”- und “Bravo”-Rufe zunächst noch die Waage, konnten sich die wenigen “Bravo”-Rufer gegen den “Buh”-Sturm beim Erscheinen des Regieteams nicht durchsetzen.

Oft tröstet der musikalische Teil einer Opernproduktion über regieliche Enttäuschungen hinweg. Das gelingt hier nur bedingt.

Robert Künzli gastiert in Hannover als Tannhäuser. Er beherrscht die Partie mit größter Sicherheit und zeigt nur im zweiten Akt kleinere Ermüdungserscheinungen. Zuweilen schmiert er ein paar Schlußtöne ins Beliebige, aber sonst sitzt die Stimme. Man muß um keinen Spitzenton bangen. Doch es fehlt ihm ein wenig die Durchschlagskraft und Bühnenpräsenz um ein wirklich umwerfender Tannhäuser zu sein. Brigitte Hahn möchte man gern einmal als Elisabeth hören, der von der Regie keine so eigenwillig andere Charakterisierung zuteil wurde. Eine Elisabeth, die in der Halle-Arie jubeln darf und die demütig beten darf. Lust darauf macht vor allem das herzzerreißend schön gesungene “Ich fleh’ für ihn, ich flehe für sein Leben” im zweiten Akt.

Mit großer Stimme verleiht Khatuna Mikaberidze der Liebesgöttin stahlharte Eigensinnigkeit und ist auch stimmlich eher Domina als Verführerin. Eine Göttin, die zu herrschen weiß. Eine Konzeption die aufgeht. Wolfram von Eschenbach mag man gern als den guten, liebevollen, aufopferungswilligen Freund sehen. Hier ist er (nicht zum ersten Mal) als ein auf seinen eigenen Vorteil bedachter Intrigant gezeichnet. Dementsprechend gestaltet Jin-Ho Yoo die Partie kühl und sachlich. Sein kerniger, makellos geführter Bariton zeigt keine samtige Wärme, keine emotionale Rührung, ganz so, wie es der Charakteristik der Figur – in dieser Inszenierung (!) – entspricht.

Als Landgraf Herrmann verströmt Albert Pesendorfer des Basses Grundgewalt, lässt aber vor allem im ersten Akt eine Portion Stimmkultur vermissen, an die er sich erst im zweiten Akt wieder erinnert. Im Ensemble der Minnesänger klingen die einzelnen Stimmen zumeist deutlicher hervor, als dass sie ein homogenes Ganzes bilden. Auch hat hier nicht jeder Sänger seine passende Partie gefunden. Ganz entzückend mit wunderschön klarem Sopran: Hinako Yoshikawa als Hirtenmädchen mit Kuschelschaf.

Generalmusikdirektor Wolfgang Bozic legt viel Wert auf musikalische Feinarbeit, auf das Herausheben von Nebenstimmen und die lyrischen und kantablen Elemente. In der Ouvertüre kämpft Wagners jugendlicher Überschwang noch in gleicher Stärke mit, verliert dann doch zunehmend. So richtig mitreißend und atemberaubend klingt dieser “Tannhäuser” nicht. Dabei ist sicher zu berücksichtigen, dass dem Gesamtkonzept der Produktion auch auf musikalischer Seite Rechnung getragen wird. Und da ist für Überschwang und Genuss eher wenig Platz. Das Vorspiel zum dritten Akt gelingt dennoch wunderschön. Ein Sonderlob gebührt den Hörnern, die ihre anspruchsvolle Aufgabe makellos bewältigen. Die Gesamtleistung des Orchester schmälern einige mehr, andere weniger deutliche Holperer kaum. Vor solchen sind auch Chor und Extrachor nicht gefeit, die ansonsten prächtig klingen, auch wenn sie zu oft aus dem Off singen müssen.

FAZIT

Eine überwiegend langweilige, leidenschaftslose, modernisierende Regiearbeit mit einigen guten, einigen überzogenen und einigen haarsträubenden Einfällen, die spektakulär wirken, aber nicht weiterbringen. Musikalisch ordentlich, nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Bernd Stopka | Premiere in der Staatsoper Hannover am 20. Januar 2007

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User Rating
(2/5)
Media Type/Label
HO, PO
Technical Specifications
256 kbit/s CBR, 44.1 kHz, 310 MByte (MP3)
Remarks
Broadcast (NDR Kultur)
A production by Philipp Himmelmann