Die Walküre
Georg Solti | ||||||
Orchestre du Théâtre National de l’Opéra de Paris | ||||||
Date/Location
Recording Type
|
Siegmund | Peter Hofmann |
Hunding | Kurt Moll |
Wotan | Theo Adam |
Sieglinde | Helga Dernesch |
Brünnhilde | Gwyneth Jones |
Fricka | Christa Ludwig |
Helmwige | Andrea Guiot |
Gerhilde | Hélène Garetti |
Ortlinde | Hélia T’Hézan |
Waltraute | Michèle Vilma |
Siegrune | Anna Ringart |
Grimgerde | Danièle Grima |
Schwertleite | Jocelyne Taillon |
Roßweiße | Francine Arrauzau |
Wagner im Sandsack-Bunker
Am Schluß rief jemand, präzise in das rhythmische Klatschen für die Solisten hinein skandierend, nach Patrice Chéreau. Der Franzose hatte letzten Sommer in Bayreuth der deutschen Wagner-Gemeinde die Schmach einer (für sie)bös satirischen oder zumindest theatralisch aufregenden Inszenierung des „Ring des Nibelungen“ angetan – jetzt hätten gewiß, umgekehrt, einige Franzosen ihn mit Freuden jenen Deutschen vorgezogen, die ihnen in der Pariser Opera, zumindest in den ersten beiden Teilen, einen „Ring“ vorsetzen, der so gar nicht mit ihren Werk-Vorstellungen und ihrem Wagner-Bild übereinstimmen will.
Vor vierzehn Tagen, als Peter Stein in „Rheingold“ den Wotan frohgemut, wenngleich nicht ohne Skrupel mit seinem Götter-Familien-Clan in die neue Burg Walhall einziehen ließ, nach einem sehr vielschichtigen und heterogenen Vorspiel in Plüsch und Umwelt-Müll, nach einem Vor-Endspiel einer total degenerierten Gesellschaft – da fragten wir uns, wie denn wohl es weitergehen könnte, da doch schon jetzt alles soziemlich am Ende sei.
Heute, nach der „Walküre“, wissen wir: Es ist gar nicht weitergegangen, jedenfalls nicht in strenger, zeitlicher Folge. Klaus Michael Grüber springt mit seinem Bericht vom Inzest des Menschen-Paares Siegmund-Sieglinde, vom Prinzipienstreit des Götter-Paares Wotan-Fricka, von den Helden-Rekrutierungs-Aktionen der Walküren und der Feuerlzauber-Dauerschlaf-Bestrafung der ungehorsamen Brünnhilde in prähistorische Zeiten zurück. Eduardo Arroyos Bühnenbild und die Kostüme von Moidele Bickel zeigen: Da ist noch eine unmittelbare Verbundenheit von Gott, Mensch und Natur möglich. Wotan und die Walküren tragen Gemsen-Geweihe als Kopfschmuck, Hunding haust in naturfarbenen und naturgeformten Möbeln, (ausgestopfte) Hirsche lugen von Sandsack-Felsen herab in die Szene, und die Walküren galoppieren auf (veritablen) Rössern durch den frisch verschneiten Tann.
Aber dann ist es halt doch – Wotan erzählt es, und Grüber/Arroyo offenbaren es – weitergegangen. Der zweite Akt, in dem Fricka die Bestrafung der Blutschande fordert und Wotan sie sich abtrotzen läßt, wo Brünnhilde mit ihrer „Todesverkündigung“ dem Siegmund die Niederlage gegen Hunding voraussagt und jener im Kampf fällt, wo Brünnhilde aber auch die schwangere Sieglinde rettet und sich damit schuldig gegenüber Wotans Gebot macht – dieser Akt spielt in einem kubischen Verlies aus hochaufgetürmten .Sandsäcken mit Schießscharten-Lichtschlitzen. In ihm haben sich die Götter gegen die Riesen und Nibelungen verschanzt, und technisches Gerät deutet eine letzte Rettungsmöglichkeit durch Flucht in den außerirdischen Weltraum an. In der gleichen Szene aber quillt, bei der Todesverkündigung, tödlicher Qualm aus Bodenfugen – die Gaskammer eines Konzentrationslagers, das die Götter für sich selber von den Riesen erbauen ließen. Das ist längst nicht mehr prähistorisch.
