Siegfried
Cornelius Meister | ||||||
Orchester der Bayreuther Festspiele | ||||||
Date/Location
Recording Type
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Siegfried | Andreas Schager |
Mime | Arnold Bezuyen |
Wotan | Tomasz Konieczny |
Alberich | Ólafur Kjartan Sigurðarson | Fafner | Wilhelm Schwinghammer |
Erda | Okka von der Damerau |
Brünnhilde | Daniela Köhler |
Waldvogel | Alexandra Steiner |
Stage director | Valentin Schwarz (premiere) |
Set designer | Andrea Cozzi |
TV director | Michael Beyer |
Väter und (Zieh-)Söhne
Plötzlich also doch ein Schwert. Zwei Opern lang hat Regisseur Valentin Schwarz jedes der Mythologie oder Historie entlehnte Requisit konsequent umgedeutet, überschrieben oder ironisch gebrochen. Und dann zaubert er es doch hervor. Aus der orthopädischen Gehhilfe von Siegfrieds Ziehvater Mime. Keine grobe Schmiedearbeit, sondern eher das feine Florett. Vielleicht ist es auch nur ein Metallspieß, oder der notfalls zur Abwehr von Meinungsverschiedenheiten verwendbare Gehstock des feinen Mafioso. So genau ist das nicht zu erkennen. Sei’s drum: Alle tun fortan so, als sei es ein Schwert, also nennen wir das Objekt auch “Schwert”. Zu den Schmiedeliedern zerstört Siegfried damit seine Puppen: So ist das, wenn Kinder erwachsen werden. Und wenn dann trotz allem noch ein Hauch von Schmiedestimmung traditioneller Art aufkommt, liegt das an einem überdimensionierten, im großen Stil Funken sprühenden Tischfeuerwerk und an einem Aquarium, in das der übermütige Haudrauf dieses Schwert wie zur Kühlung eintaucht. Und man fragt sich, ob das alles nun eine superraffinierte Brechung konventioneller Sehweisen ist oder vielleicht doch Hilflosigkeit der Regie.
Siegfried als coming of age-Drama, das ist ja keine neue Idee; hier tritt sie in mehrfach variierter Form auf: Der sagenhafte und titelgebende Ring, man erinnere sich ans Rheingold, war ja gar kein Ring, sondern ein Junge im gelben T-Shirt, inzwischen in Fafners Obhut zum Manne gereift (seine Kleidung ist mitgewachsen), und er kann sich gleich zweier Ziehväter entledigen: Eben des greisen Fafner, den ein Herzinfarkt dahinrafft (alle – Wotan, Alberich, Siegfried, die den Waldvogel-Part singende Krankenschwester, der Mann im gelben T-Shirt – sehen ungerührt zu), und kurz danach Mimes, in dem er seinen früheren Erzieher aus Nibelheim wiedererkennt. Da beendet er den Todeskampf des von Siegfried (mit dem Schwert) Erstochen kurzerhand mit dem Sofakissen. Dramaturgisch wichtiger ist ja im dritten Aufzug das fatale Aufeinandertreffen von Siegfried und Wotan, was bekanntlich die endgültige Abdankung des Letzteren erzwingt. Doch halt: Wir wussten, daran muss man an dieser Stelle erinnern, am Ende der Walküre gar nicht, wer Siegfrieds Vater war (Siegmund, wie es im Libretto steht, jedenfalls nicht). Seit dem Vormittag dieser Premiere ist das Geheimnis gelüftet, und zwar durch den Dramaturgen Konrad Kuhn im Online-Einführungsvortrag: Es war, wir haben’s befürchtet, Wotan höchstselbst, der Tochter Sieglinde schwängerte, und so stehen in Personalunion (wenn auch unerkannt) Vater und Großvater mütterlicherseits vor dem halbstarken Siegfried (was streng genommen die komplexen Verwandtschaftsbeziehungen im Ring sogar vereinfacht). Und wir erfahren aus dem Besetzungszettel, dass der junge Mann im gelben T-Shirt, der hier den Ring symbolisiert, niemand anderes ist als der heranwachsende Hagen. Und da liegt das ganze Elend von Valentin Schwarz’ Ring-Konzeption vor uns, weil sich diese eben nicht unmittelbar durch das Bühnengeschehen mitteilt, sondern durch die eigens verfassten Inhaltsangaben und die unverzichtbaren Einführungsvorträge.
