Die Walküre
Pietari Inkinen | ||||||
Orchester der Bayreuther Festspiele | ||||||
Date/Location
Recording Type
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Siegmund | Klaus Florian Vogt |
Hunding | Dmitry Belosselskiy |
Wotan | Tomasz Konieczny |
Sieglinde | Lise Davidsen |
Brünnhilde | Catherine Foster |
Fricka | Christa Mayer |
Helmwige | Daniela Köhler |
Gerhilde | Kelly God |
Ortlinde | Brit-Tone Müllertz |
Waltraute | Stephanie Houtzeel |
Siegrune | Nana Dzidziguri |
Grimgerde | Marie Henriette Reinhold |
Schwertleite | Christa Mayer |
Roßweiße | Simone Schröder |
Ein psychedelischer Trip
Im Sommer 2020 fiel die Neuproduktion des Ring des Nibelungen bei den Bayreuther Festspielen der durch Corona bedingten Absage zum Opfer; erst 2022 soll sie nun tatsächlich umgesetzt werden. Um die Lücke zu füllen, wurde für 2021 zunächst eine konzertante Aufführung der Walküre angekündigt, ein Coup gelang der Festspielleitung schließlich damit, den Künstler Hermann Nitsch für die szenische Gestaltung zu gewinnen. „Es ist nicht so, dass ich eine Inszenierung aufbaue, die der Walküre entspricht, sondern ich führe eine Malaktion durch, die wohl indirekt mit der farbenprächtigen, breit ausladenden Musik von Richard Wagner zu tun hat”, erläuterte Nitsch bereits im Vorfeld.
In weiß gekleidete Mitarbeiter des Malers agieren daher mit unzähligen Farbkübeln; in jedem Akt entstehen neue Bilder. Dabei scheinen die Farben einer gewissen Dramaturgie zu folgen: etwa Grün und Blau für die einleitenden Szenen des ersten Akts, Gelb für Walhalla oder Rot für starke Emotionen. Das für Nitsch charakteristische Blut hat hingegen nur im zweiten Aufzug einen kurzen Auftritt, als in einer stilisierten Kreuzigung eine in weiß gekleidete Frau mit Blut – ob echt oder aus der Theaterküche sei dahingestellt – übergossen wird.
Der Zusammenhang zur Handlung erschloss sich hierbei übrigens ebenso wenig wie in der letzten Szene des dritten Akts, wenn ein Mann mit nacktem Oberkörper eine Monstranz hochhalten muss. Als störend erweisen sich leider die Geräusche, die bei einer Kunstperformance eben unumgänglich sind. Am Boden wird geschüttet und geschrubbt, an der Wand dahinter rinnt Farbe wie Glasur an einer Drip Cake herab. Regelrecht hypnotisierend wirken dabei diese fließenden Farbbahnen in Kombination mit Wagners Musik und relativ bald wähnt man sich in einem ziemlich psychedelisch anmutenden Trip.
Das unumstrittene Highlight inmitten des Farbrausches war dabei Lise Davidsen als Sieglinde: Alleine die Wucht und die Schönheit ihrer Stimme sind beeindruckend, noch faszinierender ist jedoch, wie differenziert und elegant sie eingesetzt wird. Dramatische Ausbrüche verkamen nie zum Selbstzweck, sondern gaben Einblick in die Seele der Figur – etwa beim Gänsehaut verursachenden „hehrsten Wunder” – und die Piani schwebten wie goldene Partikel durch das Festspielhaus. Dank klarster deutscher Diktion fesselte ihre Interpretation auch durch die zum Leben erwachende Geschichte und selbst in schwarzer Kutte ohne szenische Aktion verströmte sie aus jeder Pore darstellerische Präsenz.