Doch mit dieser Interpretation bin auch ich vermutlich bereits genau in jene Falle gegangen, die Grüber und Arroyo dem Zuschauer einen ganzen Abend lang immer wieder stellen. Mit einer Fülle von beziehungsträchtigen Details provozieren sie nämlich Assoziationen, Deutungsversuche, die in jedem Bild eben Prähistorisches und Futuristisches, Irdisch-Zeitliches und Metaphysisches, Konkretes und Symbolisches, Kritisches und Affirmatives zu erkennen und entsprechend auszulegen versuchen, die hinter jedem etwas und ebensogut hinter allem nichts entdecken können oder sollen.
Wozu etwa mag eine bunte Glühbirnen-Kette, Accessoire einer Italienischen Nacht,taugen, wenn sie wie hier derangiert auf dem Boden liegt? Wozu eine Tüll-Umhüllung über den jungen Bäumen einer Tannenschonung?Wozu eine miese Funzel von Stehlampe ohne Schirm neben einem Stühlchen, auf dem Wotan zu selbstquälerischen Betrachtungen sich niederläßt? In der Tat: so etwas wie ein letztes zärtliches Nocturno, kurz vor der Katastrophe, ist es schon, wenn Siegmund und Sieglinde auf der Flucht eine Ruhepause einlegen. Zu überlegen ist auch durchaus, wieso wir manchmal den Pflanzenschutz über den Menschenschutz stellen. Gewiß, schließlich, könnte das ramponierte Lämpchen die improvisatorische Eile, die Desorganisation von Familienleben und,-die gestörten Beziehungen zwischen den Individuen heutzutage anzeigen.
Wenn die Wände von Hundings Hütte aus lauter über- und nebeneinander gehängten frackartigen Jacken bestehen: Ist damit die Uniformierung moderner menschlicher Verhaltensweisen oder der Zwangsjacken-Charakter jener großbürgerlichen Moralcodices, wie Hunding sie vertritt, chiffriert? Oder ist, umgekehrt, die Überwindung dieser moralischen Enge und Gefangenschaft durch die alle Konventionen sprengende spontane Liebe verschlüsselt angedeutet, wenn zu den „Winterstürmen“ diese Uniformen-Wände nach oben entschwinden, sich in Nichts auflösen und den Blick freigeben auf einen Vollmond, vor dem Rotwild äst?
Man sieht: Arroyos Assoziations-Fallen sind an jeder Ecke aufgestellt, und es fällt nicht schwer, zu jedem szenischen Detail nicht nur eine, sondern mehrere und unterschiedliche erklärende Theorien aufzustellen – und sie alle klingen plausibel. Allein sie sind auch ebenso vage, wie die kriminalistische Suche interessant ist, ebenso nutzlos wie notwendig wie ärgerlich.
Sie sind nutzlos – denn weder Grüber noch Arroyo rechnen mit diesen Theorien oder arbeiten mit ihnen. Was sich da als Bildrealität für die Interpretation anbietet, ist eben nicht mehr als diese freie Bildkomposition, fast collageartig gefügt und in eher absurdem denn als satirisch zu verstehendem Zufälligkeits-Charakter. Daß es seine ästhetischen Reize hat, etwa wenn 15 000 Sandsäcke zu Felsen und Kasematten-Mauern geschichtet werden, kann nicht bestritten werden. Daß die Bilder ihre grotesken Züge besitzen, steht außer Zweifel. Daß man sie für Kunst halten kann oder auch nicht, zeigt die Ambivalenz kritischer Urteilsentscheidungen heute. Daß diese Assoziations-Fallen auch ärgerlich wirken können, vielleicht sogar wollen, ist nicht von der Hand zu weisen.