Wenn man die Modifikationen der Handlung schluckt (was zunehmend schwerfällt, weil ein Mehrwert immer noch nicht erkennbar ist), erlebt man eine durchaus flott erzählte Geschichte, die allerdings oft darunter leidet, dass wichtige Details nur von den ersten Reihen aus erkennbar sind. Für ein Kammerspiel bedürfte es doch eher eines entsprechend klein dimensionierten Theaters, das riesige Festspielhaus schreit nach großformatigeren Lösungen. Zudem geben die tendenziell unordentlich überladenen Bühnenbilder von Andrea Cozzi wenig her. Mime und Siegfried haben sich in Hundings Haus aus der Walküre eingerichtet und feiern dort gerade Kindergeburtstag, der mit einem großformatigen Poster unversehens zum Sexualkundeunterricht gerät, auf dass der junge Mann das fürchten lerne. Der todkranke Fafner hat sich in Wotans Luxusräume zurückgezogen, und der Walkürenfelsen mit der schlafenden Brünnhilde ist praktischerweise gleich nebenan. Die Erweckung Brünnhildes gelingt Schwarz dann doch recht gut. Zur Erinnerung: Grane, das Pferd, tritt in Form eines Mannes auf, Brünnhildes Beschützer, wie wir jetzt sehen, und aus dieser Figur schlägt die Regie jetzt tatsächlich Gewinn. Was noch nachzutragen ist: Das kleine Mädchen, das die Götter im Rheingold anstatt des Jungen im gelben T-Shirt vergeblich den Riesen unterschieben wollten, taucht auch wieder auf, in der Obhut Erdas. Eine dramaturgische Funktion hat die inzwischen zur Frau herangewachsene Figur offenbar nicht, vermutlich will Schwarz diesen Erzählfaden einfach nur zum Abschluss bringen.
Nach drei Abenden sagen die wohlwollenden Festspielgäste: Na ja, aber die Geschichte geht doch einigermaßen schlüssig auf. Die weniger wohlwollenden brüllten ihren Unmut mit heftigen “Buhs” heraus. Dabei hat dieser Siegfried noch eine andere Erzählebene, nämlich die Musik, und die wird durchweg großartig dargeboten. Andreas Schager ist ein glanzvoll strahlender Heldentenor, der sicher hier und da zu sehr auf Lautstärke setzt, aber im Waldweben und noch mehr dritten Aufzug auch zu leisen Zwischentönen fähig ist, gleichwohl vor allem mit seiner scheinbar mühelos geführten Stimme imponiert. Mit Daniela Köhler steht ihm eine intensiv und prachtvoll leuchtend singende Brünnhilde gegenüber, die ihre Partie differenziert ausgestaltet (sie ist nur im Siegfried in dieser Rolle im Einsatz, die anderen Brünnhilden singt Irene Théorin). Tomasz Konieczny, der nach seinem Bühnenunfall in der Walküre zwei Tage zuvor wieder auf der Bühne steht, gestaltet den Wotan-Wanderer deutlich verhaltener als den Walküren-Wotan und lässt seine große Stimme nur gelegentlich, etwa in der Erda-Szene, zu voller Entfaltung kommen, rückt die Figur ansonsten mit leisem Humor in die Nähe des altersweisen Meistersinger-Hans Sachs, was den Klang mitunter ein wenig verschattet, unterstreicht damit aber eindrucksvoll die Wandlung des abdankenden Chefgottes.
Arnold Bezuyen singt einen durchaus auf Klangschönheit bedachten Mime abseits der oft üblichen grellen Karikatur. Und auch der Alberich von Olafur Sigurdarson ist gesanglich angelegt – wie die Musik überhaupt davon erzählt, dass alle der hier agierenden Menschen ihre ganz eigenen Ängste und Nöte haben, und das überzeugt akustisch sehr viel mehr als im szenischen Bühnengeschehen. Wilhelm Schwinghammer steuert einen sonor sterbenden Fafner bei, Okka von der Damerau eine warm glänzende, volltönende Erda. Alexandra Steiner schließlich singt einen jubilierenden, nicht zu leichtgewichtigen Waldvogel. So wird dieser Siegfried zum Sängerfest ohne Ausfall.
Nach meinem Empfinden ist dieser Abend der bisher stärkste von Dirigent Cornelius Meister am Pult des ganz ausgezeichneten Festspielorchesters. Die Musik hat Wucht und Prägnanz, ohne pathetisch zu werden. Der erste Aufzug ist immens spannungsreich aufgeladen mit kaum zu bändigender Energie, die gleichwohl kontrolliert bleibt, und auch im zweiten ist diese Spannung immer untergründig vorhanden, auch an den Ruhepunkten. Die Leitmotive sind, wie an den Tagen zuvor, in ihrem Signalcharakter zurückgenommen und in die orchestrale Struktur eingebettet, was gerade diesen zweiten Aufzug fesselnd zusammenhält. Auch die Sterbeszene mit Mime, das wurde oben schon angesprochen, bekommt durch den Willen zum “schönen” Musizieren eine musikalische Sinnhaftigkeit, wie man sie sonst eher nicht erlebt. Bei Brünnhildes “Heil Dir, Licht”-Erweckung betreibt Meister etwas viel Understatement, aber Brünnhildes Wandlung von der Walküre zur “einfachen” Frau gelingt mit berückender orchestraler Zärtlichkeit und Fragilität. Lärmend wird Meister auch im Jubelgesang der letzten Takte nicht. Und die Musik nimmt sich immer zurück und achtet auf die Sänger.