Als Siegmund an ihrer Seite hatte Klaus Florian Vogt die stärksten Momente, wann immer vergeistigte Entrückung gefragt war, denn in diesen Passagen kommen sein helles Timbre und der sich scheinbar schwerelos entfaltende, aber dennoch üppig tragende, Klang am besten zur Geltung. So wurde beispielsweise die simple Zeile „nun weißt du, fragende Frau” zu einem sanft schimmernden Moment der Selbstreflexion des Charakters. Aber auch das Heroische der Partie bewältigte er stimmlich mühelos, wenn auch nicht immer mit dem letzten Aplomb in der Interpretation. Ziemlich eindimensional fiel im direkten Vergleich zum Wälsungenpaar die Gestaltung des Hunding durch Dmitry Belosselskiy aus. Sein Bass besitzt zwar die für die Partie nötige Schwärze und profunde Durchschlagskraft, durch die sein Hunding ganz automatisch respekteinflößend wirkte, aber weder die hinterhältige Verschlagenheit noch die Gewaltbereitschaft wurden mit entsprechenden Farben in seiner Stimme verdeutlicht.
Nicht als keifendes Weib, sondern als selbstsichere Stimme der Vernunft legte Christa Mayer die Fricka an und verlieh der Figur mit samtigem Timbre und ruhiger Kraft dadurch so viel natürliche Autorität, dass es nicht verwunderte, dass Wotan sich ihrem Wunsch schließlich beugt. Seinen ersten Wotan meisterte Günther Groissböck an diesem Abend sehr gut, wobei die Stimme gegen Ende des dritten Akts zunehmend müde klang. Zuvor allerdings bot er einen dreidimensional gestalteten Göttervater mit eleganter Gesangslinie, profunder Tiefe und ebenmäßig warm timbrierter Mittellage. Eine seiner größten Stärken, nämlich das packende Erzählen von Geschichten durch differenzierte Klangfarben und kluge Phrasierung, konnte er dabei in seiner Szene mit Brünnhilde voll ausspielen; wenn dieser Wotan zu erzählen beginnt, kann man gar nicht anders, als gebannt zuzuhören.
Die titelgebende Walküre Brünnhilde wurde von Iréne Theorin zwar kraftstrotzend kämpferisch gesungen, dabei blieb sie aber doch einiges an Schönklang schuldig. Ab der oberen Mittellage wurde ihr Sopran schrill und vibratolastig, das in sanfteren Momenten, wie in der Todesverkündung, aufblitzende, silbrige Timbre und die elegante Gestaltung fielen allzu oft martialischer Kraftmeierei zum Opfer. Darunter litt dann auch die Textverständlichkeit, weswegen die Figur nie richtig zum Leben erwachen konnte. Ähnliches lässt sich auch über die acht übrigen Walküren sagen, deren Szene zusätzlich schlecht abgestimmt wirkte und dadurch hektisch statt heldinnenhaft klang.
Unter der Leitung von Pietari Inkinen blieb der Klang aus dem Graben leider vorwiegend blass, der Dirigent vermochte keine wirklichen Akzente zu setzen. Das Bayreuther Festspielorchester hatte dadurch den ganzen Abend über eher eine Nebenrolle inne, die dynamische Bandbreite bewegte sich in unauffälligen Sphären und im Gegensatz zur Bühne schimmerten hier nur wenige Farben. Die schönsten Momente erklangen im Orchester wann immer Siegmund und Sieglinde in romantische Stimmung verfielen, denn hier schwangen herrliche Romantik und sehnsuchtsvolles Schmachten mit.
Isabella Steppan | 29 julio 2021 [Rezension der Generalprobe vom 23. Juli 2021]
Aktionskünstler Hermann Nitsch als später Wagner-Interpret
Es war ein kühner Entschluss von Festspielleiterin Katharina Wagner, in diesem Sommer auf Bayreuths Hauptwerk, den „Ring des Nibelungen“, nicht ganz zu verzichten, sondern alle vier Teile individuell neu anzureißen und für die komplette „Walküre“ den heftig umstrittenen Aktionskünstler Hermann Nitsch einzuladen: in der nur in diesem Sommer zu erlebenden Visualisierung ist „das Publikum Teil des Kunstwerks“ und „jeder Abend anders“ (Katharina Wagner).
