Der Ring des Nibelungen
Bühnendampf für die neue Wagner-Kirche
SPIEGEL-Redakteur Klaus Umbach über den Bayreuther Jahrhundert-„Ring“ auf Schallplatte
Gut im Griff hat man diesen “Ring” wirklich. Dank der Papp-Box mit integriertem Tragegriff liegt das “Jahrhundert-Ereignis”, wie Phonogram (Philips) wirbt, so bequem in der Hand wie eine Trommel Persil.
Selbst für eine Branche, die bis zum Überdruß immer wieder die alten Schachteln — noch einen Beethoven, noch einen Tschaikowsky — aufeinanderklotzt wie Alberich das Nibelungen-Gold, wiegt dieses Paket schwer: 5730 Gramm; vier Kassetten; 16 Langspielplatten; 13 Stunden, 44 Minuten, 8 Sekunden Spielzeit; dazu ein durchweg farbiges Bilderbuch in noblem Kunstdruck. Eine Edition von Gewicht.
Fünf Jahre nach seiner Premiere, ein Jahr nach der endgültigen Absetzung, wird nun also jener “Ring des Nibelungen”, mit dem die Franzosen Patrice Chereau als Regisseur und Pierre Boulez als Dirigent von 1976 bis 1980 in Bayreuth für Wirbel sorgten, im Laden greifbar, daheim konsumierbar.
In Weihnachtspapier verschnürt, dürfte dieser Pack, um die 300 Mark teuer, manchen Gabentisch um Abendländisches beschweren, und die etablierte Wagner-Gemeinde lechzt eh nach jedem neuen Hojotoho in Hi-Fi.
Aber in der Bayreuther Opernkirche ist, seit die beiden Franzosen dort nicht nur das Stammpublikum aus der Fassung brachten, eine neue Sekte in die Knie gegangen. In frommer Selbsttäuschung glaubt sie sich eigentlich immun gegen Wagner, ist aber nun ganz schön auf dem Trip, Chereau als Droge.
Der angebliche Wagner-Killer Chereau hat vielen erst Augen und Ohren geöffnet für den zwielichtigen Zauber dieser maßlosen Schöpfung, und genau diese Anti-Wagner-Gemeinde oder, genauer noch, diese Wagner-Anti-Gemeinde wird sich nun, verführt, verdorben, mit dem blinden Eifer von Bekehrten diesem Kuriosum des Kulturgeschäfts hingeben — dem “Chereau”Ring”” ohne Chereau.
Denn abgesehen von den bunten Covers und der illustrierten Buch-Zugabe ist diese Edition schließlich nur die akustische Konserve eines in erster Linie visuellen Ereignisses, das Gesamtkunstwerk bloß als halbe Sache dargeboten. Aber an dem Mitschnitt klebt natürlich das Etikett des Spektakulären, auch ohne Bühne, ohne Augenschmaus kommt er als “Jahrhundert-Inszenierung” in den Handel.
Zum Souvenir eines Skandals taugt der Plattenstapel allerdings nicht. Von dem hundertfachen Wutgeschrei der alten Kameraden gegen Chereaus provokant-genialisches Szenarium (“Idiot”, “Wirrkopf”, “Schwein”), von den Störmanövern trillerpfeifender Frackträger, nach deren Einsatz die “Götterdämmerung” 1976 mit Rabauken und Trompeten unterzugehen drohte, ist hier nichts überliefert.
Als die Münchner Firma “Unitel” 1979 ins Festspielhaus einzog, um an vier Tagen die “Götterdämmerung” und 1980 in gut zwei Wochen den restlichen “Ring” fürs Fernsehen aufzuzeichnen (die Philips-Platten sind, bis auf die nur stereophone “Götterdämmerung”, S.228 der digitale Soundtrack dieser TV-Dokumentation), hatten sich die Radaubrüder längst vom Grünen Hügel verdrückt.
An ihrer Stelle bevölkerten nun neue Fanatiker die Gralsburg, viele skeptisch gegenüber Wagner, manche gar bis dahin unberührt und ungerührt von dem mythischen Brimborium des Nibelungen-Kolosses, alle aber Chereautrunken, besoffen von der Bilderfülle und szenischen Vitalität. Als Walhall Ende August 1980 zum letztenmal in Chereaus Feuerzauber versank, gab es 85 Minuten Beifall und 101 Vorhänge, ein Rekord im Allerheiligsten.
Für Phonograms Pappkarton indes zählt, zumindest auf den ersten Blick, die Chereau-Legende nur als Schub fürs Geschäft. Dieser Mitschnitt steht und fällt mit Boulez, und durchweg steht er mit ihm glänzend da. Dies ist, über die zeitlichen Ausmaße hinaus, Boulez” bedeutendste Leistung auf Schallplatte — alles in allem wohl auch der geschlossenste Platten”Ring”, sicher der bewegteste und bewegendste.
So abartig waren die Bedenken ja eigentlich nicht, daß dem Publikum im Angesicht von Chereaus gigantischem Wagner-Kino ohne Film das Hören vor Sehen vergehen würde. 1976 jedenfalls, als der inszenatorische Schock noch frisch war, rückte Boulez als öffentliches Ärgernis ins zweite Glied, und nicht einmal da machte er gute Figur.
Dieser scharfsinnige Analytiker, der einst alle Opernhäuser in die Luft sprengen wollte und ausgerechnet in Bayreuths ideologische Hochburg Einzug hielt, schien sich an dem gigantischen “Ring” verhoben zu haben.
