Der Ring des Nibelungen
»Sei gegrüßt, du herrliches Kind«
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Der legendäre Mitschnitt des Bayreuther »Rings« von 1955.
br>Sie lagen 51 stumme Jahre im Verlies, ohne Anhörung, ohne Lebenszeichen, ohne Öffentlichkeit. Mancher hatte sie bereits als verschollen deklariert oder bestritt überhaupt ihre Existenz. Jetzt kommen diese Bänder, die so lange im Archiv ruhten, auf vier CDs auf den Markt. Das englische Antiquitäten-Label Testament präsentiert die erste Stereo-Einspielung des Ring des Nibelungen aus Bayreuth; die 50-Jahre-Schutzfrist ist abgelaufen. Ist das tatsächlich der legendäre, nie gehörte und deshalb beinahe vergessene Live-Mitschnitt von 1955? Er ist es.
br>Dieser von Joseph Keilberth dirigierte Ring verdankt seine späte Veröffentlichung einer verwirrend-spektakulären Gemengelage. Er sollte das erste stereofone Top-Produkt der Schallplattenfirma Decca aus Bayreuth werden, um das in den frühen fünfziger Jahren ein heftiges Gezerre herrschte. Wieland und Wolfgang Wagner kämpften um die Steigerung ihres Budgets und suchten die Plattenfirmen nach Kräften anzuzapfen. Die Produzenten – allen voran Walter Legge (EMI) und John Culshaw (Decca) – beäugten einander wie Sumo-Ringer; zu Bayreuth als hehrer Arena ragten bald konkurrierend die Studios in London auf. Es war dann die Decca, die mit ihrer eigenen, 1958 entstandenen Studioproduktion unter Georg Solti nicht in Wettstreit treten wollte und die 1955-Mitschnitt-Bänder aus Bayreuth ruhen ließ. Zwischenzeitlich hatte Legge seine EMI-Leute bereits vor den scharfen und sehr wirkungsvollen Decca-Waffen gewarnt.
br>Nun ist die Walküre erschienen. Ein starkes Schwert fürwahr: Mancher hat beim andächtigen Lauschen der exzellent erhaltenen und digital aufbereiteten Aufnahme den Eindruck, als habe sie ihm die Anlage umgepolt. Wieso klingen die ersten Violinen aus den rechten und die Kontrabässe aus den linken Kanälen? Diese Frage kann nur die Besteigung des Bayreuther Orchestergrabens beantworten, wo sich die Eigenheiten des gesamten Hauses symptomatisch erweisen – alles anders hier. Absteigende Reihen, seitenverkehrte Aufstellungen, mystische Wirkungen.
br>Der Dirigent Joseph Keilberth sorgte dafür, dass das junge Nachkriegs-Bayreuth den lichten, pathosfernen Inszenierstil Wieland Wagners musikalisch idealisierte. Keilberths Wagner war zügig, schlank, von geschmeidiger Dramatik, kaum je von Weihrauch umwölkt. Keilberth misstraute dem Pedalklang und setzte auf die Überzeugungskraft symphonischer Prozesse. Die Bayreuther Herren schätzten ihn so sehr, dass sie ihm mehrfach gleich drei Produktionen pro Sommer anvertrauten. Er starb übrigens 1968 während einer Münchner Tristan -Aufführung. Um Keilberth herum die Kernmannschaft jener Bayreuth-Jahre: Hans Hotter als Wotan, der seine hoheitsvolle Präsenz diesmal nicht durch Unschärfen der Intonation gefährdete; Astrid Varnay, deren Brünnhilde die Kraft der Aufrichtigkeit bis in höchste Höhen beglaubigte; Ramon Vinay, der seinem Siegmund abermals belkantischen Schwung mitgab; Gré Brouwenstijn, die als Sieglinde schier für diesen ersten Walküre- Akt lebte. Josef Greindl, Bayreuths erster Fachmann für Abgründe, gab den Hunding. Über allem wachte Keilberth, der mit dieser Aufnahme endgültig ins Walhall der großen Wagner-Dirigenten einzieht.
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Wolfram Goertz | 6. Juli 2006
Richard Wagners “Ring des Nibelungen” ist auch aufnahmegeschichtlich relevant, als erste Stereo-Einspielung gilt jene unter Georg Solti. Ihr ging jedoch ein bisher unveröffentlichter Mittschnitt voran.
br>Das britische Label Decca schrieb mit Richard Wagners “Der Ring des Nibelungen” Aufnahmegeschichte. Bis heute ist die in den Jahren 1958 bis 1965 entstandene Studioeinspielung unter Georg Solti legendär. Doch experimentierte die Decca schon zuvor mit Stereo-Einspielungen der “Ring”-Tetralogie. 1955 wurde in Oslo eine “Götterdämmerung” mitgeschnitten, wohl aber wegen der inferioren Orchesterleistung nie veröffentlicht.
br>Der komplette “Ring” wurde dann im selben Jahr in Bayreuth aufgezeichnet, aber nie veröffentlicht: John Culshaw, ab 1955 Aufnahmeleiter der Decca, wollte den “Ring” unter kontrollierbaren Studiobedingungen aufnehmen. Die ältere Einspielung wanderte ins Archiv. Nun aber liegt sie in aus-gezeichneter technischer Nachbearbeitung vor.
br>Sie ist ein unschätzbares Dokument für den Stand der damaligen Wagner-Interpretation. Und sei es nur, um zu zeigen, dass auch damals kein Wagner-Paradies herrschte.
br>So ist Astrid Varnays Brünnhilde zwar makellos, ausdrucksgewaltig und unglaublich berührend, Gustav Neidlinger (Alberich) und Paul Kuen (Mime) sind ausgezeichnet. Aber weder Hans Hotters vernuschelter Wotan noch Wolfgang Windgassens bemühter Siegfried können überzeugen.Der Dirigent Joseph Keilberth erzeugt einen modernen, schlanken Klang mit präzisen Konturen. Allerdings werden vom Orchester nicht alle Details so deutlich ausgeführt, wie es intendiert war. Dessen ungeachtet insgesamt äußerst interessant!
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Edwin Baumgartner | 05.06.2008
Testament SBTLP 0119 | |
Testament 1412 |
This is the first complete Ring in stereo. Decca recorded the complete Ring live at the Festspielhaus Bayreuth in 1955 but never released it obviously because in 1958 they began with the recording of the Solti studio Ring.