Zum Abschluss noch eine Streitfrage für detailversessene Wagner-Stammtische in aller Welt: Wenn der Junge im gelben T-Shirt den Ring symbolisiert und gleichzeitig der junge Hagen ist – kann er dann den Feuerring um Brünnhilde durchschreiten (was einem die Weltherrschaft versprechenden Objekt, das zudem offensichtlich Wotans Einflusssphäre entzogen ist, doch problemlos möglich sein sollte), oder scheitert er daran, weil das eben nur Siegfried möglich ist und Hagen eben nicht (siehe das Textbuch zur Götterdämmerung)? Der Dramaturg wird wohl darauf verweisen, dass es auch in Wagners originalem Libretto oft nicht mit logisch rechten Dingen zugeht. Wirklich besser macht es diese Neudeutung aber auch nicht. (Der Junge im gelben T-Shirt bleibt übrigens außerhalb des Feuerwalls.)
FAZIT
Musikalisch ist dieser Siegfried auch nach Bayreuther Maßstäben ein großer Abend. Szenisch erlebt man, wenn man sich auf die Volten der Regie einlässt, eine etwas andere, einigermaßen stringent erzählte Geschichte, die freilich mehr Gereiztheit beim Publikum als Bühnenwirksamkeit entwickelt.
Stefan Schmöe | Premiere im Festspielhaus Bayreuth am 3. August 2022
Wenn die Kinder erwachsen werden
Valentin Schwarz liefert mit seinem „Siegfried” als kleines Schmankerl die Vorlage für einen Kalauer. Der passt für Ringneulinge und Insider gleichermaßen und geht so: Hagen und Grane haben im „Siegfried“ keine falsche Note gesungen. … Sie haben natürlich gar nicht gesungen, weil die beiden bei Richard Wagner hier nicht auf dem Besetzungszettel stehen. Beim jungen Ring-Aufmischer aus Österreich schon. Da ist so manches anders, neu und aufregend. Den einen zur Freude, den anderen zum allfälligen Vervollständigen der „Fehlerliste“, an der für den Auftritt des Regieteams nach der „Götterdämmerung” schon emsig gearbeitet wird.
Mittlerweile sind nicht nur das hochsommerliche Wetter und Cornelius Meister als Herr des Rings im Graben auf Bayreuther Ringtemperatur. Auch im Saal, wo jeder mittlerweile seinen Nachbarn kennt, ist es so ähnlich und das Pro und Contra artikuliert sich lautstark nach jedem Vorhang. Das gilt freilich nicht für die Sänger und den Dirigenten und – immer mehr wirklich – „sein“ Orchester. Da herrschen begeisterter Jubel, mindestens aber fairer Respekt vor. Selbst wenn man den nach dem Stuhlsturz wieder einsatzfähigen, machtvoll präsenten Thomasz Konieczny auch als Wanderer etwas mehr Textverständlichkeit wünscht, oder sich Mime prägnanter akzentuiert vorstellen kann, als bei Arnold Bezuyen. Von Okka von der Damerau gibt es wieder einen extrafeinen Erda-Auftritt. Wilhelm Schwinghammer verröchelt als Alt-Fanfer eindrucksvoll und Olafur Sigudarson macht auch als Altrocker Alberich (dem die graue Mähne inzwischen unters Kinn gerutscht ist) gute Fieslingsfigur beim Zusammentreffen mit seinem feindbrüderlichen Gegenspieler Wotan. Andreas Schager hat in der letzten Zeit zwar mitunter die Stopp-Schilder mit den Begrenzungen für Lautstärke übersehen. Aber ein so strahlender und unverbraucht loslegender Jung-Siegfried, wie der Österreicher ihn jetzt das erste Mal in Bayreuth bot, gehört dann doch eindeutig auf die Habenseite mit den beglückenden Festspielmomenten. Noch dazu, wenn er eine Brünnhilde wie hell strahlende Daniela Köhler aus ihrem Langschlaf erwecken kann!
