Götterdämmerung
Christian Thielemann | ||||||
Chor der Staatsoper Berlin Staatskapelle Berlin | ||||||
Date/Location
Recording Type
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Siegfried | Andreas Schager |
Brünnhilde | Anja Kampe |
Gunther | Lauri Vasar |
Gutrune | Mandy Fredrich |
Alberich | Johannes Martin Kränzle |
Hagen | Mika Kares |
Waltraute | Violeta Urmana |
Woglinde | Evelin Novak |
Wellgunde | Natalia Skrycka |
Floßhilde | Anna Lapkovskaja |
1. Norn | Noa Beinart |
2. Norn | Kristina Stanek |
3. Norn | Anna Samuil |
Stage director | Dmitri Tcherniakov (2022) |
Set designer | Dmitri Tcherniakov |
TV director | Andy Sommer |
Zwei Zimmer, Küche, Bad
Den Ring des Nibelungen in seiner Gänze zur Premierenserie zugleich zyklisch aufzuführen ist nicht nur eine Besonderheit, sondern für jedes Opernhaus, sei es auch noch so groß und Wagner-erfahren, ein überaus umfangreiches Unterfangen. Die Staatsoper Berlin, die eben dieses Projekt innerhalb nur acht Tagen bewerkstelligt hat, noch dazu mit einem eingesprungenen Dirigenten, brachte Wagners Tetralogie nun mit der Götterdämmerung zu einem musikalisch überragenden Ende.
In der Presse und der Berichterstattung im Vorfeld der Premiere wurde immer wieder ein ominöser „siebenstelliger Betrag“ erwähnt, welcher für das Bühnenbild ausgegeben wurde. Die Erwartungen an Dmitri Tcherniakovs Inszenierung, bei der er gleichzeitig für das Bühnenbild verantwortlich ist, waren also dementsprechend hoch. Und zugegebenermaßen beeindruckt der riesige Korpus auf der Bühne der Staatsoper mit seinen immer tiefere Einblicke gebenden Etagen, Räumen und sich später immerzu drehenden Kulissen. Die als Vorhang fungierende Blaupause verrät, dass selbst dieser Korpus nur ein kleiner Teil des übergroßen Forschungszentrums ist. Was im Rheingold jedoch verheißungsvoll begann – mit ungewöhnlichen aber nicht minder abwegigen Ideen – lieferte spätestens im Siegfried antiklimaktische Enttäuschung, was die durchweg guten bis sehr guten Leistungen der Sänger*innen nicht immer wett machen konnten.
Tscherniakov entmystifiziert, er entzaubert und beraubt den Ring seiner Symbolik. Statt einer starken, auf Wesentliches reduzierten Bildsprache, macht er es sich allzu leicht, wenn er sich jeglicher Symbolik verweigert und stattdessen Ernüchterung und Minimalismus als Selbstzweck agieren. Bereits die Enthüllung des Rheingolds lässt er ganz im Kopf Alberichs abspielen, und auch die fatale Kampfszene zwischen Siegmund und Hunding findet vollständig im Off statt.
In der Götterdämmerung hält er es nicht für nötig, Siegfried als Gunther zu verkleiden, wenn sich dieser Brünnhilde nähert und das Weltenende möchte man gar als Rohrkrepierer bezeichnen. Statt des großen Coups zum Finale mangelt es Tscherniakov auch hier an originellen Ideen. Immerhin hat das Interieur des Forschungszentrums ein lang überfälliges Makeover bekommen – die in die Jahre gekommene Holzvertäfelung in Esche Rustikal musste klinisch weißen und kalten Oberflächen weichen, ohne jedoch von der Inhaltsleere der Produktion ablenken zu können.
Lediglich im ersten Akt, den er wie zuvor schon in der Walküre und im Siegfried in dem offenen Korpus beginnen lässt, gibt er Einblick in Brünnhildes angeknackstes Seelenleben. So wird ihre Darstellung zum Psychogramm einer ehemals unabhängigen, starken Frau, die nun lediglich als „Frau von“ ihr Dasein in Abhängigkeit zu ihrem Mann fristet. Brünnhildes Befinden scheint allzu sehr von der Anwesenheit Siegfrieds abhängig zu sein. Verlässt er das traute Heim, verfällt sie alsbald in eine Art Alltagsdepression, verbringt den Tag im Schlafanzug und ist in ihrer Lethargie gefangen.
