Die Walküre

Cornelius Meister
Staatsorchester Stuttgart
Date/Location
2 May 2022
Staatsoper Stuttgart
Recording Type
  live  studio
  live compilation  live and studio
Cast
SiegmundMichael König
HundingGoran Jurić
WotanBrian Mulligan
SieglindeSimone Schneider
BrünnhildeOkka von der Damerau
FrickaAnnika Schlicht
HelmwigeClare Tunney
GerhildeEsther Dierkes
OrtlindeCatriona Smith
WaltrauteLeia Lensing
SiegruneLinsey Coppens
GrimgerdeMaria Theresa Ullrich
SchwertleiteStine Marie Fischer
RoßweißeAnna Werle
Stage directorHotel Modern [act 1]
Urs Schönebaum [act 2]
Ulla von Brandenburg [act 3] (2020)
Set designerHotel Modern [act 1]
Urs Schönebaum [act 2]
Ulla von Brandenburg [act 3]
TV directorTon- und Videoabteilung Staatsoper Stuttgart
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Reviews
bachtrack.com

Ein Dreifaches Hojotoho!

Gegen Ende der 1990er Jahre landete die Staatsoper Stuttgart mit ihrem neuen Ring-Zyklus einen Coup. Jeder der vier Teile der Tetralogie wurde von einem anderen Regisseur inszeniert. Was heute gang und gäbe ist, galt damals als Novum und noch immer spricht man vom legendären „Stuttgarter Ring“. Nun wagt sich das Opernhaus noch einen Schritt weiter, indem es nicht nur zum wiederholten Male den Ring des Nibelungen von vier verschiedenen Regieteams erzählen lässt, in der Walküre wird gar jeder Akt als Inszenierung eines anderen Regisseurs, einer Regisseurin bzw. eines Künstlerkollektivs entstehen. Viele Künstler*innen waren an diesem Projekt beteiligt, sodass ein Gesamtkunstwerk der etwas anderen Art kreiert wurde.

Der erste Akt wurde dem niederländischen Künstlerkollektiv Hotel Modern anvertraut, die in ihren Arbeiten oft animierte Miniaturwelten gestalten und deren Elemente auch hier anwenden. Im Hintergrund wird groß projiziert, was die Künstler*innen in ihren Miniaturwelten der links und rechts auf der Bühne platzierten Modelle filmen. Präsentiert wird hier eine postapokalyptische, kriegsgebeutelte Welt, in der kaum Leben mehr möglich zu sein scheint – nur die Ratten als nicht auszurottende Schadnager haben es geschafft, zu überleben.

Und so hastet Siegmund als Ratte über die Bühne, lässt dabei so manchen an den legendären Neuenfels-Lohengrin denken, und sucht in Hundings Hütte Zuflucht. Illustriert wird dies in aufwendiger Arbeit mit Slider-Fahrten durch die Miniaturmodelle und den liebevoll anmutenden, detailverliebten Effekten von drei Künstler*innen, die stets auf der Bühne präsent sind. Leider wird aus dem intimen, leidenschaftlichen Kammerspiel des ersten Akts ein Nachmittag in der Kreativwerkstatt, in dem das Geschehen zu einer einzigen Umbauarbeit verkommt und oftmals vom Gesang ablenkt.

Siegmund und Sieglinde finden schließlich inmitten dieser lebensfeindlichen Landschaften zu einem poetisch illustrierten Neuanfang. Doch statt glühender und erotisch aufgeladener Stimmung wird ein übergroßes Schwert zwischen den beiden in den Bühnenboden gesteckt – der subtile Wink mit dem Zaunpfahl wird zum Vorschlaghammer, das dem Publikum nicht deutlicher hätte zeigen können, was passiert, wenn sich der Vorhang senkt.

Spätestens seit dem langen Winter-Lockdown ist evident, dass treue Opernzuschauer*innen es leid sind, nur digitale Angebote wahrzunehmen und alleweil auf Bildschirme zu starren; stattdessen sehnsüchtig die Wiederöffnung der Opernhäuser erwarteten. Dass in der Inszenierung von Hotel Modern statt Nutzung der großen Stuttgarter Bühne auf eine Leinwand projizierte Miniaturwelt geschaffen wird, wirft Fragen auf, warum das Medium Oper in seinen Möglichkeiten nicht voll ausgeschöpft wird.

Der Lichtdesigner Urs Schönebaum schafft aus dem zweiten Akt einen düsteren Historienthriller. Seine überaus filmische Erzählweise ergänzt er auch szenisch mit zugänglicher Personenführung und eindeutiger Darstellung – alles geprägt von einem stimmigen Einsatz von Licht und Schatten. Die oft karge, nebelverhangene Bühne wird durch mehrere große Säulen aus Speeren bevölkert, die mal einen Grenzwall, mal Bäume in einem klaustrophoben Wald oder aber die Waffen der in Walhall heimischen Krieger darstellen. Seine von ihm geschaffene trist-düstere Welt, kann durchaus an die Dystopie des ersten Akts anknüpfen. Wotan und die Krieger verwandelt er in einen verschwörerischen Geheimbund und unterstreicht so die archaischen Figuren und die Fehde zwischen Schwarzalberich und Lichtalberich, hell und dunkel, Gut und Böse – einfach aber wirkungsvoll.