Beim Betreten des Zuschauerraums ist der Hauptvorhang bereits geöffnet, die Bühne strahlt in hellem Licht, welches sich während der ersten beiden Aufzüge als Einheitsstimmung nicht verändert. Auf dem weiß ausgelegten Bühnenboden erhebt sich ein Triptychon aus weißer Leinwand, etwa 20 Farbeimer sind vertikal aufgereiht, vorne warten weißfarbige Stühle auf die Solist*innen. Mit Auftrittsapplaus (den es sonst in Bayreuth nie gibt), treten diese in schwarzen Einheitsgewändern mit langen Ärmeln in Erscheinung.
Anfangs betrachtete der Rezensent jeden einzelnen Schütteinsatz der zehn Assistent*innen von Hermann Nitsch, die teils von der Oberkante nach unten, auf den Bühnenboden fließenden Streifen in unterschiedlichen Farben sowie die auf den beiden Bühnenseiten angemischten Farbeimer, die auf die Grundfläche des Bodens geschüttet werden. Beim erneuten Übergießen decken die Farben total, ja selbst eine schwarze Wand, mit Weiß übergossen, kann wieder völlig weiß werden.
Diese Farbigkeit soll nach der Meinung des „Wolluststrom“-Künstlers Nitsch, der sich bei der Pressekonferenz als leidenschaftlicher Wagner-Liebhaber geoutet hatte, der Farbigkeit von Wagners Musik entsprechen. Hinsichtlich der Tonarten-Symbolik ist ein solcher Vergleich nicht haltbar; aber hinsichtlich der Vielfalt der thematischen und kontrapunktischen Arbeit in Richard Wagners Partitur mag jene Gleichsetzung angebracht erscheinen.
Die Solist*innen singen glücklicherweise auswendig und vermitteln ansatzweise das dramatische Spiel – auch ohne spezifische Anleitung. Aber von Richard Wagners Definition der Anarchie der Bühne, welche anlässlich seiner „Parsifal“-Uraufführung gewaltet habe, indem ohne Anleitung jeder das Richtige getan hätte, ist dieser Abend denn doch erheblich weit entfernt. Beispielsweise singt das inzestuöse Wälsungenpaar händchenhaltend, mit finaler ausgiebiger Umarmung bis zum Black-out und fallendem Wagnervorhang.
Überschreibungen, Überschüttungen
Hermann Nitschs „Malaktion“, parallel zu Wagners Musik, leitet der 1938 in Wien geborene Künstler aus Prinzendorf live, indem er, neben dem Inspizienten sitzend, mit Zeichen und Farbtafeln Anweisungen an seine zehn Assistent*innen erteilt. Das Programmheft listet Nitschs Geschmacks- und Geruchsmotive und die zugeordneten Farben auf. Bei allem obwaltenden Zufall ist ein ordnendes Prinzip zu erkennen. Die geschütteten Streifen gemahnen an die Strichcodes der digitalisierten Welt – oder mythisch an Schicksalsfäden.
Wenn Nitschs Assistenten, womöglich im Duktus der aggressiven Musik, mit Power ihre Eimer in Richtung der Sänger schleudern, diese aber nicht treffen, so besitzt dies einen eigenartigen Reiz. Im dritten Aufzug malen zwei Damen mit bloßen Händen rosafarbene Flächen auf das Bodentuch, und das Triptychon wird nun erstmals auch von unten angeschüttet, zunächst mit textlichem Bezug zu Brünnhildes Worten über das bevorstehende schmerzvolle Gebären Sieglindes, dann auch bei Wotans „In festen Schlaf schließ‘ ich dich“; die geschütteten roten Kreise auf der Rückwand assoziieren immer deutlicher einen Feuerring für die schlafende Brünnhilde.
Hermann Nitsch ist insbesondere bekannt für sein Orgien-Theater mit Farbe, Blut, Eingeweiden und nackten, häufig auch gekreuzigten Körpern. In der „Walküre“ ist diese szenische Komponente reduziert auf eine gekreuzigte, bekleidete Frau, die am Ende von Brünnhildes Todverkündung am Kreuz aufgerichtet wird und wohl Bezug nimmt auf das bevorstehende Leid der Sieglinde. Ganz am Ende des Abends dann doch ein bisschen mehr an Nitsch-Ikonographie: Eine weiß gekleidete Frau wird auf einem Kreuz in die Bühnenmitte getragen und auf den imposanten farbigen Boden gelegt, während dahinter eine barbusige Nitsch-Priesterin ihre Monstranz hochhebt.