Anja Kampe vermochte dies eindringlich und überzeugend darzustellen, wenn auch ihre feine, lyrische Stimme nicht immer über das nötige dramatische Volumen oder die sicheren Höhen verfügt, stellte sie sich dennoch den enormen Anforderungen an ihre Rolle. Um diesen gerecht zu werden, musste sie besonders im zweiten Akt für das bevorstehende Finale ihre Kräfte schonen. Dies äußerte sich mitunter in nach unten gedrückten Tönen und flackernden Höhen, aber auch in schönen Zwischentönen und einer einnehmenden Gestaltung, immer in Hinblick auf eine saubere Deklamation.
Auch Andreas Schager, dessen Rolle in der Götterdämmerung noch mehr als im Siegfried eine feinsinnige und differenzierte Ausgestaltung erfordert, bricht zu oft aus seinen eigenen Melodien aus, statt stimmliche Kräfte zum Zweck einer ebenmäßigen Melodieführung einzusetzen. Lediglich bei der Erzählung im Wald, umgeben von Hagens Mannen, vermochte er mit einer schönen Artikulation zu beeindrucken.
Mika Kares’ Hagen glänzte mit raumgreifendem runden Bass. Stimmlich erhaben sang er den Albensohn mitunter jedoch zu schön – man vermisste das Dämonisch-Düstere in seiner Bassstimme, welches er immerhin optisch überzeugend, mit einem Feuermal à la Gorbatschow, lieferte.
Das wohl größte Glück für diesen Ring ist wahrlich das Dirigat von Christian Thielemann, der trotz der knappen Probenzeit mit der Staatskapelle Berlin in allen Teilen des Rings eine meisterhafte und sich stetig steigernde musikalische Interpretation lieferte. Für den Abschluss des Zyklus wählte er neben den wiederholt überaus langsamen Tempi eine das Weltenende evozierende dunkle Grundstimmung, die aber dennoch äußerst kraftvoll und packend ertönte. Besonders die reichlich vorhandenen Instrumentalstellen in der Götterdämmerung nutzte er, um sein Können zu demonstrieren und die Staatskapelle hochdramatisch, voller Brillanz und dunkler Schönheit strahlen zu lassen. Mit seinem Wagner-Debüt an der Staatsoper Berlin setzt Thielemann ein musikalisches Ausrufezeichen und liefert mit diesem Dirigat insgeheim eine Bewerbung für die Barenboim-Nachfolge, die nicht stärker für sich selbst sprechen könnte.
Alexandra Richter | 11 Oktober 2022
Musikalisch monumental, sängerisch laut, regielich absurd
Nun hat sich der neue „Ring“ von Dmitri Tcherniakov vollends als absurd, ja ärgerlich erwiesen, trotz einer international hochkarätigen Sängerequipe und einem, wenn auch zu laut dirigierenden Christian Thielemann. Mit der „Götterdämmerung“ ist der enttäuschende Schlussstein der Neuinszenierung der Wagnerschen Tetralogie an der Berliner Lindenoper eingefügt worden.
n der „Götterdämmerung“ muss jeder Regisseur Farbe bekennen, muss vom Ende her erklären wie er Wagners „Ring“ und seine Botschaft versteht, muss sein Inszenierungskonzept plausibel beglaubigen und seine Message mitteilen. Wagners Intention ist eindeutig die eines kapitalismuskritischen Weltuntergangs mit hoffnungsvollen Andeutungen auf eine bessere Menschheit, eine Gesellschaft, frei vom Fluch des Goldes, das Brünnhilde bei ihrem Opfertod den Rheintöchtern zurückgibt und damit die Ordnung der Natur wiederherstellt und Götter und Menschen erlöst, Lichtalben und Schwarzalben. Es überlebt allerdings Alberich. Die Gefahr ist nicht aus der Welt. Aber die grandiose, versöhnlich-optimistische Schlussmusik lässt keinen Zweifel an (vielleicht illusionärer) Zuversicht auf eine bessere Welt.