Die für Konzept und Raum des 3. Aufzuges verantwortliche Künstlerin Ulla von Brandenburg taucht die Bühne mit komplementären Blockfarben und organischen Linien in ein fließendes Farbenmeer. Dieses Tableau Vivant erfüllte höchste ästhetische Ansprüche, dennoch vermisst man eine tiefgreifendere Umsetzung ihrer Interpretationsansätze über die Individualität der Walküren, ihren Persönlichkeiten als Kriegerjungfrauen und der Ganzheit dieser Gruppe.

Die Walküre ist wohl jener Teil des Rings, in dem die Figuren am meisten in Leidenschaft, entfesselter, inbrünstiger Lust und triebhaften Wollen agieren, so verwundert es, dass – ohne Absprache der Regisseur*innen – die Hauptfiguren in allen drei Inszenierungen sehr statisch, manchmal gar passiv und in sich gefangen reagieren. Vergebens sucht man große Emotionen und Gefühlsausbrüche.

Während die szenischen Elemente die Aufzüge stark voneinander trennen, sind es die hervorragenden sängerischen Leistungen, die das Drama zusammenhalten und verbinden. Michael König beeindruckte als Siegmund mit charaktervoll herber, viriler und reifer Tenorstimme und vermochte die leidenschaftlichen Empfindungen in subtile Gesten und eindringliche Deklamation zu übersetzen. Goran Jurić wartete dagegen mit ungewöhnlicher Gestaltung, mitunter langgezogenen Vokalen und einer sehr freien Interpretation der Gesangslinien Hundings auf. Der amerikanische Bariton Brian Mulligan gestaltete Wotan mit ungewöhnlich warmer Stimme, einem feinem Vibrato und vermochte so seinen Charakter auf die jeweilige Inszenierung differenziert einzustellen – kaltblütiger Göttervater im zweiten Aufzug und von Zerrissenheit geplagter, liebender Vater im letzten Akt. Ihm gegenüber stand Annika Schlicht, eine erfahrene Fricka-Interpretin, deren hochdramatische Artikulation, jeder Silbe Bedeutung einhauchend, vollends begeisterte.

Kaum eine kann die Rolle der Sieglinde auf so vollendete, stimmlich packende und mitfühlende Art darstellen, wie Simone Schneider dies tat. Trotz statischer Regie vermochte sie die Zwillingsschwester auf verletzliche Art zu interpretieren. Dem gegenüber stand ihr raumfüllender, lyrisch-warmer Sopran den sie mit perfekter Aussprache ergänzte.

Lang fieberte man dem Brünnhilde-Debüt von Okka von der Damerau entgegen. Die Sängerin, die vor ein paar Jahren noch in Mezzo-Rollen wie Erda, Ortrud oder Brangäne überzeugte, zeigte nun, welche Register ihre Stimme zu erreichen in der Lage ist. Bereits ihr erstes „Hojotoho“ ließ jegliche Zweifel fahren und stattdessen hörte man eine Brünnhilde, die mit kraftvoller, zugleich klarer und perfekter Phrasierung die Rolle fürs Leben gefunden hat!

Das Staatsorchester Stuttgart unter Leitung Cornelius Meisters vermochte mit seiner Interpretation sowohl Transparenz als auch einen homogenen, dramatisch ansprechenden Orchesterklang zu schaffen. Das saubere, wohl intonierte Blech, das Solo-Cello im ersten Akt und die kraftvoll tönenden Harfen aus den beidem Seitenlogen im ersten Rang hielten den Abend mit dieser detailreichen Ausführung mit dynamischen und Tempi-Abstufungen zusammen.

Eine Oper, drei Akte, drei Regiearbeiten – kann daraus ein Gesamtkunstwerk entstehen oder bleibt es ein großes Fragmentarium? Während die Dekonstruktion des Rings im 21. Jahrhundert bereits oft praktiziert wurde, scheint die Dekonstruktion dieser Walküre wenig erhellend zu sein. Man mag die Staatsoper Stuttgart erneut für ihren Mut, Neues zu schaffen, beglückwünschen, doch dass diese Idee Nachahmer findet, sollte man lieber nicht hoffen.

Alexandra Richter | 20 April 2022 

concerti.de

Zwischen Ratten, Licht und Farbe

Mit der neuen „Walküre“ wird das Stuttgarter „Ring“-Modell separater Regie-Teams vollends auf die Spitze getrieben. Der Unterhaltungswert ist erheblich.

Beim sogenannten Stuttgarter Modell geht es nicht um ein steuerliches Rechenmodell oder so etwas. Zumindest für Wagnerianer ist klar: Es geht um eine vor zwanzig Jahren ziemlich neue Art, mit Wagners „Ring“-Tetralogie fertig zu werden. Damals schickte Klaus Zehelein gleich vier Regisseure ins Rennen: Joachim Schlömer mit dem „Rheingold“, Christoph Nel mit der „Walküre“, das Dauergespann Jossi Wieler/ Sergio Morabito mit dem „Siegfried“ und Peter Konwitschny mit der „Götterdämmerung“. Mit so durchschlagendem Erfolg, dass er dazu beitrug, Stuttgart über Jahre eine führende Stellung unter den deutschen Opernhäusern zu sichern. Peter Kontwitschny hat sich jetzt für Dortmund den kompletten „Ring“ vorgenommen. Wieler und Morabito werden ihren alten „Siegfried“ für das jetzt begonnene Projekt als Erinnerung an den Schrittmacher-„Ring“ von damals aufpolieren. Während man in diesem Fall den Effekt einer freudigen Wiederbegegnung getrost einkalkulieren darf, bleibt es (zumindest nach seinem gerade in Nürnberg inszenierten „Rosenkavalier“) eine spannende Frage, wie Marco Štorman mit der „Götterdämmerung“ klarkommen wird.