So setzten dann nach Verklingen der Musik und einer erfreulich langen Stille im Auditorium neben Bravorufen auch gleich Buhrufe ein, die sich beim Applaus-Auftritt des greisen Mal- und Orgien-Meisters steigerten, die aber auch den Dirigenten trafen.
Denn Pietari Inkinen ist im mystischen Abgrund merklich noch nicht zu Hause, seiner Interpretation fehlt (noch) der große Bogen und fehlen auch die besonderen Höhepunkte; so gesehen mag es gut sein, dass noch nicht der komplette „Ring“-Zyklus herausgekommen ist, sondern dass der Dirigent diese drei separaten „Walküre“-Aufführungen nutzen kann, um sich mit der besonderen Akustik des Bayreuther Festspielhauses vertraut zu machen und ein eigenes deutliches Profil zu entwickeln.
Da das Walküren-Oktett (textlich nicht besonders homogen) noch über keine Choreografie verfügt, treten die acht Künstlerinnen als Gruppe in einer Reihe gemeinsam auf und erinnern damit an Wieland Wagners eigenwillige Lösung für den Anfang des 3. Aufzugs seiner „Walküre“-Inszenierung in Stuttgart, als Wotans stehendes Heer – eine Lösung, die Wieland Wagner nicht nach Bayreuth übernommen hatte, feiert an diesem Abend fröhliche Bayreuth-Urständ.
Unter den Solisten fällt der finstere Bass von Dmitry Belosselskiy als Hunding positiv auf, mit einem Stimmorgan, das an den legendären Gottlob Frick erinnert. Bewusst leicht und lyrisch geht Klaus Florian Vogt die Partie des Siegmund an, vermag aber auch die dramatischen Erfordernisse zu gewährleisten. Sehr viel gewichtiger, manchmal zu laut und mit wenig Textverständlichkeit gestaltet Lise Davidsen die Sieglinde. Christa Mayer intoniert die Fricka sehr schön aber mit wenig emotionalem Tiefgang. Iréne Theorien beherrscht die Rolle der Brünnhilde im Schlaf – aber in der entstandenen Routine herrschen Vokalketten auf Kosten der Konsonanten vor – und offenbar hat der junge Dirigent von den Solisten, und schon gar nicht von dem langjährigen Profi, Textverständlichkeit eingefordert.
Zwischen Generalprobe und Premiere hatte der Bassist Günther Groissböck die Partie des Wotan abgesagt, nicht nur für dieses Jahr, sondern überhaupt für den neuen „Ring“. Für die diesjährige Premiere der „Walküre“ eingesprungen ist Tomasz Konieczny, der die Partie gut studiert hat, mit viel Charakterisierung operiert, häufig aber zu grob zu Werke geht und über wenig Stimmschönheit verfügt.
Grundsätzlich ist diese „Walküren“-Besetzung bereits jene der kommenden Neuinszenierung; ob dies auch für die Partie des Wotan zutrifft, wird sich zeigen. Seit Juni dieses Jahres probt das Regieteam bereits mit den Solist*innen. Nach Aussagen des Regisseurs Valentin Schwarz entsteht das Epos einer Familie, deren Mitglieder sich auf einem Landsitz aufhalten – „wie ein Marathon am TV, wo man nicht abschalten kann, sondern die Fortsetzung erleben will, das Zusammenspiel der Figuren über die Zeiten, wie die Welt entsteht und vergeht.“ Mit dem gemeinsamen Wohnsitz der Protagonist*innen erinnert diese Konzeption spontan an den Kopenhagener „Ring“ in der Inszenierung von Kasper Bech Holten. Es bleibt abzuwarten, ob sich diese Parallele auch in der Bühnen-Realität bestätigen wird.
Peter P. Pachl | 30.07.2021
„Walküre“ und „Immer noch Loge“ in Bayreuth: Farbenrausch, Fischwesen
Der vom vergangenen aufs nächste Jahr verschobene Bayreuther „Ring“ ist in dieser Saison trotzdem als Chimäre auf dem Festspielhügel präsent. „Ring 20.21“ heißt das Projekt, vierteilig wie die Tetralogie.