Einquartiert hat Schwarz Mime und Siegfried in eine Kellerbehausung des ansonsten luxuriös großkotzigen Anwesens. Wie auch schon Hunding. Teile des Mobiliars hat Mime gleich übernommen. Er tut so, als würde er sich für den Jungen aufopfern – seine Krücke jedenfalls braucht er nicht wirklich. Zum Geburtstag schenkt er ihm ein Leuchtschwert, das der natürlich gleich beim Auspacken kaputt macht. Schießscheiben im Nebenraum, Figurenaufstellungen mit selbstgebastelten Puppen vor einem Kasperltheater und Hefte mit Nackedeis gehören zu Mimes Er- bzw. Verziehungskonzept. Wenn Wotan vorbeischaut, treibt den mehr Kontroll- als Rätsellust …. (nach seinem Stuhlkracher in der Walküre ist man froh, dass diesmal alle Sitzmöbel halten). Es gehört zur Rätselvorliebe der Regie und des Clanchefs, dass sein eigentliches Mitbringsel für seinen Enkel (oder auch Sohn – das weiß man hier ja nicht so genau) eine Krücke (für Mime?) ist, in der sich endlich eine „richtige“ Nothung-Version für den Knaben findet. Die setzt der aber erst als Waffe gegen Mime ein. Als der besoffen ausplaudert, was er mit ihm im Schilde führt…
Das passiert im spannenden zweiten Aufzug. Nicht vor der Neidhöhle, sondern am Krankenbett des alt gewordenen, ziemlich luxuriös gepflegten Fafner. Hagen ist inzwischen in Siegfrieds Alter, er bevorzugt immer noch Basecape und gelbe Klamotten. Und fühlt sich offenbar für die Betreuung von Fafner zuständig. Wie die attraktive Pflegerin/Waldvogel (Alexandra Steiner), die der Alte immer wieder schikaniert und begrapscht. In dieser belle-etage der Luxuspflege machen Alberich und Wotan einen höchst scheinheiligen Krankenbesuch. Der eine mit mickrigem, der andere mit üppigem Blumenstrauß. Wenn dann Mime mit Siegfried im Schlepptau auftaucht, gibt der Junge den Lümmel und haut dem Alten so den Rollator weg, dass der mit einem Herzanfall zu Boden geht. Niemand hilft. Hagen zögert nur einen Moment, aber hilft ihm nicht auf. Auch das Pflegepersonal schaut zu. Als sich Siegfried irritiert umsieht, ist es Hagen, der dem alten, röchelnden Fafner das Kissen ins Gesicht und ihm so das Licht ausknipst. Es muss nicht lustig für Hagen gewesen sein, unter der Fuchtel dieses neureichen Bauunternehmers (und Brudermörders) gelebt zu haben. Das Personal ist schneller weg, als man gucken kann. Und Pflegerin Waldvogel lässt mit hübschem Effekt zu den letzten Takten des zweiten Aktes ihre Arbeitsschürze auf den Verblichenen fallen. Das ist so ein ins Düstere gewendeter Rosenkavalier-Moment mit dem Taschentuch, das der Mohr allerdings dort aufhebt und nicht fallen lässt.
Zum szenischen Witz bei Schwarz gehört es auch, wenn sich Wotan bei seiner Begegnung mit Erda in der Adresse seiner notorischen Grabscherei irrt und es nicht Erda, sondern wahrscheinlich das einst von ihr in Sicherheit gebrachte, jetzt erwachsene Mädchen ist, an der er sich zu schaffen macht. Dieses Du-bist-aber-alt-geworden-Erschrecken bei ihm, kann er nicht verbergen. (Hier altert man auf verschiedenen Zeitebenen – aber was solls). Ihr grundsätzlicher Streit gewinnt dadurch aber Plausibilität. Amüsant auch der modische Gruß, den Wotan einschmuggelt. Nachdem Siegfried und sein, von einer ähnlich elternlos problematischen Kindheit belasteter Kumpel Hagen hier auftauchen könnte es bei Hagen endgültig klick machen – er könnte Brünnhilde aus dem Kindergarten kennen, oder zumindest erahnen, dass man sich vor langer Zeit schon mal begegnet ist. Wenn er sich beim anhebenden und dann ausufernden Liebesduett zurückzieht, dann nicht aus purer Diskretion. Er hat bei Siegfried einiges gelernt, auf das man noch gespannt sein darf. Als Brünnhilde bandagiert (Schönheits-OP? oder – schlaf?) gemessen einherschreitet, muss Siegfried nicht nur seine Schüchternheit in Sachen Frauen überwinden, sondern auch den handfesten Widerstand ihres Bodyguards Grane und Brünnhildes Verweigerung. Erst als sie den Hut von Wanderer Wotan in Händen hält (dass der erst als richtiges Wandererutensil ins Spiel kam, als Brünnhilde schon verbannt war, wollen wir mal nicht überbewerten. Vielleicht steht ja sein Monogramm drin) ist für sie klar: Siegfried ist es! Ich darf, ja ich soll und vor allem ich will. Abgang, Vorhang, Durchatmen und Bravo und Buh, wie jeder mag.