Ein Regie-Team pro Aufzug
Im Falle der „Walküre“ gab es jetzt erstmal den Stresstest für das Modell „Stuttgart 22“ mit drei verschiedenen Regieteams. Da das absolut nichts mit dem Bahnhof zu tun hat und auch weil sie verdientermaßen Glück hatten und allen Coronaquerschlägern ausweichen und sogar die Maskenpflicht auf Freiwilligkeit umstellen konnte, ging die Premiere genau zu der Zeit über die Bühne, für die man sie geplant und geprobt hat. Das ist heutzutage schon der erste Erfolg. Und im Großen und Ganzen funktionierte auch das Konzept, zumindest in diesem einem Fall. Die drei Ansätze in der Stuttgarter „Walküre“ eignen sich allerdings kaum als verkapptes „Ring“-Casting. Wenn man sich diese verschiedenen Zugänge und ihre konstituierende Ästhetik jeweils auf die komplette Tetralogie übertragen vorstellt, dann würde man die, wenn auch perfekten, kleinteiligen, live gefilmten und vergrößert projizierten Landschaftsfahrten, mit denen die Gruppe „Hotel Modern“ den Hintergrund für Rampensingen der ganz alten Art bebildert, schnell zu nervig und einseitig finden.

Neubayreuth ist mittlerweile Altbayreuth
Auch die faszinierende, abstrakte Lichtästhetik, in der Urs Schönebaum im zweiten Akt eine spannende Personenregie entwickelt, würde sich wohl als etwas in die Jahre gekommen erweisen. Neubayreuth ist mittlerweile ja auch schon ziemlich Altbayreuth. Auch würde man vermutlich schnell zu dem Schluss kommen, dass die selbstverliebten, vor allem aber demonstrativ sinnfreien Farb- und Formunverbindlichkeiten, mit denen Ulla von Brandenburg den dritten Aufzug für den Aufmarsch der Walküren und Wotans Abschied aufgehübscht hat, ziemlich aus der Zeit gefallen sind. Vor allem der erste und dritte Akt belegen zudem, dass Personenregie – wie im Mittelakt zu erleben – eben doch unverzichtbar ist. Eine dominierende Spezialästhetik vermag sie keineswegs zu ersetzten.

Erster Aufzug: Rampensingen
Im ersten Aufzug fällt das besonders auf, wenn Siegmund und Sieglinde fest gebannt an der Rampe stehen. Für den Hörgenuss ist es ja schön, dass sie das Publikum und kaum einander ansingen. Michael König hat dafür eine sichere Strahlkraft zu bieten, und die dunkel grundierte Simone Schneider ist eine emotional intensive Sieglinde. Was beide im Mittelakt auch ausspielen. Für eine glaubwürdige erotische Spannung im ersten Akt ist diese Art der Platzierung ein Killer. Hinzu kommt die stilbildende Idee, die beiden ebenso wie Hunding mit Rattenmasken auftreten zu lassen, die sie allerdings vor dem ersten Ton abnehmen. Für ihre seltsame Entmenschlichung haben sie immerhin Siegmunds und Hundings Gerede von den Wölf(ing)en auf ihrer Seite. Goran Juric steuert hier vokal glaubwürdig eine lauernde Hunding-Brutalität bei. Auch für die Rattenmaskierung spricht der Erfolg, den einer wie der gerade verstorbene Hans Neuenfels damit bei seinem „Lohengrin“ in Bayreuth hatte. Nimmt man diese Metaphorik ernst, dann haben die Assoziation, die damit heraufbeschworen werden, ebenso ihre Tücken wie die perfekt live abgefilmte Trümmerlandschaft im Modelleisenbahnformat, die in der Projektion auf der Leinwand auf gespenstische Weise den Bildern ähnelt, die wir jetzt jeden Tag im Fernsehen zu sehen bekommen.

Dass das Schwert, das eigentlich im Stamm stecken sollte, in Übergröße aus dem Schnürboden kommt, ist ein ebenso kleinteiliger Witz wie die Verfremdung eines Stuhls als Wasserkrug. Man staunt über die perfekt gefilmte Modellkatastrophe, freut sich auf den Wechsel und erinnert sich daran, das Opernregie auch ein Handwerk und ein ernstzunehmender Beruf ist.