Tcherniakov nimmt dem Zuschauer nicht nur alle Illusionen, er raubt ihm auch jede Hoffnung. Trister, banaler, hoffnungsloser sah man den Schuss der „Götterdämmerung“ nie. Der Leichnam Siegfrieds wird von Bestattern auf dem Leichenwagen, abgedeckt mit jener Silberfolie, unter der einst Wotan seine „Wunschmaid“ in Schlaf bettete, in den hinlänglich bekannten Betonsaal des „Forschungszentrums E.S.C.H.E.“ gefahren.
Brünnhilde singt (schreit) ihren Schlussgesang „Starke Scheite schichtet mir dort…“ hinter dem Leichnam stehend, auch der Wanderer weist seinem toten Hoffnungsträger die letzte Ehre, dann legt sich Brünnhilde auf die Leiche. Die Bühne fährt mit ihr nach links weg, ein schwarzer Raum, in den Brünnhilde mit Reisetasche eintritt, Erda, inzwischen auch gehbehindert, kommt mit dem flatternden Püppchen des Waldvogels. Vorhang. Schluss. Ende. Der Zwischenvorhang mit dem Gebäudeplan des „Forschungszentrums E.S.C.H.E.“ zerbröselt. Das war’s.
Zuvor allerdings wurde der pessimistische, vielleicht buddhistisch gemeinte, schopenhauerisch beeinflusste, jedenfalls alle Hoffnung raubende Text des Schlussgesang Brünnhildes auf die Rückwand projiziert, den Wagner allerdings nie vertont hat. Wagner gab das Prinzip Hoffnung nicht auf. Tcherniakov hat das in Abrede gestellt, wie er auch im letzten Teil der Tetralogie regielich nicht müde wurde, gegen Szenenanweisungen, Text und Musik der Partitur anzurennen. In seiner gewiss bühnentechnisch eindrucksvollen, aber sterilen, jeder Poesie abholden Inszenierung wurde Wagners Monumentalwerk jede Romantik, jeder Realismus, aber auch jede gesellschaftskritisch-optimistische Idee ausgetrieben.
Das Ergebnis der Menschenversuche im psychiatrischen Forschungszentrum, in das Tcherniakovs Regiekonzept Wagners Werk hineinpresste, obwohl dieses Konzept hinten und vorne nicht passte, ist der Tod Siegfrieds, der mit großem Betroffenheitstheater kommentiert wird. Mehr nicht? Nein. Übrigens starben ja vorher schon einige dramatis personae am Fluch des Goldes (Ringes): Fasolt, Fafner und Mime beispielsweise. Dieses Ende der Inszenierung und ihrer Botschaft ist ziemlich dürftig. So banal, ja aussagelos hat man noch keinen „Ring“ enden sehen.
Der Destruktion des Monumentalwerks im Szenischen entspricht die musikalische Aufwertung durch Christian Thielemanns Dirigat. In meist ohrenbetäubender (und sängerunfreundlicher) Lautstärke zelebrierte er einen ungebremst monumentalen Wagnerstil (dass er durchaus auch für leise Töne einen Sinn hat, bewies er immer wieder), der den Zuschauern schier den Verstand raubte und beispiellose Begeisterung abverlangte. Einmal mehr haben sich Nietzsches Worte bewahrheitet: „Die Deutschen haben sich einen Wagner zurechtgelegt, den sie Verehren können“, oder auch: „Wagner ist unter deutschen bloß ein Missverständnis“…
Von den vielen Missverständnisse und Abstrusitäten der Inszenierung seien nur einige erwähnt: Die geriatrischen Ambitionen Tcherniakovs – vergreiste, gehbehinderte Figuren prägen den Abend. Alberichs fast total nacktes Auftreten (warum eigentlich) in der „Götterdämmerung“ ist wahrlich keine Augenweide. Das Spiel mit dem Pferdepüppchen Grane, der unentwegt herumtanzende Siegfried, die teetrinkenden Nornen als alte Tanten im Schafzimmer Siegfrieds und Brünnhildes, das vorher die Familie Hunding bewohnte, die Rheintöchter als Krankenschwestern im Stressesslabor… Die vielen (dem heutigen Alltag genau abgeschauten) alltäglichen Banalitäten des Haushalts wie des menschlichen Verhaltens sind albern und verharmlosen, ja verspießern das Stück. Von tragischer Fallhöhe keine Spur. Alles Tragische und Pathetische wird ironisiert. Es ist ein Ärgernis.