Was da aus dem “mystischen Abgrund” hochkam, klang fahrig und unsicher, nicht einmal auf interessante Weise aggressiv gegenüber dem teutonischen Pomp. Während sich oben der Bilderstürmer Chereau virtuos austobte, verhedderte sich unten ein hellsichtiger Neutöner im spätromantischen Schwulst der Mammut-Partitur.
Auch handwerklich lief das nicht. Wie im Parkett, so saßen auch im Orchester selbsternannte Gralshüter, die nicht gerade willig waren, Chereau auch noch begleitend Beihilfe zu leisten, vor allem unter der Leitung eines (relativen) Wagner-Neulings, der zudem auch schon Neutönerisches komponiert hatte.
Die Unruhe eines drohenden Eklats setzte den renitenten Klangkörper zusätzlich unter Spannung; sogar von Boykotteuren an der Basis munkelte man.
Doch wie Chereau nach dem 76er Spektakel auf der Bühne systematisch S.230 weiterarbeitete, szenische Grobheiten abschliff, allzu plakative Blickfänge sublimierte, so kniete sich Boulez mit manischem Fleiß in die Partitur, schuftete und feilte mit dem Orchester, stets, aus gutem Grund, auch die Bühne im Auge.
Denn dies hatte er nahezu allen Bayreuther Altgedienten, den kapellmeisternden Wagnerianern, voraus: den Sinn für Theater, den Einklang mit dem Regie-Konzept. Boulez hatte Chereau ja nicht nur mitgebracht nach Bayreuth, sondern auch mit ihm gedacht. Als schließlich im (teilweise umbesetzten) Orchester mit der Sympathie für das Franzosen-Duo auch die Autorität von Boulez wuchs, schloß sich der “Ring” doch noch und dann geradezu magisch zu einem Gesamtkunststück.
Wären Boulez” Rheintöchter je so kokett durch ihre girrenden Höhen gesprungen, wenn Chereau ihnen nicht von Alberich geil unter die Röcke hätte grapschen lassen? Hätte sich der Dirigent im ersten “Walküre”-Akt so herrlich um den nüchternen Verstand und orchestral in Rage bringen lassen, wenn der Regisseur nicht endlich mal den Inzest der Wälsungen-Geschwister als richtigen Liebesakt vorgeführt hätte, mit wälzenden Körpern in G-Dur?
Wo immer Chereau den gerafften Weltprozeß des “Ring” mit all seinem mythischen Gewusel durch dralle Theatralik, differenzierte Menschenführung und virtuose Körpersprache anschaulich und anrührend machte, schlug sich Boulez mit dem Taktstock auf seine Seite, in Steigerungen voll Emotionen, in der epischen Gelassenheit eines Märchenerzählers, im psychologischen Feingefühl für das Feierliche und das Banale.
Durch diesen Mitschnitt, der scheinbar paradox und in jedem Fall verblüffend die unsichtbare Bühne mit einfängt, ist die ganze Studio-Perfektion mit ihrem modernen Schnipsel-Wahn, wo jeder Kickser, jedes Hüsteln, alles Leben herausgeschnitten werden, endlich und eindeutig als synthetische Mache, als Retorten-Musik, disqualifiziert.
Natürlich hört man bei Boulez die Rheintöchter um das riesige Stauwehr schlingern, die Nibelungen auf der Bühne hantieren, die maschinellen Innereien des Drachen quietschen. Das halbe “Rheingold” durch und über weite Strecken der “Götterdämmerung” herrscht Polterabend in den Lautsprechern; selbst der Feuerzauber kommt unüberhörbar aus einer Rumpelkammer.
Und wenn Chereau Bühnenqualm abläßt, und er tat es reichlich, dann zischt es nun auch daheim aus der Box. Dennoch wird keine Note eingenebelt, nichts an Musik geht verloren. Diese Platten dokumentieren Theater und unvermeidlich auch die Art und Weise, wie es gemacht wird. Damit sind sie das faszinierende Gegenstück zum bislang überzeugendsten Platten-“Ring”, den Georg Solti vor rund 15 Jahren vervollständigt hat.
Auch Solti hatte damals, freilich am Mischpult, seinen Chereau, den Produzenten John Culshaw. Der nahm, wie er sagte, Wagner “altmodischerweise bis ins Detail genau”, holte sich aus einem Wiener Kinderheim sechzig Jungen als stöhnende Nibelungen ins Studio, ließ hochdotierte Philharmoniker auf 18 echten Ambossen das Rheingold schmieden, mittels einer spezial gefertigten Donnermaschine germanisches Gewitter erzeugen und schließlich die Gibichungenhalle mit elektronischem Getöse zusammenpoltern.
Dank virtuoser technischer Fummelei und Schummelei suggerierte diese Produktion einen Live-Charakter, der ihr völlig fehlte. Es war, in der frühen Stereo-Ära, ein verblüffender Betrug, dessen Effekte sich rasch verschlissen. Nur weil Solti so packend dirigierte, blieben die Mätzchen erträglich.
Dieser Solti nun out, Boulez über alle — Böhm, Karajan, Furtwängler? Kein Thema für professionelle Vergleicher, die suggestive Wirkung dieser Edition ist ein glänzender Fall für sich. Übrigens braucht Boulez keinen Vergleich zu fürchten, auch seine Sänger nicht, selbst wenn sie fast alle beweisen, daß der Wagner-Gesang derzeit nicht in vollster Blüte steht.
Macht nichts: Wenn man diesen “Ring” hört, können einem auch die Augen auf- und übergehen — ein Glücksfall der Schallplatten-Geschichte, vermutlich eine Devotionalie der neuen Wagner-Kirche. Jedenfalls handlich im Pappkarton.
Klaus Umbach | Der Spiegel 43/1981
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