Zweiter Aufzug: Präzise Regie in einem Raum aus wallendem Licht
Was das bedeutet, das bekommt man, in schönem Kontrast zu der Rampenshow, von Brünnhilde, Wotan und Fricka im mittleren Walkürennakt demonstriert. In einem Raum aus wallendem Licht, irgendwo in der Nähe der Götterbehausung, nimmt sich eine wie ein Ufa-Filmstar gestylte Fricka ihren untreuen und gegen die eigenen Gesetze verstoßenden Gatten zur Brust. Fast wörtlich, denn sie hat ihre Reize. Aber hauptsächlich mit ihren Argumenten und ihrer durchschlagenden Stimmkraft. Und zwar so gründlich, dass er zu Boden und die phänomenale Muster-Fricka Annika Schlicht triumphierend, erhobenen Hauptes als Siegerin vom Platze geht. Neben ihr ist Okka von der Damerau ein überwältigendes Brünnhilde-Debüt gelungen. Unangestrengt und doch mit der Wärme der zu liebendem Mitgefühl erwachenden Frau. Atemberaubend ist die Szene der Todesverkündigung, die mit einer Lichtdom-Ästhetik von Annodazumal spielt und so das Walhall mit all den toten Helden erschreckend eindrucksvoll imaginiert.

Brünnhilde bleibt auch in dem Farbgewoge zwischen den Wellenelementen, die den Walkürenfelsen im dritten Akt ersetzten, das Kraftzentrum. Obwohl die kunterbunt gewandeten Walküren einen vokal durchschlagend guten Job machen. Leider hatte Brian Mulligan zunehmend Mühe, seinen Wotan auf Kurs zu halten, schaffte es aber bis zum Finale.

Der Star des Abends steht am Pult: Cornelius Meister
Der Star des Abends ist gleichwohl nur einmal während der Kamerafahrten bei der Arbeit und dann beim Schlussapplaus zu sehen. Cornelius Meister liefert mit dem Staatsorchester Stuttgart eine spannungsgeladene, transparent beredte Walkürenmusik, die den großen Bogen spannt und durchhält, den die Szene bewusst aufbricht. Allein schon sein Dirigat und die Protagonisten (inklusive der Ausreißer ins Spitzenniveau, wie im Falle von Okka von der Damerau und Annika Schlicht) lohnen diese „Walküre“. Das szenische Experiment bleibt Geschmackssache, hat aber durchaus – garantiert durch den Wechsel – einen erheblichen eigenen Unterhaltungswert.

Roberto Becker | 12. April 2022 

Süddeutsche Zeitung

Das Experiment

Drei Regieteams inszenieren Richard Wagners “Walküre” an der Staatsoper Stuttgart. Mit verblüffendem Ergebnis.

Die kleine Ratte ist ganz aufgeregt. Sie saust ein Bahngleis entlang, vorbei an Ruinen, durchquert zerstörte Häuser, kommt an Farbtuben und Resten von anderen Dingen vorbei, die man braucht, um Kunst herzustellen. Die Ratte sucht einen Unterschlupf, ein paar Artgenossen sind hinter ihr her, sie bewegt sich exakt im Rhythmus der Musik, wird angetrieben von dem tosenden Vorspiel. Man sieht sie groß auf einer Leinwand, ihre Umrisse wirken wie ein Loch in einer Mauer oder, je nach Beleuchtung, wie die Baumkrone der Esche, deren Stamm hier ziemlich verloren auf der Mitte der Bühne steht. Man sieht sie aber auch in echt, ein von Menschen an Fäden bewegtes Plüschtierchen, das über die Bühne huscht.

Die Stuttgarter Staatsoper nimmt eine Idee wieder auf, mit der sie vor mehr als 20 Jahren Furore machte. Damals beauftragte der Intendant Klaus Zehelein vier verschiedene Regieteams mit der Umsetzung von Richard Wagners “Ring des Nibelungen”. Sein Nachnachfolger Viktor Schoner wiederholt nun den Vorgang und verschärft ihn. Nicht nur wird jeder Teil des “Rings” von einer anderen Regie verarbeitet, in der “Walküre” gibt es für jeden der drei Akte ein anderes Team. Den Anfang macht die niederländische Truppe Hotel Modern, das sind im Kern Pauline Kalker, Arlène Hoornweg und Herman Helle, und was sie machen, ist ziemlich sensationell, wie überhaupt diese ganze “Walküre” in der Gegensätzlichkeit der hier zu sehenden Regiehandschriften ein aufregendes Unterfangen ist.

Hotel Modern waren 2007 zu Gast bei den Salzburger Festspielen und zeigten dort ihre zutiefst beklemmende Produktion “Lager”. Darin stellten sie einen Tag im Konzentrationslager Auschwitz nach, ohne Text, nur mit vielen kleinen Figuren, die in einem Modell des Todeslagers starben, litten, in die Gaskammer gingen. Man sah einen Film, der auf den Bilder-Kanon des Grauens rekurrierte, und man sah dessen Herstellung, das Modell und die Figürchen darin wurden live gefilmt. Es war ein Requiem für die Opfer, es ging an die Nieren.