Auf jeden Fall wollen wir jetzt wirklich mal wissen, was es mit dem Pyramiden-Anbau des Anwesens auf sich hat, und wie dieser Ring ausgeht …
Joachim Lange | 04.08.2022
Von Puppenspielern und notgeilen Helden
Kinder sind also das Kapital, das Gold dieses mafiösen Riesenclans um Obermanipulator Wotan. Regisseur Valentin Schwarz, der aus dem Ring des Nibelungen allen Mythenzauber und -grusel weginszeniert hat und statt Kröte, Lindwurm, Gott und Gnom aktuelle Unmenschen auf die Bühne bringt, ist in dieser seiner Botschaft konsequent. Es sind die seelenversehrten Kleinen jene Schachfiguren, mit denen die Alten ihr Spiel blutig vorantreiben.
Zwei Akte lang schien es bei Siegfried auch, als hätte sich das vor Hitze dampfende Auditorium an der Verwandlung der über- und unterirdischen Figuren erfreut. Da gab es nur wenige Buhs und viel Applaus für Schwarz, der natürlich erst nach der Götterdämmerung zum Publikumsrapport antreten wird.
Lange faszinierte auch eine am Atem der Musik und auch sonst genaue Umdeutung der Vorlage: Mime scheint sich in Hundings Häuschen als Puppenspieler eingerichtet zu haben. Seinem ihm anvertrauten Siegfried, einem Burschen im erektionsfähigen Alter, hat er ein Geburtstagsfest ausgerichtet. Überall Puppen, die Geschichten erzählen. Doch der betrunkene Möchtegernsoldat Siegfried schlägt alles kurz und klein, er will ausbrechen. Mit Puppen spielt der nicht. Er steckt Mimes Kopf in die Mikrowelle und dann ins Aquarium. Das hat Slapstick-Charakter, da ist Platz sogar für ein Star Wars-Lichtschwert. Ein Geschenk Mimes, das Siegfried zerschlägt. Viele lachten, aber das verging ihnen, als sie sahen, dass Schwarz die Mythengeschichte doch nicht in Puppenform reaktiviert.
Zwillinge mit Blumen
Es ging ja wieder in ein Penthouse, wo Siegfried Fafner (Wilhelm Schwinghammer) auch nicht tötet. Der ist auch kein Höhlenwurm. Er siecht dahin als Pflegefall, der aufsteht und einen Infarkt erleidet. Kein einsamer Tod: Zeugen sind der von Fafner zum Autisten verbogene Hunding, der alt gewordene Wotan und der glatzköpfige Alberich, der Fafner Blumen brachte …
Die Trauer hält sich in Grenzen: Wie Fafner darniederliegt, holt Siegfried einmal Eis, damit er die Drinks auch gekühlt schlürfen kann. Er isst übrigens gerne Nudeln mit Stäbchen und findet Gefallen auch an Krankenschwester Waldvogel (respektabel Alexandra Steiner). Die magische Leuchtpyramide, die bisher durch alle Ring-Teile geisterte, interessiert Siegfried jedoch nicht.
Dass er so wild rüberkommt, ist Andreas Schager zu danken. Der Tenor mit den klangvollen Krafttönen (ein Buh war zu hören) hätte wohl Energie für drei Siegfriede. An seiner Seite – als von Bandagen befreite geliftete Brünnhilde – Daniela Köhler, die mit starkem (nur selten schrillem) Ausdruck punktet.
Klangintensive Kulminationen
Wechselvoll die restliche Verwandtschaft: solide Okka von der Damerau als verarmte Erda, nobel Tomasz Konieczny (nach seinem Bühnenunfall in Walküre wieder zugegen). Alberich (Olafur Sigurdarson) wirkte diesmal solide, schauspielerisch eindrücklich Arnold Bezuyen als Mime. Er hatte jedoch in den Höhen Probleme, und mitunter stimmte auch die Koordination mit dem Graben nicht.
Cornelius Meister und das Orchester schaffen dennoch klangintensive dramatische Kulminationen in Momenten, da es auf der Bühne scheinbar heiter zugeht. Das kommt als gewichtige Subebene substanzvoll rüber. Die Balance zwischen Bühne und Graben hätte natürlich besser funktionieren können.
Dass es am Ende wieder Buhs für die Regie gab, wird mit der finalen Umdeutung der Erweckung von Brünnhilde zusammenhängen. Da bastelte Schwarz so eine Art Dreiecksbeziehung zwischen ihr, ihrem treuen Freund Grane (Igor Schwab) und Siegfried. Dass sie offenbar einen eigenen Plan hat und Siegfried zu benützen scheint, war eine reizvolle Idee. Dass sich Siegfried notgeil mit dem Faltposter einer Nackten zudeckt, war aber ein Tiefpunkt. Gut, dass Bayreuth eine Werkstatt ist, in der hoffentlich weiter experimentiert, aber manches verbessert wird, indem man es bitte weglässt.