Den berechtigten Ovationen für Thielemann und die Staatskapelle, die immer wieder einen grandiosen sinfonischen Wagner zelebrierten, nicht nur in „Siegfrieds Rheinfahrt“, dem „Trauermarsch“ und der Finalmusik, entsprach das verständlicherweise gnadenlose Buhkonzert, das Tcherniakov entgegengebracht wurde. Es war eindeutig und eindrucksvoll, nie gab es in Berlin ein solches Buhkonzert gegen einen „Ring“- Regisseur in den letzten 50 Jahren.
Sängerisch war diese „Götterdämmerung durchwachsen. Der Star des Abends war ohne Frage Andreas Schager; er war Pennäler, Spaßvogel, Tanzbär, Hanswurst, Kindskopf, Flegel, Pascha, Blödelheini, Möchtegern- Macho und was noch… Er tritt zum ersten Mal in diesem „Ring“ nicht im Jogginganzug auf, sondern in Badeklamotten, bürgerlicher Alltags-Kleidung, schließlich im bordeauxfarbigen Anzug und in sportlich grünem Outfit einer „Jagdgesellschaft“, die zugleich die Handballgruppe Hundings ist. Der ersticht ihn beim Handballspiel von hinten mit dem Pfahl der Flagge des Vereins, Sigfried schleppt sich noch in das „Stresslabor, wo er auf der Krankenhausliebe verblutend, sein Leben aushaucht, woraufhin alle Götter, Nornen, Rheintöchter und zahllose Statisten (Ärzte, Pfleger, Krankenhausangestellten) gemächlich herbeieilen und betroffene Mine machen. Schagers nie nachlassende vokale Kraft (er könnte ruhig etwas weniger aufs Gaspedal treten bei seinem Organ), sein heldischer, Tenor, seine immer wortverständliche Diktion ist bewundernswert. Er ist heute ein Solitär unter den Wagnertenören.
Die großartige Anja Kampe, die im „Siegfried“ bereits Konditionsschwächen zeigte, hat die „Götterdämmerungs“- Brünnhilde leider nur schreiend bewältigt, nahezu wortunverständlich. Der Gunther von Lauri Vasar machte im hellbauen Businessanzug auch stimmlich virile Figur, der Alberich von Johannes Martin Kränzle überzeugte als Bariton außerordentlich, als (fast) nackter Darsteller hingegen weniger. Der Hagen von Mika Kares ist Urgestein an schwarzem Bass. Die Gutrune von Mandy Friedrich kommt als Soubretten-Blondine im Format einer spaßigen Partyschickse daher. Die große Violeta Urmana, die man in so vielen Wagnerpartien früher bewunderte, offeriert als allzu reife Waltraute nur noch die Reste einer einstmals beeindruckenden Stimme. Die Rheintöchter (Evelin Novak, Natalia Skrycha und Anna Lapkovskaja) und die Nornen (Noa Beinart, Kristina Stanek und Anna Samuil) sind superb. Michael Volle (Wotan) und Anna Kissjudit (Erda) hatten nur stumme Auftritte in dieser „Götterdämmerung“ Unter den Linden, die nicht wirklich glücklich machte.
Dieter David Scholz | 10 10 2022
Jetzt wissen wir, wie das wird
Mit „Götterdämmerung“ vollendet die Staatsoper ihre umstrittene Inszenierung von Richard Wagners „Ring des Nibelungen“. Dirigent Christian Thielemann und die Staatskapelle brillieren.