Der zentrale Bestandteil ist eine konzertant aufgeführte „Walküre“, zu der der 82-jährige Wiener Aktionskünstler Hermann Nitsch im Hintergrund und im großen Stil Farbe auf Leinwände bringen lässt. Das erstaunlichste Stück ist die Uraufführung von Gordon Kampes lose ans „Rheingold“ geknüpfter Oper „Immer noch Loge“ am und im Weiher vor dem Festspielhaus.
Eine konzertante „Walküre“ mit einer Nitsch-Parallelaktion. Die Beteiligten tun auf erfrischend ehrliche Weise zu keinem Zeitpunkt so, als gäbe es einen Zusammenhang. Zwei selbsterklärte Gesamtkunstwerker, Nitsch und Richard Wagner, schaffen sich Platz in unterschiedlichen Dimensionen. Vorne – selbstverständlich vorne – steht das „Walküre“-Ensemble in schwarzen Kutten und mit Holzstühlchen, dahinter sind Nitschs Mal-Assistentinnen und -Assistenten damit befasst, einerseits von einer oberen Galerie aus Farben an einer bühnenbreiten Leinwand herunterlaufen zu lassen, andererseits unten Farben literweise über eine Leinwand zu kippen. Nicht umsonst heißt der dpa-Text dazu „Platsch“, denn während einer Aufführung ist mancherlei zu hören, aber diesmal eben, egal, was die Musik gerade treibt: immer wieder ein Platsch.
Das Publikum wird die zwischenzeitlich dominierenden Farbtöne Dunkelgrau oder Leuchtendrot – die Bitternis, der Tod, die Liebe, das Feuer – unschwer auf Vorgänge in der Oper beziehen können. Nachher erinnern aber eine Frau am Kreuz oder ein Jesus mit Monstranz daran, dass Nitsch naturgemäß nicht daran denkt, sich von Wagner vorschreiben zu lassen, was er auf der Bühne zeigen soll. Die Einmaligkeit (Dreimaligkeit) des Vorgangs macht sie aber zum Erlebnis, das im ersten Aufzug insgesamt noch am dürftigsten wirkt, im zweiten dann mehr Schwung hat.
Das liegt aber an der Musik als eigentlichem Motor des Abends, an dem nur Wagner obsiegen kann. Und dem Anfang fehlt es deutlich an Spannkraft, obwohl Lise Davidsen und Klaus Florian Vogt singen. Sie eine sensationelle Sieglinde, eine Sieglinde im Größenformat einer innigen, lyrischen Brünnhilde. Er mit Kraft und Höhe und zugleich mit dieser immer wieder erstaunlichen Vogt-Naivität, ein Siegmund wie ein Parsifal, der überhaupt nicht zu wissen scheint, was hier los ist, und er weiß es ja auch nicht. Dass der Akt dennoch nicht zündete: Man ist geneigt, die Ursache bei dem ein wenig lahmen Dirigat des Finnen Pietari Inkinen zu suchen, nicht bei den dahinfließenden Nitsch-Farben. Im eigentlich unattraktiveren Ehe-Hin-und-Her des Mittelakts nimmt auch das Orchester mehr Fahrt auf. Christa Mayer ist eine außergewöhnlich kraftvolle Fricka, Tomasz Konieczny (als Ersatz für den spät abgesprungenen Günther Groissböck) ein großer, noch nicht ganz durchkultivierter Wotan, der aber dann auch Kondition und Schönheit für den Schluss mitbringt. Iréne Theorin singt Brünnhilde problemlos. Je mehr alle ins Spielen kommen desto besser. Die stille Gleichmut der kleinen Mal-Truppe (die nachher schauen muss, dass sie nicht ausrutscht auf dem Farbgeglitsche) steht lieber in einem reizvollen Kontrast zu den Gefühlsaufwallungen, als sie zu unterstützen.
Nitsch wurde bei der Premiere trotzdem ausgebuht. Buhs gab es auch für das Dirigat, was mehr Bedeutung hatte unter dem Aspekt, dass der 41-jährige Inkinen im nächsten Jahr den neuen „Ring“ dirigieren wird und tatsächlich Luft nach oben war. Mit der Akustik kam er gut zurecht.