Diesen Herstellungsprozess wiederholt Hotel Modern nun im ersten Akt der “Walküre”, das ist nicht deren erste Opernarbeit, aber vermutlich die faszinierendste. Am Rand der Bühne stehen Tische mit vielen kleinen Modellen, die für die Live-Filmarbeit benötigt werden, auch vor der kargen Esche stehen Utensilien. Menschen werden im Film nicht auftreten, nur die Ratten, die auf der Flucht sind. Die Welt um sie ist verheert, man ist am Ende eines Krieges, die Häuser sind nur noch Skelette, Panzerwracks stehen in einer apokalyptischen Landschaft, die Ratten suchen Schutz, den es nicht gibt. Jetzt liest sich das wie ein Kommentar auf das Weltgeschehen, aber das steht auch alles bei Wagner. Hunding und Siegmund kommen aus einem Krieg der Sippen, Sieglinde hat in der Vergangenheit Gewalt erfahren. Drei versehrte Menschen treffen hier aufeinander, zaghaft grünt ein bisschen Rosmarin, wenn der Wonnemond aufgeht, Nordlichter huschen über eine Eisfläche.

Cornelius Meister dirigiert echte Theatermusik, sehr positivistisch, auch sehr laut, dennoch versteht man die Solisten erstaunlich gut
Die drei Solisten des ersten Akts treten mit Rattenmasken auf, die sie schnell ablegen. Sie tragen Irgendwas wie aus dem Fundus, sie füllen machtvoll den Raum mit ihren Stimmen. Michael König stützt sich als Siegmund auf ein immenses, baritonales Fundament, im zweiten Akt kommen dann lichte Farben in seiner Stimme hinzu. Goran Jurić ist als Hunding eine Urgewalt, Simone Schneider hochdramatisch, kraftvoll, wild. Die Drei spielen fast nicht, ein bisschen Mimik, ein paar statuarische Gesten. Aber was sonst als Versagen der Personenregie gewertet würde, wird hier zu einem faszinierenden Trialog zwischen den Bildern, den Figuren und der Musik. Man hört den Krieg aus dem Graben, wo Cornelius Meister handwerklich präzis zu Werke geht; er dirigiert echte Theatermusik, sehr positivistisch, auch durchaus sehr laut, dennoch versteht man die Solisten erstaunlich gut. Die Drei stehen wie Sinnbilder in einer zerstörten Welt, in der nichts mehr gut werden wird. Nothung, das Schwert, kommt riesengroß als Menetekel von oben, herabgezogen an Schnüren. Gewalt ist in und über der Szene. Im Interview im Programmbuch sagen Hotel Modern: “Die Frage nach der Aktualität des Krieges ist eine Frage von Kilometern, nicht eine Frage der Zeit.”

Wagners “Ring” ist Welterzählung, aber die Welt ist nicht mehr konsistent, wieso sollte es eine Opernaufführung sein? Der große Vorteil der Dreiteilung der Regie liegt darin, dass jedes Team sich auf einen Akt konzentrieren, ihn wie ein geschlossenes Stück behandeln kann. Also kann man ästhetisch weiter gehen, als wenn man das gesamte Narrativ im Auge behalten müsste. Setzen sich Hotel Modern noch scharf mit dem Inhalt und auch der Herstellung von Theater auseinander, so sind die Folgeakte vor allem ästhetische Setzungen, herausragend dicht.

Urs Schönebaum hat lange Zeit mit Robert Wilson zusammengearbeitet, sein zweiter Akt steht dessen Licht-Raum-Konstellationen an bildhafter Perfektion in nichts nach. Schönebaum macht Regie, Bühne, Licht und klärt erst einmal das Familiäre. Man trifft sich an einem Stück Schwemmholz, vermutlich von der Weltesche. Wotan spielt mit seinen Kindern Siegmund und Sieglinde, Brünnhilde tritt auf als liebe Tochter, das erste “Hojotoho” ist verspielte Ironie, dann wird der Gott von seiner Gattin Fricka, der furchtlosen Annika Schlicht, hemmungslos zusammengeschissen und auch noch mit Erotik umgarnt, bis er als machtloser Ehemann zusammensinkt.

Nach diesem Setting spielt Schönebaum ironisch mit allem Martialischen, düstere Türme werden herumgeschoben, Nebel wabert, Brünnhilde kehrt mit dunklen Schergen zurück, Fackeln flackern. Aber die Macht ist längst hohl, am Ende meuchelt Wotan Siegmund in einer wüsten Metzelei, wie ein Getriebener, der keinen Ausweg mehr hat.

Am Ende der ganzen “Walküre” geht es nicht mehr um Götter und Welten, nur noch um Menschen
Der Kontrast zum dritten Akt kann erstaunlicher kaum sein: Fröhliche Walküren, bunt gewandet, tollen in einem Raum voll farbiger Wellen herum, die ständig in Bewegung sind. Ein freundliches Farbbad. Ulla von Brandenburg, bildende Künstlerin und Professorin in Karlsruhe, liebt Farben und Stoffe, Materialien. Am Tag der “Walküren”-Premiere wird nebenan in der Staatsgalerie eine Schau eröffnet, die das Triadische Ballett Oskar Schlemmers feiert, das vor 100 Jahren in Stuttgart uraufgeführt wurde. Brandenburg hat dafür einen Raum gestaltet, ein gelber Kokon mit ein paar Utensilien, Walkürenspeere wie Mikadostäbe.