Zwei große orchestrale Zwischenspiele gibt es in „Götterdämmerung“, und sie fungieren, wie so vieles in Richard Wagners „Ring des Nibelungen“, auch als Gegenstücke, komplementär aufeinander bezogen: Purzelt der rosige, nicht unproblematische Held in „Siegfrieds Rheinfahrt“ fröhlich in die Welt, auf zu neuen Taten, sein Weib Brünnhilde kurz nach der ersten Begegnung schon wieder an Heim und Herd zurücklassend, liegt er im „Trauermarsch“ aufgebahrt, hinterrücks gemeuchelt von Hagen, Alberichs Sohn.
Kunst des psychologischen Komponierens
Ein Pianissimo-Grummeln der Pauke verdämmert ins Unhörbare, dann drei von den tiefen Streichern intonierte, aufsteigende und dabei lauter werdende Halbtöne, schließlich der gewaltige Schlag der Pauke und der Posaunen, begleitet von Liegetönen der Holzbläser – es wirkt wie ein Schock, als würden nicht nur den Figuren auf der Bühne, sondern allen im Saal erst jetzt plötzlich klar werden: Siegfried ist wirklich tot. Wagners ganze Kunst des psychologischen Komponierens ist hier auf engstem Raum komprimiert.
Und wie Christian Thielemann diesen Moment bei der Premiere am Sonntag in der Berliner Staatsoper dirigiert, erzählt viel über den ganzen Abend: Unfassbar biegsam, mit atmender Dynamik bei langsamem Tempo, das Zeit lässt für das kunstvolle An- und Abflauen des Klangs, durchflochten von einzelnen, präzise gesetzten Figurationen. Immer wieder gelingen Thielemann, der das Dirigat von dem erkrankten Daniel Barenboim übernommen hat, und der Staatskapelle musikalische Bögen von großer, blühender Schönheit, bei denen nichts herbeigezwungen wirkt, sich alles natürlich, organisch entfaltet. Schien Thielemann in den früheren Teilen, etwa im „Siegfried“, vor allem auf die jeweiligen Aufzugsenden hin zu dirigieren, so ist jetzt die gesamte fast sechsstündige Aufführungsdauer getragen von einem aufmerksamen, hellwachen Klangfluss und einer geschmeidigen Lust am Leitmotiv.
Was im Graben passiert, rettet den Abend. Und oben, auf der Bühne? Bekanntlich siedelt Dmitri Tcherniakov, weil Wagner ein paar Mal in seinen Briefen den Begriff „Experiment“ benutzt, das Ganze in einem Forschungszentrum namens E.S.C.H.E. an und macht aus Wotan (Michael Volle) einen Studienleiter, der psychologische Menschenversuche durchführt. Was Tcherniakov, neben vielen anderen Nöten, nicht nur die labortypische hässliche Putzlichtatmosphäre einbringt, die jede mythologische Anwandlung im Keim erstickt – sondern auch das Problem, das Walhalls Herrscher ja zunehmend verschwindet und in „Götterdämmerung“ gar nicht mehr persönlich auftaucht, womit das ganze Laborkonstrukt fragwürdig wird. Wie also diesen „Ring“ rund kriegen?
In den Details findet die Personenführung des Regisseurs durchaus zu überzeugenden Momenten – obwohl er alles weglässt, was nicht in sein Konzept passt und die Nornen (Noa Beinart, Kristina Stanek, Anna Samuil) natürlich kein physisches Schicksalsseil weben. Als alte, tatterige Schachteln scharwenzeln sie durch Siegfried und Brünnhildes Wohnung, während beide noch im Bett liegen, sogar am Esstisch machen sich’s die Damen gemütlich. Als das (nicht vorhandene) Seil schließlich reißt, darf immerhin das Kaffeeservice zerbrechen. Siegfried duscht nach dem Aufstehen erstmal und zeigt viel nackte Haut, warum auch nicht, dies ist doch ein Liebespaar? Andreas Schager singt den Helden nicht nur mit enormer Kondition, sondern liefert auch ein nachvollziehbares, in sich stimmiges, aus dem Leben gegriffenes Rollenporträt. Der schlumpfige Teenager aus „Siegfried“ schimmert diesem Typen immer noch aus jeder Pore. Schager hat Spaß, eine Figur zu erschaffen, das spürt man.