Schon am Vormittag aber, wenn auch nicht im Festspielhaus, der Coup von „Ring 20.21“. Gordon Kampes „Immer noch Loge“ ist eine Auftragsarbeit, auf einen Text des Schriftstellers Paulus Hochgatterer erarbeitete der 1976 geborene Komponist wagemutig und intelligent ein Stück darüber, wie es nach dem Weltenbrand, dem Zurückstellen der Lage auf „Rheingold“-Ursprungsniveau weitergehen könnte. Wagners Musik spielt dann offenbar keine große Rolle mehr, Kampe zitiert (fast) nicht, er schafft vor allem ein ganz eigenes, mit Richard-Strauss-Kantilenen und Paul-Dessau-Drive lockendes Werk.
Umgesetzt wird es zur Uraufführung von Puppenspieler Nikolaus Habjan, dessen Erda vom Rollstuhl aus mit großer Klappe singt, vor sich am Fuß einer Rampe Richtung Teich der Käfig, in dem der verkohlte, aber untote Loge als Weltanzünder vom Dienst auf sein Urteil durch die Frauen wartet. Die Rheintöchter, eine scheint verstorben, schwippern im Teich. Stephanie Houtzeel, Daniela Köhler (am Abend Waltraute und Helmwige) und Günter Haumer singen zunächst vom Ufer aus, nachher werfen sie sich mit Elan und Effekt ins Geschehen. Habjan interpretiert den bereits vielschichtigen Hochgatterer-Text noch einmal eigenwillig als neuerlichen Albtraum. Fesselnd.
Waren das jetzt nicht nur zwei Teile? Der für alle sichtbarste Bestandteil ist die Park-Installation der in Berlin lebenden Japanerin Chiharu Shiota, die die Nornenfäden aus der „Götterdämmerung“ unter dem Titel „The Thread of Fate“ in Szene setzt. Blutrote, ineinander verkeilte Riesenringe, in und um die ein blutrotes Fadennetzwerk gezogen wurde.
Der zukunftsweisende Teil ist der VR-Brillen-Drachenkampf, den der US-Amerikaner Jay Scheib unter dem Titel „Sei Siegfried“ während der Pausen und nach den „Walküren“ anbietet – umso interessanter, als Scheib, wie Katharina Wagner soeben ankündigte, den „Parsifal“ für 2023 inzenieren soll.
Das Ausmaß, in dem die Festspielchefin nach vorne schaut, selbst wenn sie mit Nitsch auch nach hinten schaut (aber doch etwas zeigt, was noch nie zu sehen war), das Ausmaß, in dem sie also liefert, was sich für die Richard-Wagner-Festspiele gehört, wird zunehmend offenbar. Zumal wenn man die aktuellen Inszenierungen der „Meistersinger“ und des „Tannhäuser“ dazunimmt, hinter deren Lebendigkeit und innovativer Leistung zurückzufallen immer ein kleines Problem für Nachfolgeproduktionen sein wird. Die Bayreuther „Ringe“ schleppen dieses Problem seit 1976 mit sich. Wie wird sich der dann endlich mögliche „Ring“ von Valentin Schwarz 2022 behaupten?
Judith von Sternburg | 30.07.21
Schwungvoll platscht die Farbe in Bayreuth
Die „Walküre“ in Bayreuth ist vor allem bunt. Die konzertante Aufführung von Wagners Oper lässt allerdings viel vermissen.