Ljubiša Tošić | 04.08.2022
Der Drache liegt im Pflegebett
Auch im “Siegfried”, Teil 3 des neuen Bayreuther “Rings”, setzt Regisseur Valentin Schwarz seine Wagner-Entzauberung fort, zum Unmut des Publikums.
Tja, da hatte Wotan am Ende der „Walküre“ buchstäblich seinen Hut genommen, aber nun ist er doch wieder der Boss in Walhall. Kommt mit Bodyguards in Mimes Schmiede, die sich als umfunktionierte Hausmeister-Hunding-Hütte erweist. Auch Drachenhöhle und Brünnhildes Feuerfelsen sind nichts weiter als Räumlichkeiten der Götterburg, dessen Atrium mit Sofa, Hausbar und Treppenaufgängen einem inzwischen sattsam vertraut ist. Die Wotan-Sippe, es gibt kein Entkommen.
Warum nur wurde die Abdankung des Göttervaters vorher so eindrücklich ins Bild gesetzt, wenn es gar nicht so gemeint war? Ein neues Verwirrspiel in Valentin Schwarz’ Bayreuther „Ring” oder bloß eine weitere dramaturgische Inkonsequenz?
Und warum, rätselt man in Sachen Sänger-Qualität, ist für den Grünen Hügel als die Wagner-Spielstätte schlechthin offenbar kein besserer Wotan zu finden als Tomasz Konwieczny? Es geht ihm gottlob wieder gut nach seinem Sesselsturz in der „Walküre“, aber im „Siegfried“ kommt er nicht über die Rampe. Singt wie hinter vorgehaltener Hand, näselnd, unverständlich.
Der Körperspannung eines Olafur Sigurdarson (Alberich) oder dem kecken, nie in die plumpe Karikatur kippenden Buffo-Ton von Arnold Bezuyen (Mime) setzt er nur die immergleiche Jovialität entgegen.
Der Halbstarke Siegfried kommt derweil nicht mit Bär, sondern betrunken in die Schmiede, randaliert zwischen Kasperletheater, Kinderpuppen-Freunden, Aquarium und Mikrowelle herum. Der pädagogisch recht engagierte Mime (auch wenn er mit Krücke und Treppenlift Gebrechlichkeit simuliert) wedelt zu Siegfrieds 18. Geburtstag mit Pornofotos herum, der Junge ist ja jetzt groß.
Andreas Schager wird vom Publikum gefeiert (und die Regie mit immer lauteren Buhs bedacht), sein Ausdrucksspektrum als Siegfried hält sich aber ebenfalls in Grenzen. Nassforsche Diktion, leicht gestemmte, leicht scharfe Höhen, auch das immergleich. Ob er sich nun mit Mime zofft, das Nothung-Schwert schmiedet – um es dann aus Mimes Krücke zu ziehen und die Kinderpuppen zu köpfen – oder ob er später Brünnhilde anhimmelt.
Reden wir über Walhall. Domestiken und domestizierte Natur, das ist des Machtzentrums Kern. Überbaute Felsen, in Vitrinen gesperrte Flora, ein künstliches Kaminfeuer, vor dem sich die im „Rheingold“-Vorspann zu Zwillingen erklärten Oberwelt- und Unterwelt-Paten Wotan und Alberich fläzen.
Fafner wiederum, der Drache, der die begehrten Schätze hortet, ist ein siecher Ober-Patriarch, zu dessen Pflegeteam der böse Hagen sowie das Waldvögelein gehören (Alexandra Steiner mit flattrig-nervösem Sopran). Siegfried muss dem Drachen dann auch kein Schwert ins Herz rammen, sondern nur den Rollator wegziehen, und Fafner (Wilhelm Schwinghammer) fällt vor Schreck tot um. Nachdem Siegfried, dieser Lümmel, auf seinem selbstgeschnitzten Rohr erst besonders schrill oboen-gequietscht und -geplärrt hatte – mit der Natur ist halt auch jeder Naturton perdu -, flirtet erstmal mit der hübschen Pflegerin herum.
Siegfried und Hagen (in stummer Rolle), noch zwei brothers in crime. Die Basecap des im „Rheingold“ entführten Kindes taucht wieder auf: Es war offenbar Hagen – der ja eigentlich erst in der „Götterdämmerung“ sein Unwesen treibt – , der sich am Walhall-Pool lümmelte. Immerhin, ein Familienserien-Rätsel ist damit gelöst.
Nun meucheln die beiden gemeinsam Mime, und selbst bei Brünnhildes Erwachen im dritten Aufzug trollt Hagen sich nur dann, als es heftig wird zwischen den beiden.