Ähnliches findet sich nun im dritten Akt auf der Bühne wieder, und auch wenn man Brandenburgs schönes Farbspiel kaum eine ganze “Walküre” lang ertrüge, so steuert sie doch untrüglich auf den entscheidenden Moment der gesamten Oper zu, den Abschied Wotans von seiner geliebten Brünnhilde. Der ist hier so menschlich wahr, anrührend, traurig. Brian Mulligan und Okka von der Damerau, beide geben ihr Rollendebüts hier, sind keineswegs die größten Stimmboliden, sie verfügen über etwas anderes. Etwas Seltenes bei diesen Partien: über eine zarte, wundersame Poesie, die zu Herzen geht. Cornelius Meister macht es ihnen dabei nicht leicht, sein Orchester ist zu laut und zu langsam, was vor allem für Mulligans Wotan hart wird. Aber dennoch: Am Ende der ganzen “Walküre” geht es nicht mehr um Götter und Welten, nur noch um Menschen. Das ist wundervoll, und rundet ein Experiment, das in all seiner Disparatheit faszinierend gut aufgeht. Und: Wann kriegt man schon mal drei Operninszenierungen an einem Abend?

Egbert Tholl | 11. April 2022

nmz.de

Aus eins mach drei

Vermutlich ist diese „Walküre“ wieder eine Weltpremiere in Sachen Ring-Regie in Stuttgart. Hier entsteht nicht erneut ein Ring-Projekt von verschiedenen Inszenierungsteams, sondern selbst die „Walküre“, als die erste von den drei großen Ringteilen, wurde auf drei verschiedene Teams aufgeteilt. Eine Idee, die nach Stuttgart passt, weil hier vor zwanzig Jahren ein Ring mit vier verschiedenen Regiehandschriften (Schlömer, Nel, Wieler, Konwitschny) ziemlich Furore machte und fortan als Modellfall galt.

Ab da wurde es Mode, beim bedeutendsten Gesamtkunstwerk der deutschen Opernliteratur innerhalb der Tetralogie von Teil zu Teil die szenische Handschrift zu wechseln. Die Oper in Chemnitz trieb dieses Prinzip auf die zeitgeistige Spitze mit vier verschiedenen weiblichen Handschriften.

In der „Walküre“ macht ein Neustart nach jeder Pause nur Sinn, wenn es wirklich einen entschiedenen Wechsel der Ästhetik gibt, ohne dass dabei das Stück als solches unter die Räder dramaturgischer Ambitionen kommt. Diesen – quasi im Raum stehenden – Anspruch erfüllt die aktuelle Stuttgarter Neuproduktion. Wobei der Zusammenhang szenisch dadurch gesichert wird, dass jeder der drei Zugänge tatsächlich ihren Teil der Geschichte für sich genommen wiedererkennbar erzählt.

Vor allem aber, weil es Cornelius Meister mit seinem Orchester gelingt, im Graben (und mit Harfen in den Seitenlogen in der Höhe) mit erzählerischer Lust und detailfreudig ausformulierter Plastizität einen Zusammenhang zu wahren, der obendrein von den ersten stürmischen Noten bis hin zum nur optisch stilisierten Feuerzauber am Ende, die Spannung hält. Hier zelebriert einer nicht jede einzelne Note, hier bekommt man den großen Bogen. Natürlich tragen auch die Protagonisten dazu bei, weil die in wechselnder Gestalt wiederkehren. Dazu kommen einige wirklich herausragende Protagonisten. Das gilt zuerst für Michael König und Simone Schneider als Zwillings- und Liebespaar Siegmund und Sieglinde. Er mit wohldosiert strahlendem Schmelz, sie mit eingedunkelter Vehemenz und mit mühelosen dramatischen Ausbrüchen. Dass die beiden im ersten Akt praktisch an der Rampe festgefroren schienen, erlaubte ihnen die volle vokale Konzentration auf das spannende Wiedererkennen der Geschwister. Für eine atemberaubende Überraschung sorgte Annika Schlicht als Fricka. So glasklar, unnachgiebig, jede Finte ihres Ehemannes in der Krise durchschauend und sich mit allen Mittel (nicht nur ihrer Argumente, sondern auch ihrer körperlichen Reize) durchsetzend, hört und sieht man das nur selten! Für die meisten wagneraffinen Zuschauer im Saal galt diese spürbare Freude an einer erfüllten Erwartung besonders für Okka von der Dameraus bravouröses Debüt als Brünnhilde. Insgesamt fügten sich bei ihr auch die am Anfang etwas eigen formulierten Walkürenrufe in das Porträt der Lieblingstochter Wotans, die mühelos jede Höhe zu nehmen und mit jeder eher zurückhaltenden Passage zu glänzen vermochte. Das war ein Ereignis von Rang! Diese Brünnhilde dürfte bis zum Grünen Hügel zu vernehmen gewesen sein. Goran Jurić kehrte bei seinem Hunding – passend – den Haudrauf raus. Brian Mulligan konnte da als Wotan nicht ganz mithalten. An seinen akzentbedingten Umgang mit den Vokalen mochte man sich gewöhnen, im dritten Aufzug bangte man aber mit ihm, dass ihn seine Durchhaltetechnik bis zum Ende führe. Kann gut sein, dass er einfach nicht seinen besten Tag hatte – das Stuttgarter Publikum war da fair.