Man würde zu gerne davon berichten, dass Pietari Inkinen, der seit 2017 unter anderem der Chefdirigent der Deutschen Radio Philharmonie Saarbrücken-Kaiserlautern ist, mit Bravour sein Bayreuth-Debüt absolviert hat. Schon weil er im nächsten Sommer für den dann nachgeholten kompletten neuen Ring in der Inszenierung von Valentin Schwarz die musikalische Hauptverantwortung trägt. Beim Bayreuther Vorgänger-Ring war zwar die Regie von Frank Castorf Anlass für lebendige Diskussion, die Maßstäbe, die Kiril Petrenko im Graben setzte, aber nicht. Bildlich gesprochen stehen sie da noch. Im günstigsten Fall war dieser Abend eine Art Generalprobe für den Ring unter Premierenbedingungen. Man kann nur hoffen, dass der Theateraberglaube stimmt, dass es ein gutes Zeichen für die Premiere (im kommenden Jahr) ist, wenn bei der Generalprobe etwas nicht so klappt, wie man es sich erhofft. Und dass Christian Thielemann – mit oder auch ohne bereits unterschriebener Vertragsverlängerung als faktischer Musikdirektor der Festspiele – hier seine Erfahrungen einbringt. Und der Haus-Debütant darauf hört. Vielleicht kommt dann noch die Spannung, vor allem das Tempo und die Kontur zustande, die in diesem ersten Anlauf noch fehlten.
Aktuell mussten sich die Protagonisten nicht auf eine „richtige“ Inszenierung einlassen, sondern nur mit einer XXL-Malaktion arrangieren, die Blut-Aktionskünstler Hermann Nitsch von zehn Assistenten live auf der Bühne ausführen ließ. Mit einem mehr oder weniger engen Bezug zur Musik. Drei Mal werden über die Länge eines Aufzuges ein riesiges aufgestelltes Triptychon und die waagerechte Fläche dazwischen eingefärbt. In der Senkrechten laufen die Farben von oben herab. Auf dem Boden werden sie mit Schwung verschüttet. Am Beginn ist alles weiß, am Aktende alles bunt. Zwischendurch jede Menge Farbspiele. Dabei kommt so eine Art Strichcode-Abstraktion in Fluss heraus. Zum finalen Feuerzauber dominiert das Nitschsche blutrot. Auch davor kann man sich den einen oder anderen Zusammenhang zwischen dem „Walküre“-Soundtrack und der Kunstaktion denken. Man kann es aber auch lassen. Nitschs Bodenpersonal platschte vor allem in die Piano-Stellen mit Lust eine neue Ladung Farbe auf den Boden und hörbar zwischen die Musik. Die Idee war gut, das Ergebnis eher so „na ja“. Für sich genommen war es schön und bunt. Weiterführend und sinnstiftend eher nicht.
Da Günter Groissböck in diesem Jahr nach der Generalprobe (!) den Ich-bin-noch-nicht-so-weit-Künstler gegeben und geschmissen hatte, war Thomasz Konieczny der Einspringer-Wotan. Und machte das mit edler Stimmgewalt gut. Die zweite hörbar kraftvoll gesunde und vor allem junge Stimme war aber (leider) nicht die Brünnhilde von Iréne Theorin, sondern der neue Stern am Wagnerhimmel aus dem Norden Lise Davidsen als Sieglinde. Klaus Florian Vogt wirkte als Siegmund ein Stück weit gereifter als sein sonstiges Strahlemann-Image. Der Hunding von Dmitry Belosselskiy war eine sichere Bank, auch die Fricka von Christa Mayer. Sie war auch eine der Walküren, die bei ihrem berühmten Ritt zwar in Reih und Glied an der Rampe standen, aber leider nicht so klangen.
Diese konzertante „Walküre“ in Farbe gehörte zum Projekt „Ring 20.21“, mit dem Hügelchefin Katharina Wagner die Hoffnung auf die Neuinszenierung der Tetralogie wachhalten und Appetit machen wollte. Das „Rheingold“ ist mit der einstündigen Uraufführung von „Immer noch Loge“ vertreten. Am und im Teich vor dem Festspielhaus wird dem Feuergott der Prozess gemacht. Mit Puppen von Nikolaus Habjan zur Musik von Gorden Kampe und einem Text von Paulus Hochgatterer. Eigenständig und doch mit vielen Déjà-vu-Momenten für Wagnerianer. Auf der gegenüberliegenden Parkseite erinnert die Installation „The Thread of Fate“ von Chiharu Shiota an die „Götterdämmerung“. Anstelle des kompletten „Siegfried“ konnte man mit einer 3D-Brille minutenlang in Jay Scheibs Kreation „Sei Siegfried“ selbst einen atemberaubenden Drachenkampf im Festspielhaus durchleben.
Joachim Lange | 30.07.21