Wenn etwa im ersten Akt zum erstenmal die leitmotivische Cello-Kantilene erklingt und jemand gerade in diesem Moment aus einem kostbaren Kristallhumpen Wasser trinkt, ist man versucht, eine Assoziation zu finden. Allein die Geste ist zufällig, eine laxe Party-Unterhaltungs-Attitüde; jede tiefschürfende Interpretation führte in die Irre. Und damit lenkt das szenische Detail ungeheuer von der Musik ab.
Ähnliche Gesten aber passieren dem Regisseur immer wieder. Grüber enthält sich zwar bewußt der tautologischen Symbolik, läßt also nicht etwa das Schwert in der Esche aufblitzen, wenn das entsprechende Motiv erklingt Um so ärger daher ist sein gegen die Musik gerichtetes Verwirrspiel.
Aber das Rätselraten ist notwendig, um mit Beginn des zweiten Aktes über die Unvollständigkeit, um nicht zu sagen: Konzeptionslosigkeit und Unmusikalität der Regie hinwegzutäuschen. Während noch im ersten Akt – wo es mit den Begebenheiten in Hundings Hütte eine Menge szenisch zu erzählen gibt – Grüber eine Fülle intensiver und aussagestarken Bilder erfindet, ihm im Aufbau der Spannungen zwischen Siegmund und Sieglinde einerseits, zwischen Siegmund und Hunding andererseits eine glänzende, manchmal geniale Personenführung gelingt, flachen die beiden anderen Akte zu Arrangements und zur beiprovisation nach tradierten Opern-Grundmustern ab. Ohne die starke Bildkraft von Arroyos Szene böten diese beiden Akte nichts als bloße Verlegenheit, welche dann vier Sänger-Profis mit den ihnen gewohnten Gängen und Gesten füllen.
Denkbar, daß eine Menge dessen, was Grüber beabsichtigte (die Bücher lesenden Seelen der toten Helden auf einer herabgelassenen Beleuchterbrücke etwa, oder Brünnhilde, Hühner rupfend und in den Federn die Seelen der Toten nach Walhall blasend), aus welchen Gründen auch immer nicht zu realisieren war. Aber an der Berliner Schaubühne würde sich Grüber auch nicht mit der Einstudierung eines über vier Stunden dauernden Stücks in zwei Wochen, zufrieden geben. Grüber hat Wagner und die Oper unter- und sich selber überschätzt.
Glanzvolle Stimmen sorgen dann schließlich doch für kulinarische Oper: Theo Adam als Wotan, Gwyneth Jones (die zwei Tage zuvor einsprang, da Ursula Schröder-Feinen „erkrankt“ ausstieg) als Brünnhilde, Helga Dernesch als Sieglinde, Peter Hofmann als Siegmund, Kurt Moll als Hunding, Christa Ludwig als Fricka. Sir Georg Solti beginnt das Vorspiel beherzt und impulsiv, zieht sich aber schnell in einen ausgesprochen lyrischen Duktus zurück und läßt bei gemessenen Tempi den Sängern viel Zeit zur Entwicklung belcantistischer Linien. Vom Orchester allerdings breitet sich gelegentlich einiger Schrecken aus: So schlecht gestimmte Bläser waren gewiß schon lange nicht mehr in einem führenden Opernhaus zu hören.
Die jüngsten Gerüchte wollen nicht verstummen. Die Fortsetzung des „Ring“, für Herbst 1977 geplant, sei stark in Frage gestellt: zum einen sei kein Geld mehr da, zum anderen fehle das Interesse und der Mut. Nach der „Walküre“ ist das letztere sogar einigermaßen verständlich. Ob Rolf Liebermann tatsächlich Patrice Chéreau bitten wird?
Heinz Josef Herbort | 24. Dezember 1976