Kleinkariert sind sie dort eh nicht. Was die Regie betrifft ist das wohl ein lebendiges Erbteil der Jahre, in denen hier Klaus Zehelein das Sagen hatte. In diesem Sinne ließ das Publikum – mit dezenten, vorhersehbaren Abstufungen -auch das aktuelle Regieexperiment passieren.

Der erste Akt geriet dabei mit dem für Regie, Bühne, Kostüme und Live-Animationsfilm verantwortlich zeichnenden Team „Hotel Modern“ am experimentellsten und wenn man so will opernfernsten. Ihre Methode besteht darin, detailfreudig nachgebaute Landschaften live zu filmen und in der verblüffend perfekt täuschenden Vergrößerung als Film zu projizieren. Die Modelle finden sich rings um eine gerade noch erkennbare Pappesche. Die Projektionsfläche schwebt im Hintergrund wie eine Baumkrone in der Höhe. Das, was das atemlos anhebende Vorspiel „erzählt“, wird mit vor Ort gefilmten, sich jagenden Ratten übersetzt. Wenn Siegmund, Sieglinde und Hunding dann die Szene betreten (um dort nahezu unbeweglich in Rampennähe zu verharren) tragen sie für einen Moment eine Rattenmaske. Für geübte Wagnerianer ist das (gewollt oder nicht) eine Hommage an den gerade verstorbenen Hans Neuenfels und dessen kultigen Ratten-Lohengrin in Bayreuth. Nun ist zwar dauernd von Wölfen die Rede – die Ratten vertreten diese Metaphorik hier so nachhaltig, dass einige davon zwischenzeitlich zerfetzt werden, ein anderes Exemplar aber am Ende im Griff eines Schwertes in Übergröße als säugende Rattenmutter mit zwei Nachkommen auftaucht. Ist das mehr der Triumph einer durchgezogenen Idee, so bietet die Kamerafahrt durch die – für sich genommen perfekt gemachten Ruinenlandschaften eine eigene Faszination und öffnet, wenn zerschossene Fassaden und Panzer in den Blick geraten, Räume, die man lieber geschlossen gehalten hätte.

Nach diesem eher assoziativ experimentellen Akt, dann ein von Urs Schönebaum (Regie, Raum, Licht) geradezu klassisch durchinszenierter Ehekrach (zwischen Wotan und Fricka), nach dem Fricka wie ein Filmstar aus den 30er Jahren triumphierend die Szene verlässt. Und dann mit einer Todesverkündigung, die mit der Faszination einer Lichtdom-Ästhetik und einem Blick in das Innere von Walhall zwischen beweglichen, transparent geflochtenen Säulen einen Gruseleffekt der anderen Art imaginiert. Brünnhilde wie ein Standbild auf einem Sockel, mit dem Lichtrahlenhintergrund wie bei Caspar David Friedrich (Fassung Albert Speer) von Fackeln und Helden-Zombies gerahmt – das macht Eindruck. Dass Wotan am Ende höchst persönlich wie von Sinnen zig mal auf Siegmund einsticht (Zwischenruf: noch mal!) war zwar ein Tick zu viel, aber dass er sich damit selbst verletzte, wurde immerhin klar.

Für den Aufmarsch der Walküren dann wechselt Ulla von Brandenburg (mit Benoȋt Résillot und Julia Mossé) in eine allein von (Wellen-)Form und Farben dominierte Unverbindlichkeit, die vor allem mit ihrer Konsequenz verblüfft. Die Walküren versammeln sich nicht auf einem Felsen, sondern auf beweglichen, wellenförmigen Podien. Die bunten Flächen dahinter changieren ebenso eigenwillig zwischen Öffnen und Schließen wie in diversen Farbspielen. Schön – im Sinne von hübsch – aber sinnfrei. Am Ende leuchtet in der Ferne ein Neonring grell auf und die auf der Welle in Rampennähe einschlummernde Brünnhilde wird als Double in diesen Ring gehievt.

Der mittlere, packende, quasi klassisch durchinszenierte Akt ist also von einem assoziativen Experiment und einer sich selbst kreierenden Form- und Farbspielerei eingerahmt. Das ist sicher keine Stuttgarter Ringinnovation wie die vor zwanzig Jahren. Aber eine aus der Kategorie Warum-nicht-auch-mal-so? ist ja auch schon was. Die Musik und ihre Interpreten ziehen in ihren Bann und die Umsetzung ist zumindest abwechslungsreich.

Joachim Lange | 12.04.2022

Münchner Merkur

Dreikampf um Walhall

Gleich drei Regie-Teams engagierte die Staatsoper Stuttgart für Wagners „Walküre“. Das szenische Konzept geht nicht auf. Wohl aber das musikalische mit Okka von der Damerau und Simone Schneider.

Was für ein Riesenglück für Bayreuths Stadtheiligen. Hätte Richard Wagner, wie die Kollegen aus Barock und Wiener Klassik, Nummernopern geschrieben, dann hätten die Stuttgarter sich wahrscheinlich entleibt. Für jede Arie, jedes Rezitativ, jede Zwischenaktmusik hätten sie einen eigenen Regisseur gesucht. Die ultimative szenische Offenheit und Zerhäckselung wäre das gewesen. Der Vorteil: Der Mann hat bekanntlich alles durchkomponiert. Doch pro Akt ein Regieteam, auch das ist ja neu und wurde nun erstmalig an der „Walküre“ erprobt.