Mika Kares ist als Hagen wahnsinnig gut
Zum dunklen Kraftzentrum des Abends aber avanciert Hagen. Mika Kares ist wahnsinnig gut, seine bullige Darth-Vader-Silhouette emaniert ununterbrochen eine Aura schwarzböser Autorität, die durch seine erdige Bassstimme noch den rechten Schimmer erhält. Ein fürchterlicher Blutfleck zieht sich über sein rechtes Auge, als hätte jemand eine riesige Zigarre auf dem Glatzkopf ausgedrückt. So sitzt er nun in selbstgefälligem Manspreading da und spinnt, intrigiert, reicht Siegfried den Trank, der diesen erstaunlich effektiv Brünnhilde komplett vergessen lässt – quasi ein Widerruf von Isoldes Liebestrank. Aus dem, der dieses fatale Gebräu hergestellt hat, dem unselige Alberich (Johannes Martin Kränzle) macht die Maske einen nackten, jämmerlich anzusehende Greis, einen Wurm.
Richard Wagners Antisemitismus Wo liegt die Grenze?
Neben einem Kerl wie Hagen kann das Gibichungen-Geschwisterpaar schon qua Libretto nur schwer bestehen. Lauri Vasar singt trotzdem wacker den Gunter – eine Figur, die immer so wirkt, als wolle Wagner Mozarts Don Ottavio an Spießigkeit übertreffen. Mandy Frederich hingegen macht als Gutrune nicht viel mehr als immerzu blöde zu kichern und zu giggeln und kann leider auch im einzigen größeren Augenblick, der ihrer Figur gegönnt ist – beim Anblick des toten Siegfried – mit einer kleinen Stimme nicht glänzen. Brünnhilde ist da natürlich ein völlig anderes Kaliber. Anja Kampe schlägt sich sehr passabel, vor allem im hochdramatischen zweiten Aufzug bleibt sie stets über dem Orchester, Thielemann achtet da auch sehr auf die Balance. Sie kann aber nicht verbergen, dass es fast unmenschlich ist, was Wagner der Sängerin abverlangt.
Mord beim Basketball-Spiel
Tcherniakov dekliniert die Laboratoriums-Idee zunehmend lustlos durch, der Mord an Siegfried ereignet sich in einer Basketball-Halle, warum, wieso (alles nur ein Spiel?) – es bleibt offen, und es ist irgendwie auch egal. Sehr erwartbar, dass Hagen, speerlos wie er ist, zu einer der beiden Fahnenstangen greifen würde, um die Tat zu vollenden. Noch ist damit aber das Ende der Fahnenstange nicht erreicht, ein berührender Moment glückt dem Regisseur noch: Um den toten Siegfried zu sehen, zieht nach und nach das ganze Personal nicht nur dieser Oper ein, sondern des ganzen Rings, selbst Wotan und Erda geistern nochmal stumm herum. Dennoch ist das Ende im Wortsinn ein schwarzes Loch.
Wagner komponiert ja bekanntlich die herrlicheste Musik zu Walhalls Untergang, doch der Wunsch des Auges, zu sehen, wird nicht befriedigt. Tcherniakov schmeißt hin, löst die Laboridee weder auf noch ein, zeigt eine kahle Bühne, über die Brünnhilde (ist die nicht ins Feuer geritten?) ziellos umherirrt. Arbeitsverweigerung? Oder noch ein letztes psychologisches Experiment im Forschungszentrums, wie weit man das Publikum reizen kann, bis es explodiert? Brutale Buhsalven sind der verdiente Lohn.
Sänger, Dirigent, Orchester hingegen erhalten frenetischen Applaus, den Thielemann in Barenboim-Manier mit den versammelten Musikerinnen und Musikern auf der Bühne entgegennimmt. Angesichts der Tatsache, dass der Generalmusikdirektor immer häufiger Termine absagen muss, dürfte es kaum eine deutlichere Empfehlung für die Nachfolge geben.
Udo Badelt | 10 10 2022
German subtitles
This recording is part of a complete Ring cycle.