Valentin Schwarz mag Alter Egos, Doppelgänger, Paarungen, Seelenverwandte, ob nun Brünnhilde mit ihrem Gefährten anstelle des Pferds Grane oder Wotan und Urmutter Erda (wieder besticht Okka von der Dameraus dunkelsamtiger Alt). Meist hält sich weiteres Personal im Hintergrund auf, Aufpasser, Neider, Beobachter. Clan-Mitglied sein bedeutet, du bist nie allein.
Das Orchester unter Cornelius Meister sorgt für Momente der Konzentration
Nichts gegen kluge Eingriffe ins Original. Die zusätzliche Bevölkerung der Bühne bringt allerdings vor allem Beliebigkeit mit sich. Ständig wird Ablenkung geboten, werden neue Requisiten und alberne Regieeinfälle aufgefahren. Warum bitte wirft Siegfried ständig mit Asia-Nudeln aus der Pappbox um sich? Hier Richard Wagners dicht gewebter, schlüssig mutierender Klangredefluss, dort eine unschlüssige, zerfasernde Personenführung.
Das ist auch deshalb schade, weil Einspringer-Dirigent Cornelius Meister und das Festspielorchester sich erneut steigern. Die Zwischenspiele nehmen sie meist sportlich, mit klaren Akzenten und Konturen, und an Mimes Esse sprühen nicht nur sichtbare, sondern auch hörbar kräftige Funken. Spätestens die duftigen Geigen-Unisoni und Bläsersoli vor dem großen Liebesduett sorgen zudem für jene innere Spannung und Konzentration, die im Szenischen fehlen.
Brünnhilde, nach 30 Jahren Schönheitsschlaf, erscheint frisch geliftet
Auch bei Brünnhilde fehlt sie, obwohl Schwarz die Widersprüchlichkeit der Figur betont. Der 30-jährige Schlaf der Wotans-Tochter, stellt sich heraus, war ein Schönheitsschlaf. Wotan-Enkel Siegfried wickelt seiner Tante die Bandagen vom Gesicht, blond und bezaubernd steht die Geliftete vor ihm. Daniela Köhlers mal schimmernder, mal strahlender Sopran überzeugt gesanglich mehr als Iréne Theorin in der „Walküre“, ihr Vibrato weiß sie kontrollierter einzusetzen. Andererseits ist da neben der auf die liebende Frau reduzierten Brünnhilde auch noch die Kriegerin, die zu „Leuchtende Liebe, lachender Tod“ ihr altes Cowgirl-Outfit überstreift. Eine Spannung, die Schwarz leider nur über die Accessoires erzählt, und über einen kurzen burschikosen Hüftschwenker, als sie ihren Cowboy-Hut wieder aufsetzt.
Psychologie? Erübrigt sich, wenn die über Generationen konstante Verderbtheit längst feststeht. Die Zukunft gehört nur dem nächsten Gangsterpaar.
CHRISTIANE PEITZ | 04.08.2022
Wagner im Logik-Loch
Fafner als siecher Clan-Chef, Siegfried als mordendes Vorbild für Hagen: Auch der neue Bayreuther „Siegfried“ hält einige Überraschungen bereit. Regisseur Valentin Schwarz verfängt sich dabei in seinen Ideen. Dafür wird Cornelius Meister immer besser.
Ein manierliches Kerlchen hätte aus ihm werden können. Mit verständnisvollen Eltern, netten Freunden, einem Platz im Fußballteam, wahlweise im Schulorchester. Doch Hagen hat schlechten Umgang, und der heißt Siegfried. Zwei Kumpels, eine Art Brüderverhältnis. Und irgendwann lernt Hagen, wie man killt. Als Siegfried seinen Ziehvater Mime erst ersticht und dann das Kissen aufs Gesicht drückt, wird er sich das merken. Seine Erfahrungen, Bayreuth-Besucher wissen damit Bescheid, werden sich am nächsten „Ring“-Tag, in der „Götterdämmerung“, gegen den Lehrmeister Siegfried höchstselbst wenden.
Die Vorgeschichte Hagens zeigen, seine Jugend, dabei seine Haltungen und Taten motivieren, das gehört zur Haben-Seite dieser „Siegfried“-Premiere. Auch bei anderen Dingen müssen Wagner-Nerds stutzen. Dass Regisseur Valentin Schwarz in Akt zwei einen fauchenden Drachen auffährt, hat keiner erwartet. Aber auch nicht, dass es sich um einen siechen Clan-Paten handelt, der seine Pflegerin befummelt – die Wagner eigentlich als Waldvogel (Alexandra Steiner) vorgesehen hatte. Wotan, der im „Siegfried“ bekanntlich Wanderer heißt, bringt heuchelnd Blumen vorbei. Alle warten auf das Ende des Ekelpakets, weil sie an den Reichtum wollen. Als Siegfried ihm die Krücke wegstößt und Fafner am Boden verröchelt, hilft keiner.