Die schwäbische Staatsoper treibt gerade die Idee ihres legendären „Ring des Nibelungen“ aus den Nullerjahren eine Umdrehung weiter. Damals redete jeder der vier Teile eine eigene Regiesprache. Das ist auch beim aktuellen Projekt so – bis eben auf Teil zwei, bis auf die nochmals gedrittelte „Walküre“. Endlich Befreiung von den Thesenpapieren, die 15 Wagner-Stunden in ein Konzept pressen wollen, signalisiert das. Weg von oft mühevollen Weltentwürfen, von vielschichtigen Erzählungen über die ganze Menschheit an sich, die an ihren eigenen Fehlern und im Weltenbrand zugrunde geht.

Wagners „Walküre“ als bloße Bebilderung
Nur: Genau darum geht es im „Ring“. Befreiung vom großbogigen Denken, das wird gerade in dieser „Walküre“-Premiere deutlich, heißt auch: Beliebigkeit und Bebilderung. Eine Flucht in die Ästhetisierung, ins bloße Ausmalen der Geschehnisse. Ins Negieren von Querbezügen, im Ignorieren des Woher und Wohin.

Wobei die drei Regieteams durchaus ihre Meriten haben. Per Live-Video schickt Hotel Modern in Akt eins Stoff-Ratten durch zerbombte Miniaturstädte. Das Konzept entstand schon vor dem Angriff auf die Ukraine. Trotzdem ist die Realität plötzlich da in der Staatsoper. Und es ist der wichtige Hinweis: Als bemitleidenswertes Gottesväterchen taugt Wotan nur bedingt, auch ihm geht es um die blutige Absicherung seiner Herrschaft.

So ausgefeilt das Dauer-Video ist, so sehr wurde das singende Personal vergessen. Nicht mal halbkonzertant ist das, was sich in den dichtesten 60 Minuten abspielt, die Wagner komponiert hat. Wesentlich intensiver ist Akt zwei. Urs Schönebaum zeigt ihn als dunkles Ritual. Wotan zwischen Ledermäntel-Hilfstruppen. Eine mordende Brünnhilde, Fackeln, wabernde Nebel, eine faszinierende Lichtregie. Das gibt hohe Schauwerte und raunt von ständig präsenter Gewalt. Akt drei, her- und hingerichtet von Ulla von Brandenburg, versackt dann im reinen Stehtheater vor und in knallbunter Pop-Art-Wellenlandschaft. Die von Wotan in ewigem Schlaf geküsste Brünnhilde gibt’s doppelt, zum finalen Feuerzauber aus dem Orchestergraben entschwebt ein Double im leuchtenden Ring.

Bislang bestes Wagner-Dirigat von Cornelius Meister
Weil die Regie verstummt, kann Cornelius Meister sein Staatsorchester überdeutlich sprechen lassen. Es ist das bislang beste Wagner-Dirigat des Stuttgarter Generalmusikdirektors, der im Sommer den Bayreuther „Tristan“ leiten wird. Einen (über-)starken Gestaltungswillen hört man heraus, das Bewusstsein für Dramatik und Entwicklungsverläufe. Ein wissender Lustmusiker, der hier manchmal den Thielemann-Imitator gibt. Und gern, das zeigen robuste, raue Passagen, auch zu viel verlangt.

Wo Sängerinnen und Sänger szenisch ignoriert werden, bleiben sie unter ihren Möglichkeiten. Bei Michael König, diesem gebrochenen Siegmund-Bullen, ist das so. Bei Goran Jurić als grobkörnigem Hunding, auch bei der Starkstrom-Fricka von Annika Schlicht. Brian Mulligan rettet sich als Wotan mühsam über den Abend. Sein heller, fokussierter Bariton ist zu klein – eine Fehlbesetzung, für die nicht allein der Sänger verantwortlich gemacht werden kann.

Die problematische Premiere wird gerettet von einem Frauen-Duo. Simone Schneider, die eine erstaunliche, klug entwickelte Karriere macht, singt ihre Sieglinde mit substanzsatter, silbriger, sich Raum erobernder Stimme. Und auf dem kleinen Brünnhilden-Markt gibt es einen famosen Neuzugang: Okka von der Damerau, an der Bayerischen Staatsoper mit Mini- bis mittleren Rollen unterfordert. In Stuttgart nun singt sie das, was ihrer genuinen Wagner-Stimme gebührt. Das reiche, vielfarbige Timbre, die nie überreizte Dramatik, die natürliche Präsenz, die ausgreifende Geste – all das müsste Intendanten sofort zum Telefon greifen lassen. Die tief gelagerte Todverkündigung des zweiten Akts, wo andere Hochdramatische tricksen, ist ein Spaziergang für Okka von der Damerau. Akt drei wird von ihr dominiert. Zwei, drei nervöse, noch nicht vollständig abgesicherte Momente gibt es auch. Doch wer ein solches Debüt hinlegt, der ist im Wagner-Olymp angekommen. Die nächste logische Station: eine Isolde.

Markus Thiel | 12.04.2022

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Technical Specifications
1920×1080, 2.3 Mbit/s, 3.8 GByte (MPEG-4)
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This recording is part of a complete Ring cycle.