Wollt ihr den totalen Grimm ? Hier tobt die Mutter aller Märchenopern
Richard Wagner hat angeblich die komponierende Nachwelt angehalten, Märchenopern zu komponieren, schließlich habe er selbst das germanische Sagengut erschöpfend abgearbeitet. Ob das wahr ist oder nicht, die Nachwelt hat Märchen en masse vertont – und wurde vergessen, von einigen Ausnahmen einmal abgesehen. Gemeinhin wurde dabei ein Märchen vertont, oder der Stoff einiger weniger Märchen zu einem einzigen zusammengezogen. Nicht so “An allem ist Hütchen schuld ” !
Nicht eine oder zwei, sondern gleich an die vierzig Märchen hat Siegfried Wagner verarbeitet, und inhaltlich geht das in etwa so: Frieder (Beruf: Komponist) liebt Katherlieschen (Beruf: Magd), soll aber Trude (arbeitslos, aber reich) heiraten. Die bewegt auf nicht weiter einsichtige Weise den Kobold Hütchen dazu, Katherlieschen zu hypnotisieren, so daß letztere ein Eigentumsdelikt begeht. Ein happy end stellt die böse Trude ihr und Frieder für den Fall in Aussicht, daß die beiden etliche Rätsel lösen und Aufgaben vollbringen, die den zweiten Akt füllen und diverse Märchen im Schnelldurchgang vorbeiziehenlassen. Das klappt natürlich, alle sterben und werden wieder zum Leben erweckt, und dann streiten sogar noch Siegfried Wagner und Jacob Grimm persönlich über die Legitimität einer solchen Oper…
Die Handlung ist völlig unlogisch und wirr, dazu provozierend naiv, und das mit System: Immer auf der Grenze zur Parodie nimmt sich das Libretto selbst nicht ganz ernst, ist aber gleichzeitig permanent psychologisierend (das Märchen als das Unbewußte). Die Musik besteht aus einer Aneinanderreihung von highlights, als handele es sich um einen “best-of-Siegfried-Wagner”-Videoclip. Mit der extrem kurzgliedrigen Struktur wird der Komponist bestens fertig, mit wenigen Takten ist der jeweilige Stimmungswechsel vollzogen, und die Musik selbst ist auf beständig hohem Niveau. Von seinem übermächtigen Vater Richard setzt sich Siegfried gekonnt ab, indem er ihn bewußt parodiert: Ein einsamer, todkranker Prinz bekommt ein paar Takte lang “Tristan”-Musik, ohne daß hier wirklich zitiert würde. Die dezente Anspielung, bis hin in den Text, reicht aus – macht aber auch deutlich, wie anders (und in gewisser Hinsicht: Um wieviel konservativer) Siegfried komponiert. Und der schwelgt ganz romantisch, in üppiger Instrumentation, dreieinhalb Stunden (inklusive Pausen) ungetrübter Wohlklang. Das Hagener Orchester hat hörbar Freude daran und spielt schön wie schon lange nicht mehr.
Die provokativ wirre Handlung stürzte das Hagener Publikum in heitere Fassungslosigkeit. Regisseur Peter P. Pachl trug entscheidend dazu bei, indem er das Chaos der Handlung kongenial auf die Bühne umsetzte: Auch hier die scheinbar naive, aber ständig ironisch gebrochene heile Welt des Märchens. In Anneli Pfeffer als Katherlieschen hat er eine exzellente Protagonistin, die musikalisch wie spielerisch dieses Konzept hervorragend umsetzt. Die Toten erweckt sie mit einer heilenden Salbe – in Form einer riesigen Zahncremetube, und konsequent putzt sich das wiederbelebte Volk zunächst die Zähne. Solche Gags sind sparsam gesetzt, ein Abnutzungseffekt wird vermieden. Leider verfügt Volker Thies (Frieder) über eine (zu) dünne Stimme und fällt doch erheblich ab – auch spielerisch. Die anderen Sänger können sich in den vielen kleinen Rollen, von denen sie gleich mehrere übernehmen, musikalisch kaum profilieren, fügen sich aber überzeugend ins Regiekonzept ein.
Daneben will der Regisseur noch die latente Sexualsymbolik deutlich machen. Der Menschenfresser wird an seinem gigantischen Geschlechtsteil gefesselt. Schlüssig oder nicht: Der Unterhaltungswert ist größer als der Erkenntniswert.
Irgendwo entzieht sich diese Oper jedem Ordnungsschema. Teile des Publikums langweilten sie so, daß es in beiden Pausen etwas leerer wurde. Andere jubelten ekstatisch. Der Rezensent war einfach ratlos.
Fazit
Vierzig Märchen auf einen Streich, mit Witz inszeniert, sorgen für ein Theatererlebnis der ganz eigenen Art.
Stefan Schmöe | Premiere am 19.04.97 im Theater Hagen