Auf fatale Weise verpufft der erste Akt
Es bleibt also dabei in diesem neuen „Ring des Nibelungen“. Regisseur Valentin Schwarz ist als zwei Personen unterwegs. Die eine will den riesigen Vierteiler mit überraschenden Nebenwegen, Ideen und Figuren-Umwertungen anreichern. Und die andere steht oft schulterzuckend daneben, weil sie vieles handwerklich kaum umsetzen kann. Auf fatale Weise verpufft dabei der erste Akt, mit zwei aufgekratzten Tenören inklusive Schmiedeliedern in fast jedem „Siegfried“ eine Bank. Plötzlich gibt es nun doch ein Schwert (in der „Walküre“ war die Wunderwaffe noch eine Pistole), auch andere Requisiten zeigen: So ganz kann sich Schwarz nicht um die Insignien der Tetralogie drücken. Mancher Nebenweg, den er munter beschreitet, entpuppt sich als Sackgasse. Auch weil Wagners Text nicht zu 90 Prozent ignoriert werden kann – so sehr sich Wotan auch darum bemüht.
Tomasz Konieczny ist, nach seinem Bühnenunfall in der „Walküre“, also wieder dabei. Die langen Legato-Bögen kannte man noch gar nicht von ihm, eher die verquollene Diktion und die monochrome Gestaltung. Von der entgegengesetzten Seite nähert sich Arnold Bezuyen seiner Partie. Mime kommt bei ihm übers Deklamieren aus Notwehr selten hinaus, ein drastisch gemeintes Singen, das sich um korrekte Tonhöhen drückt. Andreas Schager muss erst auf Betriebstemperatur kommen. Sein Siegfried lässt sich in Akt eins noch von Mime anstecken, wird aber im Laufe des Abends immer besser. Ein Lustsänger, der sein nimmermüdes Tenor-Organ genießt und Töne in den Raum klotzt – einfach, weil er’s kann.
Daniela Köhler darf als geheimnisvolle Mumie die Szene betreten und sich vom Titelhelden auswickeln lassen. Ihr hoher, flirrender Sopran passt zur extrem gelagerten „Siegfried“-Brünnhilde, in den anderen „Ring“-Teilen würde man körperhaftes Gestalten und breites Timbre vermissen. Wer exzellenten, musterhaft kontrollierten, trotzdem expressiven Wagner-Gesang sucht, findet den hauptsächlich in kleineren Rollen, bei Okka von der Damerau (Erda), Olafur Sigurdarson (Alberich) und Wilhelm Schwinghammer (Fafner).
Das Dirigat von Cornelius Meister wird plastischer und offensiver
Im „Siegfried“ kommen Dirigent Cornelius Meister und das Festspielorchester auf hohe Näherungswerte – abgesehen vom ortsunüblichen Schwimmfest im ersten Aufzug. Aus dem Graben dringt Plastischeres, die Deutung wird fassbarer, offensiver, kraftvoller im Farbauftrag. Notwendig ist das gerade dann, wenn Schwarz seine Figuren einfach abstellt. Umso ungehinderter, wirkungsvoller erobert sich die Musik nun Raum.
Platz genug dafür ist, die Schicki-Villa von Bühnenbildner Andrea Cozzi gibt es seit dem „Rheingold“ in immer neuen Variationen, Drehungen und Perspektiven. Im Souterrain, früher einmal das Reich Hundings, hausen anfangs Siegfried und Mime. Im Obergeschoss taucht die zur Menschenfrau gereifte Brünnhilde auf. Ansonsten säuft man sich das Schicksal schön, vor allem Jung-Siegfried ist schon ein Fall für die Betty-Ford-Klinik. Muntere Anekdötchen sind das, die Schwarz aneinanderreiht und die – abgesehen vom hilflosen Abrufen staubiger Gesten – durchaus für Kurzweil sorgen.
Doch manchmal wird eine Fährte gelegt, die Schwarz (Zeitmangel? Unvermögen?) nicht weiter beschreitet. Grane zum Beispiel ist nicht Brünnhildes Pferd, sondern Bodyguard. Als sie zwischen ihn und Siegfried gerät, hätten andere daraus eine subtile Eifersuchtsnummer inszeniert. Hier ziehen beide an der Maid wie an einem Tau, vom Publikum prompt belacht. Überhaupt läuft die existenzielle Erstbegegnung des Helden mit einer Frau ins Leere: Einen Akt zuvor hatte er schon mit der Fafner-Pflegerin heftig geflirtet. Viele dieser Logik-Fallen gibt es, aus denen sich Schwarz kaum befreien kann. Angeblich soll sich in der „Götterdämmerung“ einiges lösen und aufdröseln. Sechs Stunden, Zeit wäre genug dafür.
Markus Thiel | 04.08.2022
This recording is part of a complete Ring cycle.